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Vorurteile und Animositäten

Hierzulande kennt jeder das Bild des Kniefalls von Willy Brandt am Denkmal für die Helden des Aufstands im Warschauer Ghetto. Tomasz Szarota hat sich in seinem neuen Buch des schwierigen deutsch-polnischen Verhältnisses angenommen.

Von Martin Sander | 06.12.2010
    Für Tomasz Szarota sind die deutsch-polnischen Beziehungen nicht nur Arbeitsgebiet, sondern zugleich eine Leidenschaft, aufs Engste verbunden mit seiner Familiengeschichte. Seine Großmutter Eleonore Kalkowska lebte vor 1933 viele Jahre in Berlin und war eine bekannte Theaterautorin. Sein Vater, ein Diplomat und profilierter intellektueller Kritiker des Nationalsozialismus, wurde kurz vor der Geburt des Sohnes von der Gestapo ermordet. Szarotas Mutter, eine Warschauer Germanistin, hat sich um die Erforschung der deutschen Barockliteratur verdient gemacht. Tomasz Szarota hat nun eine Auswahl seiner wichtigsten Arbeiten aus den letzten zwei Jahrzehnten auf Deutsch vorgelegt.

    Die siebzehn Beiträge fügen sich dabei zu einem bemerkenswerten Panorama deutscher und polnischer Wahrnehmungen der jeweiligen Nachbarn seit dem 18. Jahrhundert. Durch den Zeitrahmen wird nur zu deutlich, dass die deutsch-polnische Nachbarschaft lange vor den verheerenden Wirkungen der nationalsozialistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg voller Vorurteile und Animositäten steckte. Gleich zu Beginn führt Szarota Beispiele dafür an, wie unerträglich viele polnische Intellektuelle die preußisch-deutsche Kultur bereits im 19. Jahrhundert fanden, als der polnische Staat von der Landkarte verschwunden war. Der Autor zitiert etwa, was der in den neunziger Jahren jenes Jahrhunderts in Berlin lebende polnische Schriftsteller Stanisław Przybyszewski über die Atmosphäre im geistigen Zentrum des Wilhelminismus zu Papier brachte.

    Diese furchtbare Rhetorik, lärmend, heulend, brüllend, dieser höllische philosophische Jargon der verdrehten rachitischen Sprache Schellings, Hegels, diese ekelhaften Bandwurmreflexionen, diese fade, heuchlerische Naturschwärmerei, diese plumpe widerwärtige Sentimentalität, dann wieder die knechtische, kuhbäuerliche, in den schmutzigsten Trivialitäten watende Brutalität.
    Zorn und Empörung prägten den Blick vieler Polen auf die Deutschen gerade im 19. Jahrhundert, als Preußen-Deutschland in dem von ihm besetzten Teil des Landes eine rigide Politik der Germanisierung betrieb. Die fand auch bei vielen deutschen Demokraten und liberalen Bürgern, sogar bei Vertretern der deutschen Arbeiterbewegung Zustimmung. Szarota schildert, wie schnell es mit der von Festrednern heute gern beschworenen Polen-Begeisterung der bürgerlichen deutschen Revolutionäre von 1848 wieder vorbei war, als diese nämlich begreifen mussten, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre polnischen Mitkämpfer einen Nationalstaat anstrebten. Allerdings nicht den deutschen, sondern einen polnischen.

    Tomasz Szarota geht in seinem Buch gängigen Klischees nach, wie dem von der polnischen Wirtschaft, das der deutsche Schriftsteller, Weltumsegler und Revolutionär Georg Forster Ende des 18. Jahrhunderts in Umlauf brachte. Im Jahre 1877 sind es die Berliner Straßenunruhen, bei denen Vorurteile gegen die Polen hochkochen. Der Warschauer Historiker zeigt, wie deutsche Arbeitslose mit Gewalt auf polnische Arbeiter losgingen und von ihnen verlangten, die Stadt zu verlassen. Auch mit Ende des Kaiserreiches flauten in der Weimarer Republik die Animositäten nicht ab. Dies analysiert der Historiker anhand von Illustrationen aus Satireblättern wie dem "Kladderadatsch" oder dem "Simplizissimus", die einen Karikaturenkrieg gegen das 1918 als Staat wiedererstandene Polen entfacht hatten.

    Die scheußlichste Zeit, was die Darstellung der Figur des Polen betrifft, war nicht das Dritte Reich, sondern die Weimarer Republik. Es geht um Bilder von deutschen Karikaturisten, die den Polen mit der viereckigen Mütze zeigten, damals einem typischen Erkennungszeichen für den Polen, aber anstelle des dazugehörigen Adlers zeichneten sie eine Laus. Diese Animalisierung der Polen ist erschütternd.
    Die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg steht natürlich im Zentrum des Bandes. Szarota erklärt ausdrücklich, er sehe bei der Bewertung dieses Kapitels kaum noch Differenzen mit deutschen Fachkollegen.

    Ihre Ansichten und Befunde unterscheiden sich in nichts von meinen Befunden als polnischer Historiker. Streit um die Geschichte gibt es zwischen uns im Grunde nicht.
    Gleichwohl attestiert Tomasz Szarota der deutschen Öffentlichkeit etliche blinde Flecken in ihren aktuellen historischen Debatten. Dabei geht es auch um die tendenzielle Verharmlosung der Kriegsjahre von 1939 bis 1941. So wirft der Warschauer Professor dem in Deutschland gern als Bombenkriegsexperten betrachteten Geschichtspublizisten Jörg Friedrich vor, Kriegsverbrechen der Deutschen Luftwaffe bei der Bombardierung Warschaus im Herbst 1939 zu verschweigen.

    Wer behauptet, die Luftangriffe auf Dresden seien ein Kriegsverbrechen, die deutschen Luftangriffe auf Rotterdam und Warschau aber hätten im Einklang mit der Haager Kriegsrechtskonvention gestanden, der verfälscht ganz einfach die Geschichte. In Warschau wurden im September 1939 die Krankenhäuser bombardiert, die das Zeichen des Roten Kreuzes auf dem Dach hatten. Weil speziell die Gebäude mit dem Roten Kreuz bombardiert wurden, musste man das Zeichen von den Krankenhäusern abnehmen.
    Die vorliegenden Studien Tomasz Szarotas zu den deutsch-polnischen Beziehungen aus über zwei Jahrhunderten liefern unentbehrliche, aber hierzulande oft unbekannte historische Hintergründe. Das kann dem Verständnis des auch heute noch störanfälligen deutsch-polnischen Verhältnisses nur dienen. Ganz überwiegend sind die Texte in einer klaren, leserfreundlichen Wissenschaftsprosa verfasst – ohne Fachjargon und ohne entbehrliches Theoriegeplänkel. Der Blick des Warschauer Historikers auf die Deutschen erweist sich dabei als allemal kritisch, aber niemals unfair – geschweige denn unbegründet.

    Martin Sander war das über Tomasz Szarota: "Stereotype und Konflikte. Historische Studien zu den deutsch-polnischen Beziehungen". Erschienen im Fibre-Verlag, 395 Seiten kosten 36 Euro, ISBN: 978-3-938-40045-6.