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Wahlen in Taiwan
Ärger über Anbiederung an Peking

Zum ersten Mal in der Geschichte könnte die oppositionelle DPP-Partei am Wochenende sowohl die Präsidenten- als auch die Parlamentswahl in Taiwan für sich entscheiden. Denn vor allem den jungen Wählern missfällt der Kurs der regierenden KMT. Nicht nur der Annäherungskurs an China lässt den Unmut steigen.

Von Anne Raith | 15.01.2016
    Proteste in Taipeh gegen die Annährunge zwischen Taiwans President Ma Ying-jeou und Chinas Präsident Xi Jinping in Singapur.
    Seit Monaten demonstrieren Taiwaner gegen den Annäherungskurs ihrer Regierung zu China (picture-alliance / dpa/epa/Ritchie B. Tongo)
    "Digitopia" heißt die Ausstellung im Songshan Kulturpark, einer ehemaligen Tabakfabrik. Schon der Titel erzählt viel darüber, wie sich Hsin-yu Wang die Zukunft vorstellt. Digital. Und auch der Name des Kollektivs, bei dem sich die 32-Jährige engagiert, lässt tief blicken: GØV. Die Abkürzung steht für Government, für die Regierung. Das O wird ersetzt durch die Null der Programmiersprache. Sie steht auch für das Vertrauen, das Hsin-yu Wang und die anderen der Regierung entgegen bringen.
    "Vor den Wahlen haben wir zum Beispiel eine Webseite ins Leben gerufen, auf der man checken kann, wie die Kandidaten zu einzelnen Themen stehen. Man tippt ein Stichwort ein und sieht: Ach, guck, vor den Wahlen hat er das gesagt, im Wahlkampf sagt er plötzlich was ganz anders. So können wir die Typen im Auge behalten."
    Beide Parteien, die regierende KMT und die oppositionelle DPP, setzen im Wahlkampf auf soziale Themen. Auf Themen, die junge Wähler beschäftigen. Die stagnierenden Löhne und die explodierenden Immobilienpreise zum Beispiel, erzählt Hsin-yu.
    Fachkräfte fürchten Öffnung zu China
    "Für uns junge Leute ist es super schwierig, ein Haus zu kaufen. Die meisten von uns wohnen zur Miete oder bei ihren Eltern. Weil die Gehälter von Jahr zu Jahr weniger wert sind. Ich bekomme heute weniger Gehalt als meine Tante vor 20 Jahren!"
    Das Einstiegsgehalt eines Uniabsolventen liege heute bei durchschnittlich 7.000 US-Dollar, rechnet Politikwissenschaftler Yu-Shan Wu vor. Im Jahr. Wu forscht an der renommierten Academia Sinica in Taipeh.
    "Wir haben hier extrem gut ausgebildete Arbeitskräfte mit hohen Erwartungen, die dann unter diesen wirtschaftlichen Schwierigkeiten leiden. Sie können sich vorstellen, wie groß der Frust ist."
    Und dieser Frust entlädt sich regelmäßig. Denn die Antwort der Kuomintang-Regierung auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes ist unter anderem eine engere wirtschaftliche Kooperation mit China. In den vergangenen Jahren hat sich Taiwan mehr denn je für die Volksrepublik geöffnet – für Waren, Investitionen und Touristen. Unter dem wachsenden Unmut vieler junger Taiwaner.
    Demonstrationen gegen Annäherungen an China
    Die in ihren Augen intransparenten Verhandlungen über das Dienstleistungsabkommen mit China haben das Fass im Frühjahr 2014 zum Überlaufen gebracht. Wochenlang haben Studenten wie die 24-jährige June Lin demonstriert, am Ende sogar das Parlament besetzt. Bis heute ist das Abkommen nicht ratifiziert – und für June immer noch ein Thema:
    "Die Gefahr ist, dass uns die Regierung vormachen will, dass unsere wirtschaftlichen Probleme gelöst sind, sobald Taiwan diese Abkommen unterzeichnet hat, und zwar für immer. Aber das ist nicht die Wahrheit! Das Gegenteil könnte der Fall sein, es könnte uns schaden, wenn wir uns zu sehr von China abhängig machen."
    Für die junge Generation Taiwans sieht die Wahrheit ohnehin ganz anders aus als noch für ihre Eltern oder Großeltern, die Ende der 1940er Jahre mit Chiang Kai-shek vom Festland nach Taiwan gekommen sind und Jahrzehnte unter Kriegsrecht gelebt haben, erklärt Politikwissenschaftler Yu-Shan Wu.
    "Sie haben sich eine neue Historiografie angeeignet. Sie sagen: Das ist ein Land, in das zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Menschen eingewandert sind; die meisten mögen vom Festland kommen. Aber wir sind Taiwaner, das ist eine neue Nation, die sich von der chinesischen Nation auf dem Festland unterscheidet. Das ist ein Grund für ihre Unzufriedenheit mit Präsident Ma und der KMT."
    Und ein Grund dafür, warum unter der KMT-Regierung nicht nur die Studenten, sondern auch die Schüler auf die Straße gegangen sind. Um gegen die neuen Lehrbücher zu protestieren, haben sie im vergangenen Sommer das Bildungsministerium besetzt. Auch Hsin-yu Wang stört sich an der in ihren Augen chinesischen Lesart der Geschichte:
    "Von Kindheit an haben wir Bücher gelesen, in denen uns chinesische Geografie und chinesische Geschichte vermittelt wird. Ich weiß nicht, wo die einzelnen Regionen in Taiwan liegen, aber welche Produkte die verschiedenen Regionen in China herstellen. Das ist total verrückt. Mein Englisch ist besser als mein Taiwanisch. Das ist doch eine Schande!"
    DDP profitiert von China-Protesten
    Dass für die jungen Wähler die Abgrenzung zu China eine große Rolle spielt, weiß auch die China skeptische DPP, die die Wahlen vermutlich gewinnen wird. Sie hat viel profitiert, von den Protesten. Ebenso weiß sie, dass es politisch und wirtschaftlich gefährlich werden kann, sich mit der Volksrepublik anzulegen. Während der letzten DPP-Regierung etwa hat Peking ein Gesetz erlassen, dass China das Recht einräumt, Taiwan im Falle einer selbsterklärten Unabhängigkeit anzugreifen. Und so glaubt Studentin June Lin auch nicht an einen großen Kursschwenk, sollte die DPP gewinnen:
    "Sie wollen auch mit China verhandeln. Besser als es die Regierung getan hat vielleicht. Sie haben jedenfalls nicht mehr die taiwanische Unabhängigkeit auf dem Schirm oder wollen die Beziehungen zu China abbrechen, weil die Chinesen immer noch mit 1.000 Raketen auf Taiwan zielen. Sie wollen auch mit China reden und verhandeln, aber anders als die KMT."
    Interessant wird daher auch, wie die kleineren Parteien in diesem Jahr abschneiden, Parteien, die sich zum Teil aus der Studentenbewegung heraus gegründet haben.
    Denn für junge Leute wie Hsin-yu Wang ist der Status quo auf Dauer keine Option. Unübersehbar prangt in der Ausstellung an der Säule neben ihr ein großes türkisfarbenes Plakat: "I stand for Taiwan's Independance" ist da zu lesen.
    Recherchen für diesen Beitrag wurden durch journalists.network ermöglicht, die unterstützt wurden von der Taipeh Vertretung, der Robert-Bosch-Stiftung und der Firma Evonik.