Freitag, 19. April 2024

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Wahlausgang in Israel
Historiker: "Die Tendenz ist immer weiter nach rechts"

Von Wahl zu Wahl bekämen rechte, nationalistische Parteien mehr Unterstützung, sagte der israelische Historiker Moshe Zimmermann im Dlf. Benjamin Netanjahu kenne diese Dynamik und müsse nun nur noch richtig zwischen den rechtsorientierten Parteien taktieren.

Moshe Zimmermann im Gespräch mit Dirk Müller | 10.04.2019
Männer mit Partei-T-Shirts bekleidet tanzen im Kreis unter einer Flagge mit dem Bild von Benjamin Netanjahu
Unterstützer von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu feiern in Tel Aviv das überraschend gute Abschneiden seiner Partei Likud. (picture alliance / dpa / Abir Sultan)
Dirk Müller: Zum fünften Mal Benjamin Netanjahu, das ist jetzt immer wahrscheinlicher zur Mittagszeit. Und in Israel begrüßen wir nun den Historiker und Publizisten, Professor Moshe Zimmermann. Guten Tag! Herr Zimmermann, haben Sie auch Netanjahu gewählt?
Moshe Zimmermann: Das ist nicht mal ein Witz. Ich gehöre zu denen, die selbstverständlich für eine linke Partei gewählt haben und die im Voraus wussten, dass wir keine Chance haben. Man ist hier nicht überrascht, man weiß Bescheid, das Publikum steht hinter Netanjahu, das israelische Publikum steht rechts – und deswegen war die Wahl schon vor der Wahl entschieden.
Müller: Und Sie stehen immer noch links?
Zimmermann: Es gibt noch eine Minderheit in Israel, die schrumpft, aber die gibt es noch immer. Die steht links, die steht noch immer für eine Zwei-Staaten-Lösung. Aber wir wissen schon seit Langem, eine Chance auf die Regierung haben wir oder hat die Linke in Israel nicht.
"Erziehung zum Nationalismus"
Müller: Herr Zimmermann, das fragen sich ja viele auch in Deutschland. Sie haben das gerade ganz kurz schon skizziert, ganz kurz beschrieben: Warum ist die Linke immer kleiner geworden, zu der Sie gehören?
Zimmermann: Die Tendenz in Israel, da geht es um die Erziehung und die Sozialisation, um die politische Dynamik, die Tendenz ist immer weiter nach rechts, immer mehr nationalistisch, immer mehr gegen die arabische Minderheit innerhalb des Staates Israels, immer mehr für eine Fortsetzung der Annexion der Westbank. Und deswegen kann man aus diesem Teufelskreis nicht mehr heraus, deswegen geht es von Wahl zu Wahl in die Richtung, die mehr und mehr Unterstützung für die rechte, nationalistische Politik schafft.
Moshe Zimmermann im Gespräch.
Moshe Zimmermann, israelischer Historiker (dpa / Martin Schutt)
Müller: Das ist die Tendenz, die Sie beschreiben. Aber noch mal die Frage, warum ist das denn so gekommen, warum gibt es nicht mehr Liberale, Moderate, sagen wir in unserem Sinne, nach einem europäischen Verständnis, die auf Ausgleich plädieren, auf Ausgleich setzen?
Zimmermann: Weil eben die Erziehung zum Nationalismus, die Betonung der Verteidigung, der Sicherheit, der Animosität gegenüber Arabern immer mehr im Vordergrund steht. Auch in der Sozialisation, in der Erziehung – wenn man schon von der Schule auf in diese Richtung erzogen wird, hat es am Ende Konsequenzen. Und die Konsequenzen findet man nachher bei den Wahlen selbst.
"Chance auf eine linke Regierung gleich null"
Müller: Sie sagen, als Schüler ist das so. Heißt das, alle Lehrer, die in Israel unterrichten, sind rechtsnational?
Zimmermann: Leute, die Lehrer sind, wissen auch nicht immer Bescheid, wie weit nach rechts sie schon gerückt sind. Die Betonung des Elements jüdisch – jüdischer Staat, eine jüdische Nation, das jüdische Volk – führt dazu, dass man sich immer mehr von der Bereitschaft entfernt, eine Versöhnung mit den Palästinensern herbeizuführen. Das spürt man in der Politik, das spürt man auch in der Schule. Und in den letzten Jahren war das Erziehungsministerium fest in der Hand eines rechtsorientierten Nationalisten, und das hatte seine Wirkung auch im Prozess der Erziehung und der Sozialisation in der israelischen Gesellschaft.
Müller: Anders herum gefragt: Wenn das so ist, wie Sie es bestimmen, dann hat Benjamin Netanjahu aus seiner Sicht taktisch, strategisch alles richtig gemacht, indem er genau ausschließlich radikal auf diese Karte gesetzt hat.
Zimmermann: Das ist eben das Geheimnis des Erfolges in der israelischen Politik: Man muss immer mehr nach rechts gehen, nationalistisch argumentieren, Vorwürfe wegen Korruption ignorieren und dann hat man Erfolg. Netanjahu weiß Bescheid, der rechte Flügel in Israel ist konstant über 50 Prozent. Deswegen ist die Chance auf eine linke Regierung gleich null. Und da muss er nur richtig taktieren zwischen den rechtsorientierten Parteien, das hat er getan, er hat genug Erfahrung. Und jetzt hat er die Möglichkeit, wieder eine Regierung zu schaffen.
"Europa ist in Israel verpönt"
Müller: Jetzt könnte man doch vielleicht sagen, wenn wir das Ideologische ein bisschen herausnehmen, auch das Parteipolitische, Herr Zimmermann, wenn ich als Israeli, wir stellen uns das vor, also, ich bin in Israel und mein höchstes Thema, mein wichtigstes Thema, meine höchste Priorität ist das Thema Sicherheit. Habe ich dann eine Alternative zu Benjamin Netanjahu?
Zimmermann: Man hat eine Alternative, aber auf diese Alternative kommt man immer weniger. Die Alternative ist eben, Sicherheit dadurch zu schaffen, dass man mit den Feinden von gestern oder mit den Feinden von heute das Gespräch sucht. Wir kennen ja die Entwicklung in Europa, wie es in Europa vor 1945 war und wie es heute ist. Die Betonung auf Verständigung, auf Kompromiss, der Verzicht auf Bellizismus. Das alles kommt in Israel nicht an, deswegen denkt man immer, Sicherheit ist gleich militärische Stärke, draufhauen ist immer besser als verhandeln, Palästinenser sind ipso facto keine Partner – und so kann man eben die Wahlen gewinnen, wie Netanjahu die gewonnen hat. Die Linke, die für etwas ganz anderes plädiert, die auf Europa schaut, die hat in diesem Rahmen, in diesem Kontext keine Chance. Europa ist in Israel verpönt, Europa bedeutet für Israel etwas Falsches. Man hofft in Israel – und das ist auch die Hoffnung von Netanjahu –, dass am Ende Orbán, Kaczynski und diese Leute gewinnen und nicht die alten Vertreter der europäischen Idee der europäischen Union.
Müller: Herr Zimmermann, ich möchte bei dem Thema Sicherheit noch einmal bleiben. Wir haben Zahlen gelesen, wir können die jetzt nicht verifizieren, wonach die Anzahl von Anschlägen, die Anzahl von Attentaten in den vergangenen Jahren sehr, sehr stark zurückgegangen ist. Hat Benjamin Netanjahu das Land sicherer gemacht?
Zimmermann: Das Land ist heute sicherer geworden, weil die Palästinenser noch mehr unterdrückt sind als zuvor. Man kann sagen, im Moment sind die Attentate zahlenmäßig kleiner geworden, die Angriffe auf Israel, auch mit Raketen, sind nicht so lebensgefährlich, wie sie sein könnten. Aber man kann ja nicht das als eine sichere, normale Existenz eines Staates bezeichnen. Trotzdem schafft es die Propaganda des rechten Flügels, das als Erfolg zu zeigen. Die Alternative …
Müller: Das heißt, aus Ihrer Sicht ist das … Entschuldigen Sie …
Zimmermann: Die alternative Verhandlungen ist nicht auf dem Tisch.
"Besondere Art von Terror"
Müller: Ist das eine kurzfristige Sicherheit nur, wenn wir das so definieren wollen, wenn ich Sie richtig verstanden habe?
Zimmermann: Das ist eine relative Sicherheit, eine kurzfristige. Und das ist eine Frage selbstverständlich der Definition des Begriffs. Ein Gefühl der Unsicherheit begleitet Israel immer im Vergleich zu einer normalen Bevölkerung außerhalb Israels. Terror gibt es überall in der Welt, aber die Art von Terror, die man in Israel erfährt, ist etwas mehr als das, was man in einem normalen Land in Europa oder in Amerika erfährt. Und trotzdem kann man diese Lage so verkaufen, als wäre die Alternative, die Linke, ein Rezept für mehr Terror für mehr Unsicherheit – und nicht umgekehrt.
Müller: Sie sind Historiker, Sie sind Publizist, Sie sind aber immer politisch ja auch aktiv gewesen, Herr Zimmermann. Wir haben mit Ihnen viele Interviews geführt hier im "Deutschlandfunk". Ich habe jetzt so ein bisschen das Gefühl, so frustriert waren Sie noch nie.
Zimmermann: Die Frustration addiert sich und akkumuliert sich mit der Zeit. Wir sind nüchtern genug, ich bin Historiker, weiß Bescheid, wie langfristige Entwicklungen stattfinden. Ich sehe, wie sich das entwickelt, ich konnte das schon vorher sehen. Die Warnungen auf meiner Seite kamen schon vor 20 Jahren. Das Problem ist, dass wir nicht sehen, wo der Punkt erreicht wird, wo die Pendelbewegung in die andere Richtung geht. Und da wir diesen Punkt noch nicht erkennen können in unserem Horizont, sind wir eben frustriert oder mindestens traurig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.