Freitag, 29. März 2024

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Vorurteile gegen Juden
"Bösartige Mythen und Unterstellungen"

Wer die Beschränkungen wegen Corona mit Vorgängen im Dritten Reich vergleiche, habe von Historie keinerlei Ahnung, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, im Dlf. Es gebe heute einen "deutlich enthemmteren Antisemitismus in Worten". Dafür sei auch die AfD mitverantwortlich.

Josef Schuster im Gespräch mit Christiane Florin | 27.12.2020
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, steht vor der Synagoge in Halle/Saale.
Judentum und jüdisches Leben sollten sich eben nicht reduzieren lassen auf die Jahre 1933 bis 1945 - so Josef Schuster im Deutschlandfunk (picture alliance / Hendrik Schmidt)
Funktionäre der AfD verbreiten Theorien "nahe am rechtsextremen Rand", weshalb er erhebliche Zweifel daran habe, dass die Partei demokratisch sei, sagte Josef Schuster im Interview der Woche im Deutschlandfunk.
Josef Schuster ist Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland. Mit zweieinhalb Jahren ist er als Kind aus Israel zurück nach Deutschland gekommen. Teile seiner Familie wurden im Holocaust umgebracht. Im Deutschlandfunk wendet er sich auch gegen den Begriff "christlich-jüdisches Abendland" in seiner negativen Auslegung. Es gebe Menschen, die mit dem Begriff Dritte - etwa den Islam - ausgrenzen wollten. Das verurteilte Josef Schuster im Interview der Woche.
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Christiane Florin: Herr Schuster, Chanukka, das jüdische Lichterfest, liegt schon ein paar Tage zurück. Es endete am 18. Dezember. Was war in diesem Jahr anders als sonst?
Josef Schuster: Ja, zu Chanukka war einiges anders. Wenn wir es aber vergleichen mit dem, was an Weihnachten anders war, dann haben wir gar keine so großen Unterschiede. Im Klartext: Es ist üblich zu Chanukka, dass man sich im Freundeskreis, auch im größeren Freundeskreis, trifft in den jüdischen Gemeinden, dass es Festlichkeiten gibt, ähnlich, wie Sie es auch an Adventsnachmittagen im christlichen Bereich gewohnt sind. Dieses alles musste in diesem Jahr wegen Corona entfallen. Das bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass nicht doch in – ich denke – sehr vielen jüdischen Haushalten die Chanukka-Kerzen, der Chanukka-Leuchter gezündet wurde. Acht Tage lang, jeden Tag eine Kerze mehr. Und dass man sich zumindest im engsten Familienkreis, also Eltern mit Kindern, auch eventuell Kinder, die außer Haus sind, unter Beachtung der Zwei-Haushalte-Regelung treffen konnte. Dadurch, dass das Chanukka-Fest acht Tage ist, hatte man ja dann doch mehrere Möglichkeiten, sich zu treffen.
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Florin: Sie haben schon Ende November über Twitter erklärt, größere Familienfeiern zum Fest werde es wegen Corona nicht geben. Begründet haben Sie es damit, dass der Schutz des Lebens für Jüdinnen und Juden das oberste Gebot ist. Der Schutz des Lebens – wie umstritten ist diese Priorität?
Schuster: Also, innerjüdisch ist die überhaupt nicht umstritten. Pikuach Nefesch - zur Erhaltung bzw. Rettung des Lebens ist im Judentum alles erlaubt. Also, alle Religionsgebote werden außer Kraft gesetzt, wenn es um die Erhaltung des Lebens geht – mit Ausnahme Mord und Götzendienst. Diese beiden Dinge bleiben in Kraft. Die darf man nicht zur Erhaltung des Lebens außer Kraft setzen. Aber alle anderen Religionsgebote und -verbote. Zum Beispiel am Sabbat Auto zu fahren. Wenn es notwendig ist zur Erhaltung der Gesundheit, ist dieses ausdrücklich erlaubt. Das wird auch übertragen, dass im allgemeinen Lebensumfeld man darauf achten sollte, auf die eigene Gesundheit, aber eben auch auf die Gesundheit seiner Mitmenschen.
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Florin: Wie deuten Sie es, dass sich die Politik und auch die Kirchen so schwer damit getan haben, eine ähnlich klare Ansage bezüglich auf Weihnachten so früh zu machen wie Sie?
Schuster: Nun, ich kann nachvollziehen, bei der religiösen Bedeutung des Weihnachtsfestes, dass man sich in kirchlichen Kreisen schon schwertun würde oder auch schwergetan hat, Gottesdienste abzusagen, keine Gottesdienste durchzuführen. Wir haben etwas Ähnliches erlebt an Ostern. Am jüdischen Passahfest war das ganz genauso, weil es parallel zu Ostern fällt und fiel. Aber man muss natürlich auch immer überlegen: Wie schaut die Beterschaft aus? Mache ich einen Jugendgottesdienst, dann kann ich mir vorstellen, dass das Risiko der Übertragung von Corona geringer ist, als wenn ich einen Gottesdienst habe, in dem ich eher betagtere Herrschaften habe, die an dem Gottesdienst teilnehmen. Insoweit ist es eine Abwägung. Mir ist aber bekannt, dass christliche Gemeinden zum Teil auf Gottesdienste an Weihnachten verzichtet haben, genauso wie wir eben in jüdischen Gemeinden auf Festlichkeiten im Zusammenhang mit dem Chanukka-Fest.
Florin: Wenn Sie sich die deutsche Gesellschaft anschauen am Ende dieses Corona-Jahres 2020, was überwiegt in Ihrer Wahrnehmung: Spaltung oder Zusammenhalt?
Schuster: Die Frage des Überwiegens ist schwer zu beantworten. Wir haben eine Tendenz gesehen von Menschen, die Corona leugnen, die auch Verschwörungsmythen selber artikulieren und auch verbreiten, die aber in meinen Augen sehr laut sind, aber natürlich, Gott sei Dank, in keiner Weise die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Also, insoweit eine sehr laute, zum Teil auch radikale Minderheit, von der man aber nicht sagen kann, dass sie hier die Meinungsbildung und auch die Meinungsführerschaft übernommen hat.
Florin: Das wäre jetzt eher das Plädoyer dafür, den Zusammenhalt stärker wahrzunehmen als diejenigen, die sich abgespalten haben?
Schuster: Genau so ist es.

"Von Historie keinerlei Ahnung"

Florin: Bei den Querdenker-Demos, Sie haben es gerade angesprochen, da laufen Menschen mit, die sich einen gelben Stern anheften und die damit zeigen wollen, wie verfolgt sie sich fühlen von der Regierung und von uns Medien. Eine junge Frau namens "Jana aus Kassel" hat Schlagzeilen gemacht, weil sie sich wie Sophie Scholl fühlt. Womit erklären Sie sich, dass dieser kleine, aber laute Teil der Bevölkerung glaubt, in einer Diktatur zu leben, vergleichbar mit dem NS-Regime?
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Schuster:Ich kann es mir nur so erklären, dass sie von historischen Zusammenhängen gar keine Ahnung haben. Wer die Situation heute mit Vorgängen im Dritten Reich vergleicht, wer sich wie Sophie Scholl fühlt, die ihr Engagement mit dem Leben bezahlen musste, der hat einfach von Historie, von Geschichte, auch von der neueren deutschen Geschichte, keinerlei Ahnung.
Florin: Haben Sie schon mal direkt mit solchen Demonstrantinnen und Demonstranten diskutiert? Zum Beispiel auch mit denen, die Verschwörungsmythen verbreiten, die von der jüdischen Weltverschwörung fantasieren?
Schuster: Da hatte ich keine direkten Kontakte oder direkte Diskussionen.

"Bösartige Mythen und Unterstellungen"

Florin: Was hätten Sie gesagt, wenn Sie so eine Diskussion gehabt hätten?
Schuster: Dann hätte ich klipp und klar gesagt: Ich würde gerne Fakten sehen. Wenn man mir Fakten zeigt, die diese Theorien bestätigen, und nicht irgendwelche Mythen erklärt, die übrigens ja nichts Neues sind. Auch im Mittelalter waren die Juden ja an der Pest schuld, angeblich. Wenn man mir Fakten zeigt, dann kann man darüber diskutieren. Solange es keine Fakten gibt – und die gibt es nicht – sind dies bösartige Mythen und Unterstellungen.
Florin: Man könnte mit Ihnen darüber diskutieren, wenn man Fakten präsentieren würde? Wie könnten denn diese Fakten aussehen?
Schuster: Ja, das müssen Sie diejenigen fragen, die das als angebliche Fakten ja verbreiten.
Florin: Also, Sie halten es für ein Bildungsproblem oder für ein Aufklärungsproblem?
Schuster: Ich halte es zum Teil für ein Bildungsproblem. Aber was wir natürlich auch sehen, ist … oder anders herum gesagt: Wir dürfen nicht alle, die demonstrieren gegen die Corona-Regeln, Infektionsschutzgesetze, unter einen Generalverdacht stellen. Dass es Menschen gibt, die sich durch die Einschränkung der persönlichen Freiheit in ihren Grundrechten beschränkt fühlen, ist zumindest in der Theorie für mich nachvollziehbar. Was nicht bedeutet, dass ich nicht der Meinung bin, dass in der gegenwärtigen Situation eine geringe Einschränkung der Grundrechte zwingend notwendig ist. Wenn aber dann diese Gruppierung, diese Menschen, die wohlmeinend diese Ansicht vertreten, unterwandert werden, insbesondere von Rechtsextremen und dann Verschwörungsmythen auftreten, Stichwort Rothschild, die Juden sind an allem schuld, dann hat es den für mich noch verständlichen oder vielleicht nachvollziehbaren Bereich allerdings verlassen. [*]
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Florin: Sie haben kürzlich die CDU in Sachsen-Anhalt davor gewarnt, gemeinsame Sache mit der AfD zu machen. Der aktuelle Anlass war die Diskussion um die Rundfunkgebührenerhöhung. Wie entscheiden Sie eigentlich, wann der Zentralrat politisch Stellung bezieht, wann er sich in eine politische Debatte einmischt und wann nicht?
Schuster: Nun, es ist eine Entscheidung, die keine Ein-Mann-Entscheidung ist, sondern der Zentralrat hat ja nicht ganz so viele Mitarbeiter wie der Deutsche Gewerkschaftsbund. Man stellt sich ihn immer sehr riesig vor, aber wir haben natürlich auch eine politische Abteilung. Und mit den Kollegen und Kolleginnen, die hier die politische Szene auch sehr intensiv beobachten, stimme ich mich da doch eng ab.
Florin: Sehen Sie sich als Wächter der Demokratie? Oder warum haben Sie genau bei dieser Frage eingegriffen?
Schuster: Nun, ich habe bei dieser Frage eingegriffen, weil in meinen Augen die AfD eine Partei ist, die nicht auf dem Boden der Demokratie steht und es einen Beschluss gibt der Bundes-CDU, keine gemeinsamen politischen Entscheidungen mit der AfD zu machen beziehungsweise zu realisieren. Und genau daran wollte ich die Verantwortlichen in Sachsen-Anhalt erinnern.

Theorien "nahe am rechtsextremen Rand"

Florin: Inwiefern steht die AfD nicht auf dem Boden der Demokratie? Denn ihre Verteidiger, ihre Wählerinnen und Wähler, führen an, dass sie demokratisch gewählt ist.
Schuster: Die Partei als solche, die AfD ist demokratisch gewählt. Das steht außer Zweifel. Nur, wenn seitens der AfD, insbesondere von Funktionären der AfD – und ich spreche hier von dem jetzt nicht mehr existenten, aber ad personam natürlich weiter existenten sogenannten rechten Flügel – hier Theorien verbreitet werden, die sich sehr nahe am rechtsextremen Rand befinden, dann muss man einfach sagen, dass es erhebliche Zweifel gibt, inwieweit die Partei als eine demokratische Partei zu bezeichnen ist.
Florin: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Josef Schuster, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Blicken wir ein bisschen voraus – oder erst mal zurück und dann voraus. Aus dem Jahr 321, da stammt ein Erlass des römischen Kaisers Konstantin. Darin weist er den Stadthalter in Colonia – Köln – an, Juden für Aufgaben in der städtischen Verwaltung zuzulassen. Nächstes Jahr ist das 1.700 Jahre her. 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Was ist eigentlich jüdisches Leben?
Schuster: Jüdisches Leben in Deutschland ist eine Umschreibung dafür, wie lange wir definitiv aktenkundig das Leben von jüdischen Menschen in Deutschland nachvollziehen können. Hintergrund der Bedeutung dieses Festjahres 2021, 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, ist einmal aufzuzeigen, dass Judentum und jüdisches Leben eben sich nicht reduzieren lassen sollen auf die Jahre 1933 bis 1945, sondern dass es viele Jahrhunderte vorher jüdisches Leben, das heißt die Existenz jüdischer Gemeinden mit jüdischer Kultur und jüdischem Gebet in Deutschland gab. Aber auch den Hinweis darauf geben, wie viele Menschen jüdischen Glaubens sich auch im kulturellen, im politischen, im wirtschaftlichen Bereich in Deutschland engagiert haben. Und genauso den Blick darauf wenden, dass es auch nach 1945 weiter jüdisches Leben in Deutschland gibt und auch heute insgesamt 105 jüdische Gemeinden quer durch die Bundesrepublik.
Florin: 1.700 Jahre – wir können jetzt schlecht über einzelne Veranstaltungen sprechen. Aber was ist das richtige Wort dafür: 1.700 Jahre feiern, gedenken, erinnern? Welches Verb benutzen Sie?
Schuster: 1.700 Jahre mit Veranstaltungen darlegen, die Bedeutung, die durch Juden, durch jüdisches Leben in Deutschland für Deutschland auch erreicht wurde.
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland äußert sich in der Würzburger Synagoge zu den Vorfällen in Halle
Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland (picture alliance/ dpa/ Karl-Josef Hildenbrand)
Florin: Ihre Familie stammt aus Unterfranken. Ihr Vater emigrierte 1937 nach Palästina. Er war vorher in verschiedenen Konzentrationslagern. Ihre Großeltern mütterlicherseits wurden in Auschwitz ermordet. Sie selbst sind 1954 in Haifa geboren und kurz nach Ihrer Geburt ist Ihre Familie wieder zurückgekehrt nach Deutschland. Warum?
Schuster: Mein Großvater, also die Großeltern väterlicherseits, hatten Grundbesitz in Brückenau, heute Bad Brückenau. Mein Vater war mit seinem Vater, meinem Großvater, zunächst im KZ Dachau, dann im KZ Buchenwald. Und die Nazis hatten Interesse, einen Teil Grundbesitz des Großvaters zu bekommen, um ihn als Braunes Haus in Bad Brückenau zu benutzen. Die Nazis waren dabei immer daran interessiert "rechtskonform" zu handeln. Das heißt, eine Möglichkeit, eine Vereinbarung zu treffen, dass ihnen dieses Grundstück oder dieser Grundbesitz überschrieben wurde. Und mein Großvater wiederum war mutig genug, schlau genug zu sagen: Okay, ich mache das, aber nur unter der Voraussetzung, dass mein Sohn und ich hier aus dem KZ Buchenwald entlassen werden und die Familie nach Palästina – Israel gab es ja noch nicht, die Gründung erfolgte ja erst 1949 – also nach Palästina emigrieren dürfen. Und das wiederum war für die Nazis ein "billiger Preis". Also, die Familie konnte Deutschland verlassen.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges – mein Vater hatte sich beruflich auch wieder in dann Israel etabliert, hatte geheiratet. Ich war 1954 auf die Welt gekommen, aber mein Großvater hatte sich – ich denke sehr berechtigterweise – seinen Grundbesitz in Brückenau restituieren lassen. Dann hat er ihn verwaltet von Israel aus mit einem Verwalter vor Ort. Aber wir reden jetzt von den 50er-Jahren. Das Internet war noch nicht erfunden. Es gab kein Fax. Es gab ein Telefon und so ein viereckiges Teil, genannt Brief. Das waren die beiden Möglichkeiten der Kommunikation von Israel nach Deutschland. Und ein Brief hat eine Woche gedauert. Wie ein guter Verwalter ist, hat er den Grundbesitz verwaltet, aber auch für sich ein wenig Gut dabei verwaltet. Dann hat mein Großvater im Alter von über 80 entschieden, sich wieder selber um seinen Grundbesitz kümmern zu wollen und deshalb nach Deutschland zurückzukehren. In Brückenau gab es dann bis heute nicht wieder eine jüdische Gemeinde. Die nächstgelegene jüdische Gemeinde war und ist Würzburg. Und das war der Grund, weswegen dann die Großeltern nach Deutschland zurückgekehrt sind und meine Eltern, sprich mein Vater, gesagt hat, er kann seine betagten Eltern nicht alleine gehen lassen und sich deshalb entschlossen hat, mitzugehen.

Judentum "selbstbewusst gelebt"

Florin: Was war Ihr erster Eindruck von Deutschland als Kind? Können Sie sich daran noch erinnern?
Schuster: Das geht mir, glaube ich, wie jedem. Ich war ja zweieinhalb Jahre alt, als ich von Israel nach Deutschland kam. Dazu hatten meine Eltern als Muttersprache mit mir Deutsch gesprochen in der Vorstellung, wenn ich in Israel in den Kindergarten gehe, dann lerne ich schon noch Hebräisch. Also, ich kam nach Deutschland, konnte gut Deutsch. Das war ja schon mal gut. Und die ersten Erinnerungen beginnen eigentlich erst mit sechs Jahren. Da war es natürlich einfach was ganz Selbstverständliches, als jüdisches Kind in Deutschland, in Würzburg aufzuwachsen.
Florin: Wann haben andere thematisiert, dass Sie Jude sind?
Schuster: Ich glaube, das mussten andere nicht thematisieren. Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem Judentum selbstbewusst, nicht nur akzeptiert, sondern auch gelebt wurde. Im engen Umfeld mit einer jüdischen Gemeinde. In dem Moment, wenn ich in die Schule kam, hatte ich eben, wenn Religionsunterricht war, eine Freistunde. Das war für mich was ganz Selbstverständliches. Wobei ich dann häufig im Religionsunterricht eben in der letzten Reihe saß, keine Arbeiten mitschreiben musste. Aber ich möchte behaupten, dass ich einer derjenigen war, der am aufmerksamsten zugehört hat und sehr viel von christlicher Religion gelernt hat.

Problematischer Begriff: "deutsch-jüdisches Verhältnis"

Florin: Oft ist, gerade auch jetzt mit Blick auf das Jahr 2021 - 1.700 Jahre Judentum in Deutschland - vom deutsch-jüdischen Verhältnis die Rede. Wird damit nicht eine Distanz zwischen Deutschsein und Jüdischsein aufgemacht?
Schuster: Genauso sehe ich das auch. Also, ich habe ein erhebliches Problem mit dem Begriff des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Denn ich fühle mich selber sowohl als Deutscher wie als Jude und sehe da auch keinen Gegensatz drin.
Eine Mann verteilt Einkaufsbeutel mit Davidstern und der Aufschrift: Judebeutel-Gegen Antisemitismus beim Kippa-Tag in Freiburg und der Demonstration gegen Antisemitismus, antisemitische Anfeindungen und Ausgrenzung.
Antisemitismus in der Sprache: Wenn die Mischpoke schachert
Mischpoke, mauscheln, schachern – jiddische Wörter wie diese sind Teil der deutschen Alltagssprache geworden. Doch ihre Bedeutung ist oft negativ besetzt. Der Journalist Ronen Steinke wirbt für sprachliche Sensibilität.
Florin: Und warum wird das dann so gern verwendet?
Schuster: Ich glaube, es soll irgendetwas gut Meinendes ausdrücken und soll in denjenigen, die den Begriff verwenden so ein bisschen wohlmeinend zum Ausdruck bringen, dass man auch als Jude Deutscher sein kann, was aber in meinen Augen eigentlich Selbstverständlichkeit ist.
Florin: Eine andere Bindestrichkonstruktion ist das christlich-jüdische Abendland. Wie sehen Sie das?
Schuster: Kommt darauf an, in welchem Zusammenhang es verwendet wird. Wenn es dazu verwendet wird, um irgendwelche christlichen Gebräuche oder christlichen Verhaltensweisen zu begründen und zu erklären, dann halte ich das für problematisch. Und ich halte es auch für problematisch, wenn es dazu verwendet wird, andere Religionen, Stichwort Islam, auszugrenzen.
Florin: Benutzen Sie selber diese Wendung?
Schuster: Eigentlich nicht.
Florin: Warum, glauben Sie, wird sie benutzt?
Schuster: Ja, ich habe Überlegungen gerade eben schon dargelegt. Zum einen will man, Political Correctness, in einem, wenn auch sehr christlich geprägten Land, auch darauf hinweisen, das ist die gutgemeinte Art, dass das Christentum ja letztendlich aus dem Judentum entstanden ist, die Wurzeln des Christentums im Judentum liegen. Stichwort: ältere Geschwister. Aber es gibt sicherlich auch Menschen, die damit Dritte ausgrenzen wollen.

"Enthemmter Antisemitismus in Worten"

Florin: Vor einigen Tagen ist der Prozess gegen den Attentäter von Halle zu Ende gegangen. Es gab die Höchststrafe und Sie haben gesagt, das Urteil mache deutlich, dass mörderischer Hass auf Juden auf keinerlei Toleranz trifft. Keinerlei Toleranz – stimmt das? Ist es nicht wieder möglich, Judenhass öffentlich zu artikulieren? Sind nicht wieder Äußerungen sagbar geworden, die man bis vor wenigen Jahren noch für nicht möglich gehalten hätte im öffentlichen Raum?
Schuster: Definitiv ja. Aber zunächst muss man differenzieren. Mir ging es um die Punkte, die strafrechtlich relevant sind. Fakt ist, dass wir einen deutlich enthemmteren Antisemitismus in Worten erleben, wie ich ihn mir vor einigen Jahren nicht vorgestellt habe. Aber da sehe ich auch eine ganz klare Ursache dann, wenn Funktionäre der AfD schwadronieren von der Notwendigkeit der "Wende der Erinnerungskultur um 180 Grad" oder sprechen von "einem Mahnmal der Schande", um nur zwei Beispiele zu nennen. Dann passiert einfach das, und wir kennen eine Statistik, dass 20 Prozent, jeder fünfte Deutsche, antijüdische Vorurteile hat, eine Statistik, die erstaunlicherweise seit Jahrzehnten immer gleich bleibt. Also, mal sind es 19 Prozent, mal sind es 21 Prozent, aber plus, minus 20 Prozent. Jetzt haben wir die Situation: Wenn von politisch Verantwortlichen solche Sätze getätigt werden, laut getätigt werden, dann führt es doch bei dem Einzelnen dazu: "Wenn die das sagen dürfen, dann darf ich das doch auch sagen." Also, es führt dazu, dass das, was man sich lange Zeit nicht getraut hat zu sagen, sagbar und salonfähig wird. Die nächste Stufe – und die haben wir eben leider in Halle erlebt – ist – aber nicht nur in Halle –, dass aus Worten Taten folgen. Also, insoweit haben wir eher eine diesbezüglich sicherlich negative Entwicklung.

Nach Halle: "Ausmaß nie gekannter Solidarität"

Die Synagoge in Halle in der Morgendämmerung.
Was Antisemitismus bewirken kann: Synagoge in Halle (picture alliance / dpa / dpa-Zentralbild / Hendrik Schmidt)
Florin: Wie ist es denn um die Solidarität zwischen jüdischen Deutschen und nichtjüdischen Deutschen bestellt? Oder ich muss umgekehrt fragen, zwischen nichtjüdischen Deutschen und jüdischen Deutschen?
Schuster: Was für mich sehr positiv war, war die Reaktion von Teilen der Bevölkerung nach dem Anschlag von Halle. Es gab eine für mich in dieser Form und in diesem Ausmaß nie gekannte Solidarität – in Worten, in Schreiben, in E-Mails. Und zwar von Menschen, jetzt nicht von - bitte nicht falsch zu verstehen - ich sage mal politisch Verantwortlichen, von denen man eine solche Reaktion vielleicht erwartet, sondern von ganz normalen Bürgern, von Schulklassen. Das war etwas, was mich wirklich positiv gestimmt hat, weil in diesem Ausmaß sonst nie erlebt vorher.
Ein Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle liegen Gedenkränze vor dem Döner-Imbiss, in dem der Attentäter einen Mensch tötete.
Urteil im Halle-Prozess - "Polizei hat zum Teil gleichgültig ermittelt"
Das Urteil gegen den Attentäter von Halle sei eine große Erleichterung, sagt Anetta Kahane von der Amadeu Antonio Stiftung. Doch sowohl bei Bürgern wie in der Polizei müsse noch Aufklärungsarbeit geleistet werden.
Florin: Und wie nachhaltig ist das?
Schuster: Ich habe das Gefühl, dass das schon nachhaltig war, dass Halle hier auch bei einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung zum Nachdenken angeregt hat und klar vor Augen geführt hat, zu was Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus führen kann.
Florin: Wenn wir uns in einem Jahr wieder für ein Interview zusammenschalten sollten, wenn die 1700-Jahr-Verantstaltungen vorbei sind, was sollte dann anders sein beim Blick auf Jüdinnen und Juden in Deutschland?
Schuster: Ich hoffe, dass es gelingt, in diesem Jahr durch zahlreiche Veranstaltungen quer durch das Bundesgebiet die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens in Deutschland klarer zumindest zu machen und als selbstverständlichen Teil der deutschen Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Florin: Ist das nicht ein Widerspruch in sich, Selbstverständlichkeit extra anschaulich zu machen?
Schuster: Ich sehe es nicht als Widerspruch, sondern diese eigentlich gegebene Selbstverständlichkeit – so habe ich das Gefühl – ist in breiten Teilen der Bevölkerung eben keine Selbstverständlichkeit.
Florin: Ich möchte mit dem Thema enden, mit dem wir angefangen haben, nämlich mit Corona. Sie sind Mediziner, Sie sind Internist. Wie hilft Ihnen Ihre Religion und wie hilft Ihnen das medizinische Fachwissen in dieser Krise?
Schuster: Also, Religion, der Glaube kann jedem Menschen Halt bieten. Und das ist, so empfinde ich es, unabhängig von der jeweiligen Religion. Das Fachwissen ist natürlich schon ein Punkt, dass man vielleicht noch besser nachvollziehen kann, warum welche Maßnahmen getroffen werden. Letztendlich ist es aber eigentlich, wenn wir die Medien betrachten, mit einer sehr breiten Berichterstattung so, dass die wesentlichen Punkte, die notwendig sind zu wissen, für jedermann doch klar sind.

Corona: "Maßnahmen notwendig und richtig"

Florin: Sagt der Mediziner in Ihnen, die Maßnahmen waren im Großen und Ganzen richtig bisher?
Schuster: Die Maßnahmen waren notwendig und richtig. Ich wurde dieser Tage gefragt, ob man vielleicht mit diesem Lockdown nicht hätte eher beginnen sollen. Es wäre auch meine Meinung gewesen, eher zu beginnen. Aber im Nachhinein ist man immer schlauer.

[*] Anmerkung der Redaktion: Wir haben an dieser Stelle eine fehlerhafte Zwischenüberschrift entfernt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.