Freitag, 29. März 2024

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Vorzüge der Schwarmintelligenz
"Nehmen Sie sich Zeit fürs Schwärmen"

Schwarmintelligenz funktioniere nicht nur bei Tieren, sagte der Mathematiker Christian Hesse im Dlf. Auch Menschen in Gruppen könnten Sachverhalte oft besser einschätzen als Individuen. Dazu müsse man den Mittelwert aller - voneinander unabhängigen - Schätzungen nehmen.

Christian Hesse im Gespräch mit Ralf Krauter | 13.03.2019
Übereinander wuselnde Bienen.
Intelligenz im Bienenschwarm: Entscheidungen über eine neue Behausung treffen Bienen in der Gruppe. Studien zeigen, dass sie sich in 80 Prozent der Fälle tatsächlich für die beste Unterkunft entscheiden. (EyeEm / Pitt)
Ralf Krauter: Im Tierreich kann man beobachten, dass viele Entscheidungen von einem Kollektiv getroffen werden. Also zum Beispiel bei einem Vogelschwarm, der ins Winterquartier nach Süden zieht, oder bei einem Fischschwarm, der einem Räuber möglichst wenig Angriffsfläche bietet. Führt solche Schwarmintelligenz zu besseren Entscheidungen, als wenn jedes Tier das machen würde, was es selbst für richtig hält?
Christian Hesse: Nicht immer, aber oft. Ein gutes Beispiel ist ein Bienenschwarm. Wenn der ein neues Zuhause braucht, schickt die Königin einige hundert Späher auf Wohnungssuche. Wenn die zurückkommen, tauschen sie ihre Informationen über mögliche neue Behausungen aus. Und zwar mit Tänzelbewegungen. Durch einen komplizierten Prozess von Gruppendynamik mit Lobbying und Meinungsbildung entsteht dann eine Mehrheitsmeinung. Studien haben gezeigt, dass in 80 Prozent der Fälle die Bienen sich tatsächlich für die beste neue Behausung entscheiden.
Schwarmintelligenz in Menschengruppen
Krauter: Gibt es vergleichbare Schwarmintelligenz auch in Menschengruppen – oder dominiert bei uns eher der negativ konnotierte Herdentrieb?
Hesse: Auch bei Menschen gibt’s beeindruckende Beispiele für Schwarmintelligenz. Ein Beispiel: Vor 50 Jahren sank das US-amerikanische Atom-U-Boot Scorpion im Nordatlantik. Trotz intensiver Suche konnte es nicht gefunden werden. Dann stattete ein Offizier eine Gruppe von Experten mit allen verfügbaren Informationen über dessen früheren Kurs aus. Jeder sollte eine Schätzung über die vermutete Lage des U-Boots abgeben. Aus allen Schätzwerten wurde der Mittelwert errechnet. Das havarierte U-Boot fand sich nur 200 Meter von dieser Stelle entfernt. Mathematisch gesehen beruht Schwarmintelligenz auf dem Gesetz der großen Zahl: Es besagt, dass man durch Übergang zum Mittelwert näher an die unbekannte Wahrheit heran kommt.
Oder nehmen Sie dieses Beispiel: Einst nahm ein Wissenschaftler an einem Gewinnspiel teil, bei dem einige 1.000 Menschen das Gewicht eines Ochsen schätzen sollten, darunter Ochsenexperten wie Bauern und Metzger. Später stellte sich heraus, dass der Mittelwert aller abgegebenen Schätzungen der Wahrheit am nächsten kam, bis auf wenige 100 Gramm, und alle Experten übertraf.
Gruppenintelligenz versus Herdentrieb
Krauter: Will heißen: Menschenmengen sind mitunter verkannte Genies. Das zeigt sich ja auch häufig beim Publikumsjoker in Quizshows wie ‚Wer wird Millionär‘. Da liegt die Mehrheit über die Jahre in 90 Prozent der Fälle richtig. Aber es gibt ja auch die Kehrseite der Medaille: Dass die Mehrheit mit ihrer Einschätzung falsch liegt und das Kollektiv in die Irre führt. So war’s zum Beispiel vor dem Platzen der Immobilienblase in den USA, in deren Gefolge wir 2008 eine globale Finanzkrise hatten. Was ist da schief gelaufen?
Hesse: Der Herdentrieb zerstört die Gruppenintelligenz. Wenn jeder in einer Gruppe unabhängig von allen anderen etwas schätzt, ist der Durchschnitt aller Schätzwerte ganz nah am richtigen Ergebnis. Wird aber jeder Person dieser Durchschnitt mitgeteilt und dann nochmals erlaubt zu schätzen, ergibt sich ein anderer Mittelwert. Studien zeigen, dass die ersten Antworten einer Gruppe im Schnitt die besten sind - wenn also jeder für sich allein schätzt, ohne die Gruppentendenz zu kennen. Wenn jeder sogar die Schätzwerte jedes Einzelnen mitgeteilt bekommt und dann erneut schätzen darf, nimmt die Intelligenz der Gruppe noch weiter ab und der Mittelwert wird noch ungenauer.
Krauter: Man braucht also möglichst viele Menschen, die sich voneinander unabhängig eine Meinung bilden, damit der Schwarm klüger ist als das Individuum?
Hesse: Genau. Und das kann man sich praktisch zunutze machen. Angenommen, in einer Reisegruppe kommt die Frage auf, wie viele Einwohner der Ort hat, den man gerade besucht. Fragen Sie einige Mitglieder der Gruppe nach Ihren Schätzungen und errechnen den Mittelwert. Der ist meistens besser, als Ihre eigene Schätzung.
Münchhausen-Trick
Krauter: Nun muss man im Alltag aber oft auch allein entscheiden und hat keinen Schwarm, dessen Know-How man anzapfen könnte. Was rät der Mathematiker da?
Hesse: Man kann sich mit einem genialen Münchhausen-Trick immerhin auf die Ebene einer Kleingruppe hochziehen. Indem man von sich selbst eine zweite Meinung einholt, also eine zweite Schätzung macht. Vor der zweiten Schätzung müssen allerdings die eigenen Annahmen geändert werden, so dass in eine andere Richtung gedacht wird. Ich nenne das die Methode vom bösen Zwilling, der das infrage stellt, was der erste Zwilling geschätzt hat. Aus beiden Schätzungen lässt sich ein brauchbarer Mittelwert bilden.
Krauter: Können Sie das mal an einem Beispiel verdeutlichen?
Hesse: Ja, gerne. Nehmen wir an, ich will schätzen, wie viele Liter Bier bei uns im Jahr getrunken werden. Ich schätze die Einwohnerzahl Deutschlands auf rund 100 Millionen und den Konsum pro Person im Schnitt als 100 Liter pro Jahr. Das ergibt 10 Milliarden Liter Bier. Der böse Zwilling in mir sagt: 100 Millionen Deutsche ist zu hoch gegriffen. Es sind eher 70 Millionen. Und 100 Liter pro Person ist auch eher zu viel. Ich gehe von 80 Litern aus. So kommt der böse Zwilling dann auf knapp 6 Milliarden Liter pro Jahr. Der Mittelwert beider Schätzungen liegt bei etwa 8 Milliarden und ist ziemlich nah an der Wahrheit. Die Zahlen für 2018 sind noch nicht bekannt, aber in 2017 wurden bei uns 8,1 Milliarden Liter Bier getrunken.
Krauter: Klingt nach einem nützlichen Gedanken-Werkzeug für den Alltag!
Hesse: Finde ich auch. Aber noch eine Produktwarnung am Ende: Auch dieses Tool hat seine Grenzen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und Ähnlichem müssen Sie weiterhin ganz klassisch und für sich selbst beantworten - trotz aller Schwarmintelligenzen und Münchhausentricks. Doch wenn`s um Zahlen und Schätzungen geht, empfehle ich: Machen Sie sich zum Schwarm. Nehmen Sie sich Zeit fürs Schwärmen.