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Wahl Junckers zum Kommissionspräsidenten
"Er muss sich seine breite Zustimmung noch verdienen"

Jean-Claude Juncker ist von den Staats- und Regierungschefs der EU als neuer Kommissionspräsident nominiert - doch die SPD stellt Bedingungen für seine Wahl, wie Jo Leinen (SPD), Abgeordneter im Europaparlament, im Deutschlandfunk erklärte. Um diese zu erfüllen, müsste Juncker von bisherigen Positionen abrücken.

Jo Leinen im Gespräch mit Thielko Grieß | 28.06.2014
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    Jo Leinen, SPD-Abgeordneter im EU-Parlament, hofft auf Änderungen am Stabilitätspakt. (picture alliance / dpa / Esteban Cobo)
    Die Europäische Union müsse dringend gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit vorgehen und das "Tal der Tränen", die Stagnation in zahlreichen Ländern überwinden, sagte Leinen. Juncker müsse also vor allem bei den Themen Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit darlegen, wie er diese angehen wolle. "Wir werden ein Abkommen machen mit Herrn Juncker", erklärte der EU-Parlamentarier. "Und darin muss er sich verpflichten, Ideen, die aus dem Europaparlament kommen, auch umzusetzen."
    Auch die Lockerung des Stabilitätspakts sei dabei ein Thema: "Wir brauchen sicherlich Geld, nur mit sparen wird es nicht gehen", sagte Leinen. "Man muss Geld in die Hand nehmen, um Investitionen durchzuführen." Als Beispiele nannte er die Bereiche Energiewende, Verkehrswege und Bildung. Der Stabilitätspakt sei zu starr, es müsse bei der Berechnung von Haushaltsdefiziten unterschieden werden zwischen Konsum und Investitionen. Diese zahlten sich in der Zukunft aus, daher müsse den Ländern Luft für derartige Ausgaben gegeben werden.
    "Wir müssen den Ländern helfen, aus der Talsohle zu kommen", sagte der SPD-Politiker. Ein wesentlicher Punkt sei dabei, den Ländern mehr Zeit zu geben, ihre Haushalte zu sanieren - im Gegenzug aber bestimmte Reformen zur Bedingung zu machen. Leinen zeigte sich zuversichtlich, dass Juncker hier kompromissbereit sein werde - obwohl er den Stabilitätspakt als luxemburgischer Regierungschef stets verteidigt hatte. "Juncker nicht verbraucht, nicht von gestern, er geht mit der Zeit", sagte Leinen. "Deswegen gehe ich auch davon aus, dass er gewählt wird."

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: Jean-Claude Juncker, das haben wir gehört, ist also nominiert, und Mitte Juli ist dann das Europaparlament dran, Juncker ebenfalls zu bestätigen, wobei Neinstimmen oder Enthaltungen natürlich auch erlaubt sind. Wenn die Sozialdemokraten, die zweitgrößte Fraktion im Europaparlament, mit den Konservativen zusammen stimmen, dann wird Juncker ins Amt getragen, dann ist er gewählt, dann ist er der nächste Kommissionspräsident. Guten Morgen, Jo Leinen, langjähriger Abgeordneter von der SPD im Europaparlament!
    Jo Leinen: Guten Morgen, Herr Grieß!
    Grieß: Bekommt Jean-Claude Juncker auch Ihre Stimme?
    Leinen: Nun, er ist ja in gewisser Weise ein Kandidat des Europäischen Parlaments, auch wenn er jetzt von den Staats- und Regierungschefs formal nominiert wurde, aber ich glaube, er muss sich seine breite Zustimmung noch verdienen. Er muss ja noch ins Parlament kommen und auch sagen, was er in den nächsten fünf Jahren mit der Europapolitik macht.
    Grieß: Sie zögern also noch. Was muss Jean-Claude Juncker Ihnen denn anbieten?
    Leinen: Ja, wir brauchen ja einen Wechsel in Europa, das sagen alle, verstehen allerdings sehr Unterschiedliches darunter. Wir meinen, dass dringend was gemacht werden muss gegen die Jugendarbeitslosigkeit – da haben wir viel gehört, es wurde wenig getan, die Kommission ist da in der Pflicht. Wir brauchen auch, das Tal der Tränen zu überwinden in einer Reihe von Ländern. Es wird nicht mehr investiert, es gibt eine Stagnation. Also raus aus der Wirtschaftskrise, raus aus der Arbeitslosigkeit, das sind zwei Hauptpunkte, wo er darlegen muss, wie er das macht und wo er die Sozialdemokraten in Europa überzeugen muss.
    Grieß: Wie verbindlich muss er denn da werden, also wie deutlich, wie sicher müssen die Versprechen sein, damit Sie ihm das glauben?
    Leinen: Ich glaube, das Parlament hat insgesamt einen Punkt, dass Initiativen, die wir im Plenum mit deutlicher Mehrheit aussprechen, dass dann die Exekutive, die europäische Regierung, wenn man so will, das auch macht. Wir werden ja ein Abkommen machen mit Herrn Juncker – Europaparlament, Europäische Kommission –, und darin muss er sich verpflichten, auch Ideen, die aus dem Parlament kommen, dann auch umzusetzen und nicht zu sehr auf den Europäischen Rat zu schielen, weil da gibt es immer den einen oder den anderen, der keinen Fortschritt in Europa will, insbesondere natürlich die erwähnten Briten.
    Grieß: Jean-Claude Juncker wird also nicht nur der erste Kommissionspräsident, mutmaßlich jedenfalls, der nicht von den Staats- und Regierungschefs allein ausgekungelt werden wird oder worden ist, sondern er wird auch an die Leine gelegt, ganz anders als seine Vorgänger.
    Leinen: Ja, es ist ja üblich, zu Hause auch, dass man ein Legislatur-Programm hat, dass das Parlament weiß, was die Regierung machen will. Das war in allen Mitgliedsstaaten so, das soll jetzt auch in der Europäischen Union so sein. Wir wollen ja keine Katze im Sack kaufen, sondern wissen, wo die Reise hingeht. Und das ist ja jetzt auch ein neues Kapitel in der Europapolitik, weil doch einige Themen auch schon im Europawahlkampf, also vor dem Votum der Bürgerinnen und Bürger bekannt wurden und nicht erst nach der Wahl, wie es in der Vergangenheit war, bei dem üblichen Gipfel, wie er jetzt auch stattgefunden hat. Also ein neues Kapitel für mehr Transparenz, für mehr Demokratie und irgendwo auch für mehr Bürgernähe.
    Grieß: Mehr tun gegen die Jugendarbeitslosigkeit in verschiedenen europäischen Ländern, raus aus dem Tal der Tränen, das sind Ihre Formulierungen. Weichen Sie damit den Stabilitätspakt auf?
    Leinen: Ja, wir brauchen sicherlich Geld, ist gar keine Frage, nur mit Sparen wird das nicht gehen, das pfeifen die Spatzen von den Dächern. Manche glauben es noch nicht, aber man muss jetzt auch Geld in die Hand nehmen, um Investitionen auch durchzuführen. Und da gibt es in Europa viel zu tun, wir wissen das alle: die Energiewende, die ganzen Verkehrsmittel, die sehr leiden, die ganze Kommunikationsbandbreite, das digitale Europa. Also ich glaube schon, dass in irgendeiner Weise ein Investitionsfonds für Aufbruch und für Wachstum kommen muss.
    Grieß: Bekommt Jean-Claude Juncker also dann Ihre Stimme, wenn er sagt, ja, auch ich als Kommissionspräsident bin der Auffassung, dass Frankreich mehr Zeit bekommt?
    Leinen: Ja, ich glaube, das ist ein wesentlicher Punkt, dass wir den Ländern helfen, aus dieser Talsohle rauszukommen, und Zeit gegen Reformen, wie es gesagt wird, wäre ein Mittel, also dass man mehr Zeit gibt, allerdings das auch konditioniert mit Auflagen, was gemacht werden muss, damit man aus dieser Talsohle rauskommt. Das sind sicherlich Reformen in der Bürokratie, in den Sozialsystemen, das sind aber auch Investitionen. Wir kommen nicht drum rum, dass in Italien, in Spanien, in Frankreich auch noch mal irgendwas investiert werden muss.
    Grieß: Das Stichwort Investition, das Sie nennen, das tauchte gestern auch an anderer Stelle auf, die Staats- und Regierungschefs haben ja sozusagen auch über Leitlinien abgestimmt. Darin geht es zielmäßig um Arbeitsplätze, um Wachstum und um Wettbewerbsfähigkeit, und darin steht auch, dass Investitionen nicht auf die Schuldenstände angerechnet werden können. Ist das schon die Richtung, die Sie auch ansprechen?
    Leinen: Ja, der Stabilitätspakt ist viel zu starr, er ist viel zu deutsch, sage ich mal. Sparen um seiner selbst willen ist ja keine gute Politik, und man muss unterscheiden zwischen Konsum und Investitionen. Investitionen in öffentliche Infrastruktur sind ja auch lohnende Investitionen, sie zahlen sich ja aus, und da muss man noch mal genauer hinschauen und den Ländern auch Luft geben zum Atmen und vor allen Dingen Luft geben zum Überleben.
    Grieß: Ja, was gehört denn in diese Luft oder in dieses Atmen mit hinein, Investitionen in Hochschulen oder auch Investitionen in den Betrieb von Hochschulen?
    Leinen: Also Bildung, Forschung gehören sicherlich dazu, öffentliche Infrastruktur kann dazugehören, Technologiezentren, alles, was fördert, dass Europa wettbewerbsfähig wird. Wir leben ja in einer Zeit, wo wir unter starkem Konkurrenzdruck sind, von den neuen Akteuren aus Asien vor allen Dingen, und hier ist Sparen allein kein Konzept. Und die deutschen Ökonomen, die das immer noch fordern, die sind in Europa genauso isoliert wie David Cameron bei den anderen Fragen, wie man gesehen hat.
    Grieß: Also zu den Investitionen, da sagen Sie, gehören dann noch ganz andere Dinge als so das Übliche, eben nur der Beton, sondern eben auch zum Beispiel Bildung. Das wird zum Beispiel die Italiener und die Franzosen sicherlich freuen, aber wenn Sie nicht aufpassen, dann verlieren Sie dann doch noch die Zustimmung der konservativen Fraktion im Europäischen Parlament.
    Leinen: Ja, ich glaube, dass die konservativen Kollegen, soweit sie proeuropäisch sind, das ähnlich sehen.
    Grieß: Also wenn jemand auf den Stabilitätspakt pocht, so wie er ist, dann ist er nicht europäisch, nicht proeuropäisch.
    Leinen: Ja, aber ich entdecke, dass da einige Kollegen aus Deutschland so denken, vielleicht noch hier und da jemand aus Finnland und aus den Niederlanden, aber die anderen Kollegen aus den anderen Ländern, die haben schon verstanden, dass wir einen Konzeptwechsel, einen Politikwechsel brauchen, und dazu gibt es auch Beschlüsse des Parlaments aus der letzten Legislaturperiode mit großer Mehrheit, das wäre ohne die Konservativen nicht gegangen. Und von daher glaube ich, dass wir da in einem Mainstream, in einer Strömung sind, die anzeigt, wo Jean-Claude Juncker hingehen muss, damit wir erfolgreich sind.
    Grieß: Ganz kurz noch, Herr Leinen: Dann freuen Sie sich jetzt darauf, dass Sie Jean-Claude Juncker in den nächsten Wochen beim sich wandeln zuschauen dürfen, denn der hat ja als luxemburgischer Premier in den vergangenen Jahren diesen Stabilitätspakt hart verteidigt.
    Leinen: Ja, aber man muss mit der Zeit gehen. Das war vielleicht richtig, um Wegmarken zu setzen zu Beginn der Krise, wo ja großer Reformbedarf in einigen Ländern unübersehbar war, aber nach fünf Jahren Krise und wenn man sieht, wie schnell die USA da rausgekommen sind, wie langsam Europa und wie schwer Europa sich tut, dann muss man etwas Neues probieren. Und Jean-Claude Juncker, glaube ich an der Stelle, ist nicht verbraucht, er ist nicht von gestern, sondern der geht mit der Zeit, und das zeichnet ihn aus. Und deshalb hoffe ich auch, dass er dann in zwei Wochen gewählt wird.
    Grieß: Jo Leinen, SPD-Europaabgeordneter, stellt Bedingungen dafür, dass er Jean-Claude Juncker im Europaparlament mit wählt. Herr Leinen, danke für das Gespräch!
    Leinen: Auf Wiederhören!
    Grieß: Und einen schönen Samstag, auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.