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Waffenruhe in Syrien
"Assad kann weiterhin Gebiete aushungern"

Durch die von USA und Russland vereinbarte Feuerpause könnte sich Assads Wunschszenario erfüllen, meint die Journalistin und ehemalige Damaskus-Korrespondentin Kristin Helberg. Seine Lieblingsfeinde würden nun vom Ausland bekämpft. Dadurch könne sich der Machthaber in anderen Gebieten auf seine Logik "des sterbt oder ergebt euch" konzentrieren, sagte Helberg im DLF.

Kristin Helberg im Gespräch mit Daniel Heinrich | 12.09.2016
    Die deutsche Autorin und Politikwissenschaftlerin Kristin Helberg.
    Laut Syrien-Expertin Helberg sind Assads "Lieblingsfeinde" die radikalen Dschihadisten des IS und der Nusra-Front. (Jan Kulke)
    Daniel Heinrich: Am Telefon ist die Syrien-Expertin und Buchautorin Kristin Helberg. Frau Helberg, das muslimische Opferfest hat begonnen. Die USA und Russland haben sich auf einen Waffenstillstand in Syrien geeinigt. Können die Syrer ungestört mit ihren Familien feiern?
    Kristin Helberg: Bis zu einem gewissen Grad ja. Ich denke, wir haben zwei positive Entwicklungen, auf die wir hoffen können. Einerseits wird humanitäre Hilfe wahrscheinlich endlich auch wieder belagerte Menschen erreichen in Syrien. Das sind wahrscheinlich etwa eine Million Menschen laut der Organisation Siege Watch (*) in übrigens 51 Orten, auch die vom Assad-Regime belagert und ausgehungert werden, und wir werden als zweite Entwicklung sehen, dass die wahllose Bombardierung von Wohngebieten mit Fassbomben, mit Brandbomben, Streumunition und Chlorgas durch das Regime erst mal zurückgeht. Das sind die positiven Entwicklungen, die sich auch schon andeuten.
    Heinrich: Sie haben den Abwurf von Fassbomben angesprochen. Kurz vor der Waffenruhe gab es noch diesen Abwurf. Wie realistisch ist es denn, dass dieser Abwurf jetzt tatsächlich gestoppt wird?
    Helberg: Tatsächlich ist noch nicht genau festgelegt, in welchen Gebieten das Assad-Regime gar nicht mehr bombardieren darf. Die USA und Russland wollen ja erst nach der Einhaltung in sieben Tagen sich darauf verständigen, wo sie nun die Nusra-Front, die sich umgenannt hat in die Jabhat Fateh al-Sham-Gruppe, weiter bekämpfen werden, und das ist ja auch der eigentliche Knackpunkt, dass man sagt, okay, wir konzentrieren uns auf den Kampf gegen den Terror. Russland hat den USA dieses Einverständnis abgerungen, das ist ein Punktsieg für Moskau ganz klar, denn jetzt werden international gemeinsam der IS und die Nusra-Front bekämpft werden, während alle anderen Rebellengruppen sich nun in dieser Woche distanzieren sollen von der Nusra-Front, was, wenn man sich die Realität am Boden anschaut, auch einigermaßen schwierig ist.
    "Beide haben sich nur darauf geeinigt, tatsächlich den IS und die ehemalige Nusra-Front zu bekämpfen"
    Heinrich: Den IS mal ausgenommen, die Nusra-Front mal ausgenommen - auf die können wir uns einigen, das sind die Terrorgruppen -, da gibt es doch noch eine ganze Reihe von anderen Gruppen. Wer ist denn damit gemeint? Wen möchte denn die USA, wen möchte denn Russland weiter bekämpfen?
    Helberg: Beide haben sich nur darauf geeinigt, tatsächlich den IS und die ehemalige Nusra-Front zu bekämpfen. Alle anderen Gruppen, also auch die radikal-islamistischen syrischen Gruppen, wie zum Beispiel Ahrar al-Sham in Aleppo, aber auch Einheiten der Freien Syrischen Armee, sollen sich jetzt distanzieren von der Nusra-Front. Das ist aber in der Praxis sehr schwierig, denn die Nusra-Front ist ihr wichtigster Verbündeter im Kampf gegen Assad. Und die USA haben keinerlei Garantien gegeben. Sie haben nicht angedeutet, wie sie die anderen Rebellengruppen dann unterstützen wollen im Kampf gegen Assad, sondern sie haben eigentlich nur gefordert, verlasst diese Nusra-Front, und jetzt stehen diese Kämpfer in Aleppo und sagen zu ihren Kameraden, mit denen sie gerade einen Korridor zur Versorgung Aleppos freigekämpft haben, tut uns leid, ab nächste Woche werdet ihr leider von Russland und den USA bombardiert, wir lassen euch jetzt hier mal stehen. Das ist schwierig, denn alle anderen Rebellengruppen befinden sich in einer Position der Schwäche, und da ist es für die eine oder andere womöglich ein politischer oder militärischer Selbstmord zu sagen, wir überlassen die Nusra-Front den Bombardierungen durch die USA und Russland. Das ist eine sehr schwierige Forderung, auch sehr einseitig, weil die USA eben nicht im gleichen Atemzug sagen, wir werden euch danach weiter unterstützen im Kampf gegen Assad.
    Heinrich: Ich höre da bei Ihnen sehr große Zweifel raus?
    Helberg: Ich habe Zweifel, weil diese Rebellengruppen natürlich auch schlechte Erfahrungen gemacht haben mit Versprechungen seitens der USA, und jetzt sollen sie auf ihre Art Lebensversicherung, diese Nusra-Front, gerade verzichten als Unterstützer. Der Eindruck entsteht, dass sich Assads Wunschszenario in gewisser Weise erfüllt, nämlich die Rebellen, der zivile Widerstand sind ohnehin stark geschwächt. Sein Lieblingsfeind, nämlich die radikalen Dschihadisten des IS und der Nusra-Front, sind geblieben. Die werden nun vom Ausland bekämpft praktischerweise durch Russland und die USA. Das heißt, Assad kann sich darauf konzentrieren, in allen anderen Gebieten seiner Logik des sterbt oder ergebt euch zu folgen. Er kann weiterhin Gebiete aushungern, er kann weiterhin Gebiete nicht versorgen lassen durch die UNO, er kann weiterhin dort mit anderen Waffen womöglich versuchen, Rebellen auszuzehren und zur Kapitulation zu zwingen. Das haben wir gerade gesehen in dem Ort Darayya bei Damaskus, wo die letzten 8.000 Menschen sich ergeben haben, und dann hat eine politische Säuberung stattgefunden. Die Bewohner werden umgesiedelt, Assad loyale Bürger werden angesiedelt. Assad war gerade in dem Ort, stand auf Ruinen und hat erklärt, wer werde Syrien zurückerobern von allen Terroristen. Alle, die seine Macht infrage stellen, sind Terroristen. Und wenn man ihn bei dieser Strategie in Ruhe lässt, weil die USA und Russland nur den Terror im Blick haben des IS und der Nusra-Front, dann ist das für Assad ein gutes Szenario.
    Heinrich: Im Umkehrschluss heißt das, die USA unterstützen gerade Baschar al-Assad?
    Helberg: Nicht direkt natürlich. Aber indem sie sich nur auf den sunnitischen Extremismus konzentrieren - das ist aus Sicht vieler Syrer auch nicht nachvollziehbar, dass die diversen schiitischen extremistischen Gruppen in Syrien einfach ignoriert werden, denn auf Assads Seite kämpfen ja längst nicht mehr vor allem Syrer, sondern schiitische Milizionäre aus dem Iran, aus dem Irak, aus Afghanistan, der libanesischen Hisbollah. Alle diese Gruppen werden ignoriert. Sie werden als selbstverständlicher Teil der Assad-Front wahrgenommen, während man auf der anderen Seite sunnitische Extremisten bekämpft. Im schlimmsten Fall bringen wir damit die Sunniten insgesamt gegen den Westen auch auf. Die fühlen sich verraten und verkauft und dieser Eindruck, wenn der jetzt obsiegt, dann ist es tatsächlich so: In erster Linie wäre dann diese Waffenruhe oder diese Einigung erst mal ein Punktgewinn auch für Assad.
    "Eine Art letzte Chance für die Vereinten Nationen, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen"
    Heinrich: Was ist Ihre Erklärung dafür, dass man sich so auf die Sunniten konzentriert?
    Helberg: Ich denke, dass kurz vor der US-Wahl im November John Kerry, der amerikanische Außenminister, noch mal versucht hat, irgendwie einen Fußabdruck zu hinterlassen in diesem Konflikt. Er stand vor der Wahl, entweder den Syrien-Krieg jetzt komplett Russland und dem Iran zu überlassen international, oder zumindest noch einmal etwas zu tun für die humanitäre Versorgung der Menschen. Ich sehe tatsächlich die Waffenruhe auch als eine Art letzte Chance für die Vereinten Nationen, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, Unabhängigkeit in Syrien zurückzugewinnen. Sie sind stark in der Kritik, gerade international, denn tatsächlich definiert Baschar al-Assad, wo und wem in Syrien geholfen wird. Die UN-Organisationen in Damaskus haben sich unterworfen diesem Mandat des Assad-Regimes und sie müssen jetzt die Waffenruhe dafür nutzen, tatsächlich alle abgeriegelten Menschen zu erreichen und nicht länger auf die Genehmigungen aus Damaskus zu warten. Auf die müssen sie nicht warten, es gibt UN-Resolutionen, die Hilfslieferungen zulassen auch ohne Okay aus Damaskus. Das haben die UN bisher nicht getan. Sie haben ihre Unabhängigkeit verloren in Syrien und sollten jetzt zumindest diese Chance nutzen, alle Menschen zu versorgen, egal ob Assad das gefällt oder nicht. Nur dann wären sie wieder glaubwürdig.
    Heinrich: Das sagt die Syrien-Expertin Kristin Helberg. Vielen Dank, Frau Helberg.
    Helberg: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    (*) In einer früheren Version der Abschrift war der Name der Organisation irrtümlich als "Seawatch" transkribiert worden.