Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Voyage surprise
Die wirklich wichtigen Fragen zur Hymne

Ob Nationalspieler die deutsche Nationalhymne mitsingen oder nicht, sei ihnen überlassen – und die Debatte langweilt inzwischen. Viel wichtiger sind die Fragen: Soll ich mitsingen? Und: Welche Hymne ist die beste?

Von Victoria Reith | 21.06.2016
    Ein deutscher Fußball-Fan singt am 16.06.2016 beim Public Viewing auf dem Messegelände in Freiburg (Baden-Württemberg) im Regen vor der EM-Begegnung Deutschland - Polen die deutsche Nationalhymne.
    Singen oder nicht? Dieser weibliche Fan hat sich eindeutig entschieden. (picture alliance/dpa - Patrick Seeger)
    Der Debatte darüber, ob deutsche Nationalspieler die Hymne mitsingen sollten, bin ich längst überdrüssig. Soll doch jeder machen, was er meint! Was auch immer die Beweggründe des Spielers sind, nicht zu singen (ich kann mir unter anderem vorstellen: Sehe doof beim Singen aus, jeder hört, dass ich den Ton nicht treffe, bin vielleicht nicht ganz so überzeugt vom Vaterland).
    Früher hat auch keiner gesungen
    Und ein Blick in die Historie, dank Fernsehbildern bestens belegt, zeigt, dass in den Siebzigern, in denen die Welt doch in Retrospektive sonst noch so in Ordnung war, deutsche Nationalspieler (Berti Vogts, Paul Breitner, Sepp Meier) zwar fleißig den Gassenhauer "Fußball ist unser Leben" zum besten gaben, aber die deutsche Hymne nicht mitsangen.
    Deshalb stelle ich heute zwei andere Fragen. Erstens: Welche Nationalhymne ist die beste? Okay, das ist zugegebenermaßen so, als würde man fragen, welches Land das beste ist, oder welche Schokoladensorte - es gibt natürlich nicht die eine richtige Antwort. Aber sie ist es, finde ich, dennoch wert, über sie nachzudenken.
    Auf die Frage hat mich mein Kollege und Büronachbar gebracht. Er vertritt recht entschieden die These, dass die russische Hymne die beste sei. "Weil sie einfach schön ist" sagt er, und schmeißt sie gleich noch mal in voller Lautstärke an, was ihn zu noch mehr Lob inspiriert: "Das ist großes Kino, man sieht den Wodka und die Tränen vor sich - so muss eine Hymne sein." Und der Text kann sich auch sehen lassen - pathetisch, syntaktisch gut. Nur hören werden wir die Hymne in diesem Turnier nicht mehr.
    Die Kollegin hingegen mag die italienische Hymne - unter anderem, weil die italienischen Fußballer eine herzergreifende Inbrunst ausstrahlen, wenn sie mitsingen.
    Mich erinnert die italienische Hymne an meine Kindheit - an Ferrari, und eine Einheit mit der deutschen Hymne, nach Michael Schumachers reihenweisen Siegen in der Formel 1. Und deshalb kommt sie mir, trotz des noch immer nicht ganz verwundenen Halbfinalaus bei der Fußball-WM 2006 in Deutschland, ein bisschen wie meine eigene vor.
    Die schwedische Hymne gefällt mir, auch wenn sie musikalisch ein bisschen lahm daher kommt. "Du gamla du fria", übersetzt "Du Alte du Schöne", die Himmel, Sonne und Landschaft im Norden huldigt und die erst in der vierten Strophe den Willen zur bewaffneten Verteidigung des Vaterlands zum Ausdruck bringt. Mein Lieblingsspieler Zlatan Ibrahimovic hat mit einer Neuinterpretation der Hymne sogar Goldstatus erreicht, was ihr wenigstens ein bisschen Verwegenheit verleiht.
    Eine Hymne hat seit letztem Jahr für mich und sicher auch viele andere eine besondere Bedeutung, gerade auch im Hinblick auf dieses Turnier: die Marseillaise. Nach den Terroranschläge von Paris wurde sie zum Symbol der Solidarität, der Trauer und des Trotzes - trotz des recht grausamen Texts. Eine Szene, bei deren Anblick ich noch immer erschaudere: Vier Tage nach den Anschlägen sang das gesamte Wembley-Stadion beim Freundschaftsspiel England gegen Frankreich die französische Hymne mit:
    Vor großen Spielen hat für mich auch die deutsche Hymne durchaus das Potential, eine besondere Stimmung zu erzeugen. Und spätestens das "Sommermärchen" hat es 2006 salonfähig gemacht, sich in Trikots und Flaggen zu hüllen, schwarz-rot-goldene Bemalung aufzulegen - und eben die Hymne mitzusingen. Dachte ich zumindest. Als ich vor zwei Jahren in neuer Gesellschaft an neuem Wohnort an meine Hymnen-Intonationen bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 anknüpfen wollte und mit geradezu italienischer Inbrunst mitsang, erntete ich vor allem irritierte Blicke. Der Chor bestand nur aus denen auf der Leinwand und mir - und ich stellte das Singen bald ein.
    Mitsingen oder nicht?
    Viele Zweifeln zurecht an den Ausprägungen deutschen Patriotismus, angesichts immer wieder vorkommender nationalistischer und gewaltsamer Ausfälle. Wie schrieb der der Kollege Fritsch bei Zeit Online neulich so schön über die deutschen Fans beim Spiel gegen die Ukraine: "Auch die Nationalhymne erklang während des Spiels, aber wenigstens die dritte Strophe."
    Die ungebrochene Euphorie von 2006 scheint verflogen. Und ob ich in Zukunft mitsingen werde, werde ich vom Umfeld abhängig machen. In einer friedlich feiernden Kneipen-Meute? Bestimmt! In einer alternativ-kritischen Runde? Vielleicht ganz leise. Inmitten von deutschnationalen Reichskriegsflaggenträgern? Ganz sicher nicht. Aber da würde man mich ja eh vergeblich suchen.
    Unter "Voyage surprise" (dt.: "Fahrt ins Blaue") bildet die DLF-Sportredaktion in den kommenden Wochen Hintergründiges, Humorvolles, Abseitiges rund um die Europameisterschaft in Frankreich ab.