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Wahlen in der Türkei
Die alevitsche Frage im Wahlkampf

Der sunnitisch-muslimischen Mehrheit in der Türkei sind sie suspekt: die Aleviten. Sind sie "richtige Muslime"? Oder eine eigenen Religionsgemeinschaft? Gerade in Wahlkampfzeiten werden Aleviten auch als politische Kraft wahrgenommen. Während sie in ihrem Ursprungsland oft diskriminiert werden, genießt die Minderheit in Deutschland die Chancen der Religionsfreiheit – und ist dennoch auf der Suche nach der eigenen Identität.

Von Kadriye Acar | 02.11.2015
    Der Lehrer Mete Özcan unterrichtet an der Brüder-Grimm-Schule in Hanau Grundschüler verschiedener Klassen in alevitischer Religion (Foto vom 07.06.2010). Hessen will den Religionsunterricht für die muslimische Minderheit der Aleviten ausweiten.
    An deutschen Schulen wird auch alevitischer Religionsunterricht angeboten. (Jörn Perske / dpa)
    Die Menschen jubeln, der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ist auf Stimmenfang in Deutschland. Ein Dauerthema, nicht nur bei Wahlkämpfen: Sind die Aleviten Muslime oder nicht? Recep Erdogan bezieht Stellung:
    "Brüder, ich sage Euch: Wir müssen wachsam sein. Wenn Alevit zu sein bedeutet, den heiligen Ali zu lieben – dann gibt es keinen größeren Aleviten als mich. Aber wenn das Alevitentum eine Religion ist – da macht Tayyip Erdogan nicht mit."
    Fast 20 Millionen Aleviten, andere Schätzungen gehen von zehn Millionen aus, leben in der Türkei. Knapp eine Million sind es in Deutschland. Eine politische Kraft, nicht nur zu Wahlkampfzeiten. Aber eine Kraft, die noch in der Selbstfindungsphase ist. Denn ob Aleviten eine eigene Religion bilden oder doch zum Islam gehören – das ist eine kontroverse Frage. Was sicher ist: An diese Grundsätze sollte sich alle Aleviten halten: "Achte auf Deine Hände, Deine Lenden und Deine Zunge." Diese Aufforderung fasst die Grundpfeiler der alevitischen Glaubenslehre zusammen. Das bedeutet: Begehe keinen Diebstahl, nutze die Hände für etwas Sinnvolles. Beherrsche deine Triebe, lüge und lästere nicht. Diese Gebote gelten gegenüber allen Menschen und nicht nur gegenüber Aleviten. Denn alle Menschen haben, nach alevitischem Glauben, den göttlichen Funken.
    "Das Menschenbild ist so positiv, dass der Gott im Menschen gesehen wird. Das heißt, wenn wir zum Beispiel beten, beten wir nicht in irgendeine Richtung. Sondern, beim Gebet sitzen wir so, dass wir zum Menschen hin gucken. Weil wir sagen, der Schöpfer liegt in der Schöpfung."
    Aus einem Vortrag von Yilmaz Kahraman. Der 35jährige ist Sprecher und Bildungsbeauftragter der Alevitischen Gemeinde Deutschland. Gerade in den letzten Wochen hat der Islamwissenschaftler viel zu tun. Er besucht alevitische Gemeinden und hält Vorträge über die Geschichte des Alevitentums. Eine der häufigsten Fragen, denen er begegnet: Wann ist das Alevitentum entstanden? Und sind Aleviten auch Muslime?
    "Meiner persönlichen Meinung nach ist das Alevitentum eine eigenständige Religionsgemeinschaft, die jahrtausendealte Traditionen in sich hat. Das sind altanatolische, altmesopotamische Traditionen. Nach 1071 sind die Turkvölker nach Anatolien eingewandert, die ursprünglich Schamanen waren, und die haben auch nochmal sehr viel Gedankengut mit nach Anatolien gebracht. Wenn wir jetzt 3000 Jahre, 4000 Jahre zurückgehen, hieß diese Gruppe ja nicht Aleviten. Die Aleviten haben ihren Namen seit 200 Jahren. Es gab sie vorher unter dem Namen Kizilbas, Bektasi. Und seit 200 Jahren heißt diese Gruppe Aleviten, weil es einen speziellen Ali-Kult gibt."
    Ali ibn Talib war nicht nur der Schwiegersohn des Propheten Mohammed. Er war auch sein Cousin und der vierte rechtgeleitete Kalif. Für seine Anhänger, die Aleviten, also dem Hause Alis zugehörig, ist Mohammed der Prophet Gottes und Ali der Auserwählte.
    Die alevitische Gemeinde in Rhein-Erft Kreis mit rund 100 Mitgliedern. Schon vor langer Zeit hatten sie Yilmaz Kahraman gebeten, über das Alevitentum zu referieren. Der Nachholbedarf über die alevitische Geschichte, die Riten und Traditionen ist sehr groß. Denn lange Zeit wurden die Aleviten in der Türkei verfolgt und diskriminiert, haben ihren Glauben nur heimlich praktizieren können. In Deutschland entwickelt sich ein neues alevitisches Selbstbewusstsein.
    "Deutschland ist sozusagen das einzige Land auf der Welt, wo die Aleviten ihre Rechte bekommen haben. Sie sind erstens eine anerkannte Religionsgemeinschaft, dadurch haben wir hier den alevitischen Religionsunterricht. Der erste Lehrstuhl weltweit ist in Deutschland, der einzige eigentlich bis jetzt. Also wenn man das mit dem eigentlichen Heimatland des Alevitentums vergleicht, mit der Türkei, kann man sagen, dass die Aleviten zum ersten Mal hier ihre Augen öffnen."
    Trotzdem sind sich die Mitglieder alevitischer Gemeinden uneinig, ob sie eine eigenständige Religion bilden. Das alevitische Glaubensbekenntnis lautet: "Ya Allah, ya Muhammed, ya Ali". Das heißt: Es gibt einen Gott, Mohammed ist sein Prophet und Ali sein Freund. Ohne Allah, Mohammed und Ali gäbe es den Islam aber nicht. Stimmen aus der Gemeinde in Hürth:
    "Das Alevitentum ist ein Teil des Islams, da gibt es für mich keine Trennung. Ich möchte eher so sagen. Der Islam, der in den arabischen Ländern und auch in der Türkei gelebt wird, das ist nicht der Islam, den der Prophet Muhammed gepredigt hat. Es wird ein arabischer Islam gelebt, der nichts mit dem Islam zu tun. Der Prophet Muhammed und Ali haben gemeinsam für den wahren Islam gestritten. Wenn ich den Weg Alis gehe, wie kann ich da sagen, dass ich kein Muslim bin?"
    "Wenn ich gefragt werde sage ich: Ja, ich bin Muslimin. Denn wir sind alles Kinder des türkischen Staates, aber sie, die Sunniten, machen diese Unterscheidung. Sie sagen, dass wir Aleviten sind. Wir hingegen machen diese Unterscheidung nicht. Wir akzeptieren sie, wie sie sind. Was bedeutet es ein Alevit zu sein: Ja, wir lieben Ali. Aber wir haben den gleichen Propheten, den gleichen Gott, manchmal auch die gleichen Gebete. Was sollen wir da noch sagen?"
    "Wir sind die wahren Muslime, wir sind keine Randgruppe. Wir sind die Essenz des Islams."
    In der jungen Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, so wie bei der 16jährigen Hilal Demir, hat sich aber mittlerweile eine andere Haltung durchgesetzt.
    "Wenn man sagt, ich gehöre dem Islam, denkt man an die Moschee, an das fünfmal am Tag beten, an das Kopftuch. Und ich denke mittlerweile ist das Alevitentum eine eigenständige Religion."
    Im Vergleich zum Sunnitentum ist es im Alevitentum nicht wichtig, religiöse Regeln starr zu befolgen. Es ist keine Gesetzesreligion, sondern auf Innerlichkeit bedacht. Das islamische Recht, die Scharia, wie es Sunniten und Schiiten kennen, ist für Aleviten nur von untergeordneter Bedeutung. Frauen sind nicht nur gleichberechtigt sondern auch gleichwertig. Letztendlich steht der eigenverantwortliche Mensch im Mittelpunkt des alevitischen Weltbildes.
    Für Melek Yildiz, vom Vorstand der alevitischen Gemeinde, ist die Diskussion, worin sich die Aleviten von den Sunniten unterscheiden, aber der falsche Weg.
    "Fakt ist nun mal, dass es kontroverse Positionen gibt bezüglich der Islamzugehörigkeit. Aber bei uns gilt auch das Kontroversitäts-Prinzip – und wir sind in einem Selbstfindungsprozess. Was ist ursprünglich alevitisch und was wurde uns von anderen indoktriniert? Oder durch den Assimilisierungsprozess – was ist da hinzugekommen?"
    Trotz aller Kontroversen und Diskussionen: Die Aleviten haben es bis jetzt immer geschafft, sich unter dem Dach der alevitischen Föderation zu versammeln. Denn das wichtigste für jeden Aleviten ist nicht die Religion, der jemand angehört. Es ist der Mensch, der gewillt ist, sich weiterzuentwickeln, nach Wissen und Vervollkommnung zu streben – ohne dabei anderen Schaden zuzufügen.