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Wahl in Armenien
Hoffnungsträger Paschinjan mit Siegeschancen

Noch im April vermochte der Oppositionsführer Nikol Paschinjan, Menschenmassen auf die Straßen zu bringen und die armenische Regierung zum Rücktritt zu zwingen. Bei der Wahl am Sonntag will er für seine Bewegung "Mein Schritt" eine Mehrheit im Parlament - Umfragen sehen sein Bündnis bei etwa 70 Prozent.

Von Thielko Grieß | 08.12.2018
    Der armenische Politiker Nikol Paschinjan
    Der armenische Politiker Nikol Paschinjan (Kay Nietfeld / dpa)
    Gestern 11:41 Uhr. Gyumri, die zweitgrößte Stadt Armeniens, erinnert an das schwere Erdbeben vor 30 Jahren und die eigene Zerstörung. Vor einem Denkmal streicht der amtierende Premierminister Nikol Paschinjan die Schleifen eines Trauerkranzes glatt.
    Dann spricht er über die Trauer, das Zusammenstehen der Überlebenden und den Wiederaufbau, der noch immer andauert. Im Dezember 1988 kamen in dieser Gegend etwa 25.000 Menschen ums Leben, sehr viel mehr wurden Invaliden und obdachlos, ganze Orte verschwanden.
    Im schwarzen Mercedes eilt der Premier weiter nach Spitak und Wanadsor; Orte, die komplett oder teilweise zerstört wurden. In Wanadsor steht dem heute 60-jährigen Suren die Trauer ins Gesicht geschrieben. Er trägt einen schwarzen Pullover, schwarze Hose, schwarze Jacke. "Viele Menschen sind umgekommen, das vergisst man nie. Ich selbst habe meinen Bruder verloren, er war 28 Jahre alt. Und viele Verwandte. Mein Bruder hat in Spitak in einer Textilfabrik gearbeitet, wir haben 17 Tage gesucht, dann erst haben wir ihn gefunden."
    Mit Detektoren versuchen Mitarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes während der Bergungsarbeiten im Katastrophengebiet am 13.12.1988 noch lebende Opfer unter den Trümmern zu orten.
    Das Erdbeben in Armenien 1988 zerstörte ganze Stadtteile (dpa / Harro Müller)
    Viel zu wenig Arbeit
    Premier Nikol Paschinjan hat auch in dieser Stadt Schleifen an einem Trauerkranz glatt gestrichen. Gjumri, Spitak oder Wanadsor: Das sind Städte, aus denen viele inzwischen abgewandert sind, weil es viel zu wenig Arbeit gibt. Hier, aber nicht nur hier, setzen die Menschen gewaltige Hoffnungen in Paschinjan.
    "Er ist ein guter Mann. Und wir alle glauben, dass es besser wird", sagt Suren, sagen viele im Land. "Gott entscheidet, wer Premierminister wird", meint er, muss dann aber doch über sich selbst schmunzeln. Denn niemand, auch der gläubige Suren nicht, zweifelt daran, dass Nikol Paschinjan der strahlende Sieger dieser Wahl sein wird. Er, der im Frühjahr eine Protestwanderung nach Jerewan mit nur wenigen Unterstützern begann, die letztlich in einem Triumphzug in der Hauptstadt endete. Sie alle haben die behäbigen regierenden Kleptokraten aus ihren Ämtern demonstriert, friedlich, gewaltfrei. Nun will der Hoffnungsträger für seine Bewegung "Mein Schritt" eine Mehrheit im Parlament, will sich das Reformmandat holen, und er wird all das bekommen: Umfragen sehen sein Bündnis bei etwa 70 Prozent.
    Der 43-Jährige kommuniziert über Facebook
    Dass der 43-Jährige populär ist, ist noch deutlich untertrieben. Paschinjan, der vor allem über Facebook kommuniziert, seinen Bart und den Kampf gegen Korruption zu seinen Markenzeichen gemacht hat, wird geradezu verehrt. Und das gilt auch für seine Mitstreiter.
    Einen Tag zuvor, am Donnerstag, in einem Hinterhof von Jerewan: Wahlkampf mit armenischer Flagge, Süßigkeiten und, wer möchte, einem Schluck Cognac. Davit Sanasaryan, der auf Paschinjans Wahlliste auf dem sicheren 15. Platz steht, ist im Team derer, die das Land reformieren wollen, nicht irgendeiner. Aber noch ist er nicht da, er kommt gleich. Zwischen Musikboxen und Cognac wartet Nuschik Melkonjan, eine Wahlkampfhelferin. "Wir haben Jahre auf diesen Moment gewartet. Um die Korruption zu beseitigen, dass unsere Kinder gut leben können, dass unsere Leute nicht wie Flüchtlinge ins Ausland müssen, um dort Arbeit zu finden. Das ist nicht nur eine politische Frage, sondern auch eine wirtschaftliche."
    Ein Rechnungsprüfer als Vertrauter des Kandidaten
    In Armenien leben zwischen zweieinhalb und drei Millionen Menschen. Viele weitere Millionen leben in der Diaspora, was eine Folge des Völkermords durch das Osmanische Reich ist, aber auch der heutigen miserablen ökonomischen Situation im Land. All das aufzulösen, trauen die Menschen nun Paschinjan und seinem Team zu.
    Der Kandidat, Davit Sanasaryan, hält im Hinterhof eine kurze Rede, in der er transparente Politik verspricht. Der 34-Jährige trägt Turnschuhe, trinkt einen kleinen Schluck Cognac. Er gibt sich nah an den Menschen, spricht Einzelne an, nimmt sie in den Arm. Im Auto auf dem Weg zum nächsten Wahlkampftermin erklärt er, wer er ist: Er ist Vertrauter Paschinjans und Rechnungsprüfer, kontrolliert Ausgaben von Ministerien und Behörden. Damit ist er einer der wichtigsten Köpfe im Kampf gegen Korruption. "Es gibt uns seit sechs Monaten, in der Zeit haben wir schon etwa 1,3 Millionen Dollar an die Staatskasse zurückführen können, und noch einmal eine Million wird dazu kommen. Und wir überprüfen Staatsaufträge."
    Davit Sanasaryan beim Anstoßen mit Cognac
    Davit Sanasaryan beim Anstoßen mit Cognac (deutschlandradio / T. Grieß)
    Premier nahm Einfluss auf Korrputionsermittlungen
    Worüber er nicht spricht, sind die kleinen, aber sichtbaren dunklen Flecken auf der weißen Weste der Revolutionäre: Es ist kein Geheimnis, dass manche Oligarchen, die ihren Reichtum ihrem Talent zum Stehlen verdanken, von der neuen Regierung weniger hart angefasst werden als andere. Und wegen veröffentlichter Telefonmitschnitte ist bekannt geworden, dass der Premierminister Einfluss auf Korruptionsermittlungen nimmt. Ganz zu schweigen von der Außenpolitik, die für Armenien, das zwischen den Feindstaaten Türkei und Aserbaidschan eingezwängt ist und am Tropf des mächtigen Russland hängt, dem Tanz im Minenfeld gleicht.
    Aber das alles sind Fragen, die wohl erst demnächst breiter gestellt werden, nach der Wahl. Im Hinterhof in Jerewan, im ganzen Land, regieren jetzt noch fast überall Gefühle, Gutes geschaffen zu haben und weiter zu schaffen. Nuschik Melkonjan, die Wahlkampfhelferin: "Das Wichtigste ist, dass die Menschen wieder lächeln. Sie haben wieder angefangen zu lachen."
    Auch das ist Politik. In diesem Dezember. In Armenien.