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Wachkoma-Therapie: "Wunder dauern immer etwas länger"

Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen, dass Angehörige, Ärzte und Ethiker ihr Verständnis vom Wachkoma verändern müssen. Wo bislang Patienten nicht mehr auf Reize reagierten, zeigen Computertomografen, dass doch Gehirnaktivität vorhanden ist. Doch wie umgehen mit solchen Fällen?

Von Lucian Haas | 14.02.2012
    Es kann ein Herzkammerflimmern sein, wodurch das Gehirn schon nach wenigen Minuten zu wenig Sauerstoff bekommt. Oder ein Unfall mit einer schweren Schädelverletzung. Die Folge sind Schäden im Gehirn. Der Körper funktioniert zwar noch, doch den Betroffenen mangelt es an einem erkennbaren Bewusstsein. Mediziner sprechen vom coma vigile, allgemein besser bekannt als Wachkoma.

    "Man darf sich auch nicht das Koma als ein einheitliches Bild vorstellen, sondern es gibt viele Abstufungen und Graduierungen. Jemand kann sich dicht unter der Bewusstseinsebene befinden, er ist trotzdem nicht bei Bewusstsein. Und jemand kann im tiefen Koma sein, das heißt, er reagiert überhaupt gar nicht mehr. Er zeigt auch keine Reflexe, das heißt, die Hirnstammreflexe sind ausgefallen, also auch die einfachsten Lebensäußerungen, reflektorische Lebensäußerungen, sind nicht mehr da."

    Thomas Rommel ist Ärztlicher Direktor der neurologischen Rehabilitationsklinik Rehanova in Köln. Jedes Jahr bekommt seine Einrichtung einige Dutzend Patienten im Wachkoma überwiesen. Welche Rehabilitationsmaßnahmen dann eingeleitet werden, hängt auch von der Diagnose ab, wie ausgeprägt die Hirnschäden sind und ob ein Patient noch ein Restbewusstsein besitzt. Bisher wurden die Patienten danach beurteilt, ob und wie sie auf Reize äußerlich erkennbar reagieren – sei es eine Stimme, eine Berührung oder ein gezielt gesetzter Schmerzreiz. Doch in den letzten Jahren haben bildgebende Analyseverfahren ganz neue Möglichkeiten der Diagnose eröffnet.

    "Funktionelle Kernspintomografie zum Beispiel, das wäre so ein neues Verfahren. Hier können wir die Hirnnervenzellen quasi beobachten und können die Patienten stimulieren, können Sie auch befragen. Wir können Antworten abfragen im Grund genommen, die er nicht geben kann, die wir aber in der Bildgebung plötzlich sehen."

    Eine typische Frage ist zum Beispiel: "Lautet der Name ihres Vaters Alexander?" Ein Ja oder ein Nein zeigt sich in veränderten Mustern der Hirnaktivität, die im Kernspinbild zu erkennen sind, ohne dass der Patient äußere Regungen zeigen muss. Ähnliches lässt sich auch durch Messung der Hirnströme mit einem hochauflösenden Elektroenzephalogramm, kurz EEG, ermitteln.

    In jüngerer Zeit haben wissenschaftliche Studien gezeigt: Mit den bildgebenden Verfahren sind bei rund einem Fünftel aller untersuchten Wachkoma-Patienten, die nach klassischer Diagnose als völlig ohne Bewusstsein eingestuft wurden, doch noch bewusste Reaktionen auf die Umwelt im Hirn erkennbar. Jüngst hat die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung, DGKN, auf die hohe Rate der Fehldiagnosen hingewiesen. Sie fordert, die neuen Verfahren müssten künftig häufiger bei der Beurteilung von Wachkoma-Patienten eingesetzt werden. Eine korrekte Diagnose ist wichtig, weil sie einen entscheidenden Einfluss auf den möglichen Weg aus dem Koma hat.

    "Meine Erfahrung ist eigentlich, dass negative Prognosen auch negative Verläufe bescheinigen."

    Sagt Doris Klein. Die gelernte Pflegerin ist stellvertretende Vorsitzende des Vereins "Schädel-Hirnpatienten in Not". Sie hat viele Fälle von Wachkoma-Patienten begleitet. Gelernt hat sie, dass man keinen Patienten aufgeben darf.

    "Die Stufen eines Komas, wenn der Mensch im Koma ist, die verändern sich ja. Der Wachheitsgrad, der verändert sich. Da muss sich auch in der Öffentlichkeit noch das Bewusstsein verändern. Wach werden ist ein längerer Prozess. Jeder Mensch verdient die Chance zum Weiterleben."

    Aus der Sicht von Doris Klein sind nicht nur bessere Diagnosemöglichkeiten eines Wachkomas wichtig, sondern auch eine Verbesserung der darauf folgenden Therapieansätze. Wachkoma-Patienten brauchen eine lang anhaltende Rehabilitation.

    "Inzwischen weiß man, man muss aktivieren, um auch den Hirnstoffwechsel anzuregen. Also immer im Bett liegend, davon wird man nicht wacher."

    Aktivieren, das bedeutet: Die Patienten werden angesprochen. Sie bekommen vielleicht ihre Lieblingsmusik vorgespielt. Sie werden aufgerichtet, hingestellt. Ergotherapeuten machen mit ihnen Bewegungsübungen. Jeder Reiz von außen kann dem Hirn helfen, sich zu reorganisieren, um ganz langsam Wege aus dem Koma zu finden.

    "Wunder dauern immer etwas länger. Ich kenne so viele, die waren so schwach, viele Jahre, die können trotzdem hinterher ein lebenswertes Leben führen."

    Ein Problem ist allerdings: Für die nötigen Reha-Maßnahmen fehlt häufig das Geld. Krankenkassen kommen in den meisten Fällen nur für die sogenannte Frührehabilitation in den ersten Wochen nach dem Fall ins Wachkoma auf. Das hält Doris Klein für viel zu kurz.

    "Politisch brauchen wir Unterstützung, um überhaupt mal die Voraussetzungen zu schaffen, dass so jemand in einer Rehabilitation länger verweilen darf als drei bis vier Wochen. Da sind die Verläufe in einer Reha viel zu kurz. Das weiß jeder, der im Umgang mit solchen Menschen zu tun hat."

    Der Neurologe Thomas Rommel sieht für den Alltag vieler Wachkoma-Patienten noch ganz andere Schwierigkeiten.

    "Ein Riesenproblem ist der gesellschaftliche Mangel. Das Problem immer kleiner werdender Familien, der Fürsorge, der Bereitschaft, vielleicht so einen Menschen auch im häuslichen Umfeld zu pflegen. Man kann nicht immer nur hier stehen und sagen: Das Gesundheitswesen muss das leisten, die Medizin muss es leisten, die Pflege muss es leisten, die Pflegeeinrichtung muss kommen."

    Thomas Rommel und Doris Klein kennen allerdings auch Fälle, bei denen die Pflege eines Wachkoma-Patienten selbst die fürsorglichsten Familienverbünde an ihre Grenzen bringt.

    "Das sind also auch diese ökonomischen Folgen, die so dramatisch sein können, die Familien wirklich an den Rand ihrer Möglichkeiten bringen. Vielleicht muss man Pflegeeinrichtungen schaffen, wo auch die Pflege solcher Patienten möglich ist – mit Unterstützung des Staates."
    "Schwache Menschen gehören in unsere Gesellschaft. Da müssen wir für sorgen, dass diese Menschen, die sich eben nicht selber einbringen können, dass die Lebensbedingungen haben, wo die Familien mit leben können, wo die Menschen mit leben können."