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Vorzimmer zur Hölle

Im Zweiten Weltkrieg machten die Deutschen ein Wohngebäude im französischen Drancy zu einem Durchgangslager. Wo heute wieder Familien leben, ist jetzt eine Erinnerungsstätte für die Menschen entstanden, die von Drancy aus in deutsche Konzentrationslager deportiert wurden.

Von Ursula Welter | 22.09.2012
    "Ich hatte den Eindruck in die Hölle zu kommen, die Eisengitter, der schwarze Boden, nirgends Grün, und an den Fenstern in Drancy, an diesen Doppelfenstern, wie sie heute noch da sind, diese Masse von Menschen, die uns Ankommende beobachteten."

    Annette Kracjer war zwölf Jahre, als sie nach Drancy gebracht wurde. Wenige Tage zuvor hatte man sie brutal von ihrer Mutter getrennt.

    "Das ist das letzte Bild, das ich von meiner Mutter vor Augen habe. Eine Mutter, die hinter Stacheldraht verschwindet. 63tausend Juden wurden von Drancy im Nordosten von Paris aus in den Tod geschickt, Tausende von Kindern darunter."

    "Drancy, das war zunächst Internierungslager,"
    sagt der Direktor der Erinnerungsstätte "Mémorial de la Shoah", Jacques Fredj:

    Die Deutschen hatten den hufeisenförmigen Gebäudekomplex, der in den 30er-Jahren für Sozialwohnungen gedacht war und den Namen "Cité de la Muette" trug, beschlagnahmt. Das Vichy-Regime, das seinerseits weitgehende Judengesetze erlassen hatte, nutzte das Lager , um die Juden aus der französischen Gesellschaft auszuschließen, sagt Jacques Fredj.

    Lange sei es schwer gewesen, dieser Verantwortung Frankreichs ins Gesicht zu sehen, räumte auch Staatspräsident François Hollande bei der Einweihung am Morgen ein. Drancy wurde von französischen Gendarmen bewacht , sagte François Hollande:

    Aus dem Internierungslager wird 1942, nach der "Wannseekonferenz", ein Deportationslager, 1943 übernehmen die Deutschen das Kommando komplett.

    "Dieses Gebäude, das war das "Vorzimmer des Todes", "
    erklärt Philippe Allouche, Direktor der Stiftung "Mémorial de la Shoah". Dennoch wurden 1948 an diesem Ort Sozialwohnungen eingerichtet, die gesamte Anlage steht heute so da, wie einst.

    Kinder spielen auf dem 200 Meter langen Grünstreifen in der Mitte des Gebäude-Hufeisens, die Anwohner sagen, ja, manchmal denke man an die Geschichte.

    Als vor einigen Jahren die Fenster in der Wohnanlage ausgebessert wurden, fanden sich Zeichnungen der Lagerinsassen an den Wänden. Auch diese Details sind nun in der neuen Erinnerungsstätte Drancy zu sehen. An einer Straßenecke entstand, unter Leitung des Schweizer Architekten Roger Diener, ein lichter Quaderbau, der sich dennoch unauffällig in die Umgebung fügt. Alle vier Etagen sind verglast und geben damit den Blick auf den Ort des Grauens jenseits der Straße frei. Eine Stätte der Vermittlung zwischen dem einstigen Camp und der Öffentlichkeit, wünschen sich die Initiatoren.

    "Ich war erleichtert, sagt Annette Kracjer,"

    die zum ersten Mal nach Drancy zurückgekehrt ist,

    "zu sehen, dass sich die Gedenkstätte auf der anderen Straßenseite befindet, dass ich nicht noch einmal den Weg gehen musste, den ich damals mit so viel Angst gegangen bin."

    Es habe niemals zur Debatte gestanden, die Wohnanlage selbst zu nutzen und die Erinnerungsstätte in den eigentlichen Räumen des Deportationslagers einzurichten, sagen die Verantwortlichen.

    Drancy, das soll nun Begegnungsstätte mit Zeitzeugen sein, Schulungsort, Ausstellungsfläche.

    ",,Letzte Briefe etwa wurden vertont, die Kinder aus Drancy an ihre Eltern schrieben. Väter und Mütter, die meist längst in den Vernichtungslagern gestorben waren. ""

    Schilderungen von einstigen Lagerinsassen, "wir haben gesungen, gegen das Elend, den Dreck, die Angst."

    Drancy das ist nunmehr eine Außenstelle des "Mémorial de la Shoah" von Paris. Über die – für die Öffentlichkeit zugänglichen – Computerarbeitsplätze wird für Zugang zum Archiv gesorgt. Vor allem aber, ob man wolle oder nicht, müsse Drancy ein Ort für die Jugend, die Schulen sein, sagt Direktor Jacques Fredj:

    "Die Geschichte der Shoah zu lehren ist keine Garantie, kein garantierter Impfstoff gegen den Rassismus, aber es ist eine Basis, um über die Ursachen des Antisemitismus und jede Form von Rassismus nachzudenken."

    Staatspräsident François Hollande unterstrich dies am Morgen. Die Lehrpläne Frankreichs würden sich künftig noch intensiver mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte befassen. Ein Besuch in Drancy gehöre dazu. An die anwesenden Schulklassen gerichtet sagte der Sozialist:

    "Kinder Frankreichs, kämpft mit all Eurer Energie gegen jede Form von Antisemitismus und Rassismus."

    Für sie, sagt die alte Dame, die als Kind nur durch ein Wunder dem "Vorzimmer zur Hölle" entkommen ist, für sie habe es nie eine Linderung des Schmerzes gegeben, ihr ganzes langes Leben lang, von dem sie immer gehofft habe, es werde nicht all zu lang dauern. Denn, so sagt Annette Kracjer, man vergisst nicht, dass man – wie all die anderen Kinder auch – für die Gaskammern von Auschwitz bestimmt war.