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Wahlkampf in Israel
Wir oder er - alle Blicke auf Netanjahu

Wenn am 17. März in Israel die vorgezogenen Neuwahlen stattfinden, steht bei den Urnengängern vor allem eine Frage im Vordergrund: Wie hältst du es mit Netanjahu? Aber wer ist der Mann, der die Presse scheut und versucht, ein viertes Mal Ministerpräsident zu werden?

Von Torsten Teichmann | 15.03.2015
    Der Staat Israel verlangt den Wandel, brüllt ein Redner vor 30.000 Demonstranten. Der Protest in Tel Aviv richtet sich gegen Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. "Netanjahu geh heim", rufen sie in kleinen Sprechchören auf dem Rabin Platz. Aber: Ganz Israel ist das nicht. Es sind Familien die protestieren, Anhänger des Oppositionsführers Itzhak Herzog. Mitglieder der kleinen linken Meretz-Partei. Und Intellektuelle wie die Autorin Talma Aliagon, die einen Machtwechsel fordert:
    "Denn wenn wir diesmal nicht gewinnen, ist das das Ende unseres Staates. Dann werden wir keinen jüdischen und demokratischen Staat mehr haben. Das war's dann. Eine Demokratie, die alle gleichermaßen behandelt, sich um alle Bürger kümmert ohne Ansehen von Religion, Herkunft oder Geschlecht."
    Auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv und beinahe überall im Land ist kurz vor der Parlamentswahl zu hören, dass diese Abstimmung entscheidend ist. Entscheidend für die Zukunft des Staates Israel. Wobei die eine Gruppe von der Notwendigkeit spricht, Regierungschef Netanjahu abzulösen. Die andere Gruppe aber warnt vor einem Wechsel, warnt vor Gefahren für die Existenz des Staates Israel. Es sind die Anhänger von Regierungschef Netanjahu - und der Premier selbst. Seinen größten Auftritt während des Wahlkampfes hat der Ministerpräsident im Ausland, bei einer Rede vor beiden Häusern des US-Kongress.

    Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hält im US-Kongress eine Rede. 
    Benjamin Netanjahu im US-Kongress (AFP / MANDEL NGAN)
    "Ich fliege nach Washington in einer schicksalhaften, ja sogar historischen Mission. Ich fühle mich als Gesandter aller Bürger Israels, auch derjenigen, die nicht meiner Meinung sind. Als Gesandter des ganzen jüdischen Volkes. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um die Sicherheit aller Israelischen Bürger, das Schicksal unseres Landes und unseres Volkes. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um unsere Zukunft zu sichern."
    Alle Blicke sind in diesem Wahlkampf auf ihn gerichtet, von Anhängern und Gegnern. Es geht nicht um den Gaza-Krieg des vergangenen Sommers mit mehr als 2.000 Toten. Es geht nicht um wachsende Ungleichheit, notwendige Investitionen in den Nahverkehr, Probleme mit Rassismus oder die Besatzung und Kontrolle der palästinensischen Gebiete. Stattdessen ist die bestimmende Frage: Wie hältst Du es mit Netanjahu ? Aber wer ist der Mann, der versucht ein viertes Mal Ministerpräsident des Staates Israel zu werden?
    Moshe Arens - der Entdecker Netanjahus
    Wer den Anfängen des Politikers Benjamin Netanjahu nachgehen will, der muss nach Savyon fahren. Ein Vorort, eine halbe Stunde östlich von Tel Aviv gelegen. Den Bewohnern geht es offensichtlich gut. Viele Häuser haben einen eigenen Swimmingpool im Garten. Bei der Wahl vor zwei Jahren war die Partei Yesh Atid von Ex-Fernsehmoderator Yair Lapid stärkste Kraft in Savyon. Moshe Arens dagegen wird für Likud gestimmt haben. Arens gilt als Netanjahus Entdecker. Der frühere Verteidigungsminister hat das einzige Café in Savyon, an einer kleinen Mall als Treffpunkt ausgesucht. Die Bedienung stellt schon Stühle auf die Tische, denn Ahrens kommt spät. Braune Daunenjacke, schwarzes Hemd, eine randlose Brille, wie ein 89-Jähriger sieht er nicht aus.

    Moshe Arens (noch in seiner Position als Verteidigungsminister Israels)
    Moshe Arens (noch in seiner Position als Verteidigungsminister Israels) (AFP / Jack Guez)
    Wie alles begann? Arens berief Netanjahu 1982 überraschend zum Stellvertretenden Botschafter in Washington D.C.
    "Ich habe ihn zur Nummer zwei in der Botschaft in Washington ernannt. Ich dachte, er ist ein talentierter junger Mann, der die Aufgabe gut erfüllen kann. Und ich habe mich nicht getäuscht. Die Aufgabe eines Botschafters ist es, die Anliegen Israels zu verteidigen. Mit Menschen zu sprechen, sie zu überzeugen. Wenn Du nicht überzeugend bist, dann verschwendest Du Deine Zeit und Du verschwendest die Zeit der anderen."
    Es gibt Videoschnipsel im Internet, die den jungen Netanjahu bei Debatten zeigen. Er nannte sich damals noch Ben Nitay - das war leichter auszusprechen. In den USA war er zu Hause, dort hatte er studiert. Seinen ersten Job gab ihm die Boston Consulting Group. Der Berufung an die israelische Botschaft war Jahre zuvor ein Treffen mit Arens in Israel vorausgegangen. In einem Sommer, wie sich Arens erinnert. Der Kontakt kam offenbar über Netanjahus Vater, den 2012 verstorbenen Professor Ben-Zion Netanjahu, zustande. Ein Falke und Hardliner, wie Arens selbst:
    "Nun, ich kannte den Vater gut und nun lernte ich den Sohn kennen. Und ich hatte den Eindruck, dass er ein talentierter junger Mann ist. Das sieht man doch, er ist ein guter Redner. Er weiß, wie man einen Fall vorbringt. Und er kam, um mir zu erzählen, was er in Boston macht. Und er erzählte mir von seinem Bruder, der damals Offizier in der israelischen Armee war. Ich hatte nie die Gelegenheit den Bruder zu treffen, denn er starb in Entebbe."
    Der Bruder, Jonathan Netanjahu, kam 1976 in Uganda ums Leben. Bei der Befreiung von über 100 Passagieren eines Air-France-Fluges aus der Gewalt palästinensischer und deutscher Terroristen. Jeder in Israel kennt diese Geschichte. Benjamin Netanjahus Herkunft und sein rhetorisches Talent, Menschen von seinen Themen zu überzeugen, haben seinen politischen Aufstieg gefördert. Aber reicht das noch aus, um eine weitere Wahl zu gewinnen?
    Beispiel Sozialpolitik: Am Fuß des Rothschild Boulevards in Tel Aviv stehen noch immer einige Protestzelte. Musik dröhnt aus schwarzen Boxen. Die Szene erinnert an die Sozialproteste in Israel. Dreieinhalb Jahre ist es her, dass Hunderttausende auf die Straße gingen. Sie verlangten damals soziale Gerechtigkeit.
    Eine Menschenmenge mit grünen Luftballons und israelischen Flaggen.
    Demonstranten in Tel Aviv fordern politische Veränderung. (picture alliance / dpa / Amit Sha'al)
    Bei der Wahl im Januar 2013 kam die Likud-Bewegung von Ministerpräsident Netanjahu noch auf Platz zwei in Tel Aviv. Geändert hat sich seit dem offenbar nichts. Doron ist 25 Jahre alt. Sie studiert Medizin.
    "Wenn Du hier Student bist und versuchst in den ersten Jahren durchzukommen, dann bist Du von Deinen Eltern abhängig. Das Geld, dass Du beim Jobben verdienst reicht für die Miete. Das reicht nicht mehr für den Supermarkt."
    Die sozialen Forderungen sind unverändert: Bezahlbare Wohnungen. Geld für Infrastruktur und Schulen. Und ein Einkommen, das bis zum Monatsende reicht.
    Regierungschef Netanjahu zeichnet ein anderes Bild. Er verweist auf die großen Zahlen: Regierung und Zentralbank heben gerade ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum an - auf 3,5 Prozent. Der Staat rechnet mit mehr Steuereinnahmen. Stabilität trotz weltweiter Krise. Welches Bild stimmt?
    "Der Eisberg kann das Schiff versenken"
    Der Wirtschaftswissenschaftler Dan Ben-David wohnt in Kochav Yair, einer Kleinstadt mit Schranken an der Einfahrt und sauberen Wegen. Gebaut exakt entlang der sogenannten Grünen Linie, also der Waffenstillstandslinie von 1967, der Grenze zum palästinensischen Westjordanland. Es ist erstaunlich, wie genau Trennlinien im Nahen Osten eingehalten werden können. Die Mehrheit der Bewohner von Kochav Yair wählt die Arbeitspartei oder Yesh Atid – das sagen die Zahlen der letzten Abstimmung. Aber der Professor der Tel Aviv Universität Ben-David wirkt enttäuscht: Keine Partei spreche im Wahlkampf die kommenden Probleme des Staates Israel an, so sein Fazit:
    "Vor uns liegen schwierige Zeiten. Eine Art Eisberg. Wir sind auf dieser Titanic. Und wir sprechen über die Landschaft, das Wetter und stellen Stühle um – das ist alles, was bei den Wahlen passiert. Wir sehen vielleicht die Spitze des Eisbergs. Wir sprechen also über Wohnungen und Preise. Aber das ist eben nur die Spitze, der Eisberg kann das Schiff versenken."
    Ben David sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und spricht über strukturelle Probleme. Seine Kritik geht über die populäre Klage vom zu teuren Schokopudding hinaus. Ben-David ist weit von der Lagerfeuerromantik der Sozialproteste entfernt. 90 Prozent der Steuereinnahmen stammen schon heute von nur 20 Prozent der Bevölkerung, beklagt er. Viele ultra-orthodoxe Männer in Israel arbeiten gar nicht, es gibt Schwarzarbeit und viele Menschen verdienen schlicht zu wenig, um Abgaben zu zahlen. Nur durch bessere Bildung könne es in Zukunft noch gelingen, die unterschiedlichen Gruppen der israelischen Gesellschaft zu integrieren, so Ben-David. Aber im zurückliegenden PISA-Test erzielten jüdische, nicht-religiöse Schüler Ergebnisse unterhalb des Durchschnitts der wichtigsten OECD-Länder. Kinder aus religiösen Familien nehmen am Test nicht teil. Das staatliche Bildungsangebot für arabische Kindern liege teilweise unter dem Standard von Ländern wie Jordanien oder Tunesien, so der Wissenschaftler.
    "Das ist nicht nachhaltig. Wenn man überlegt, wessen Einkommen in Zukunft hoch genug sein wird, um Steuern zu zahlen, um das Land zu fördern. Ein Bildungssystem oder eine Infrastruktur wie in der Dritten Welt reichen nicht aus, um eine Wirtschaft der ersten Welt zu unterstützen. Ohne Spitzenwirtschaft können wir keine Spitzenarmee haben. Ohne eine gute Armee kein Israel."
    Bildung entscheidet über die Existenz des Staates Israel. Das ist das Bild das Ben-David mit drastischen Worten zeichnet. Warum nimmt sich Netanjahu dieser Probleme nicht an? Wenn er doch alles in seiner Macht stehende tun will, um die Zukunft des Volkes zu schützen?
    Eine mögliche Erklärung liegt in der israelischen Politik selbst: Ein echter Überblick über bestehende Ausgaben, eine Umverteilung und ein Festlegen von Standards kann potenzielle Koalitionspartner verschrecken. Und Netanjahu ist wie jeder israelische Premier zum Regieren auf viele Partner angewiesen. Ein historisches Thema wie Irans Atomprogramm dagegen bedeutet im Sinne des Machterhalts kein Risiko. Stattdessen gelingt es Netanjahu mit berechtigten Sorgen vor Irans Atomprogramm, Hisbollah, Hamas und IS die eigenen Reihen zu einen und seine Kritiker und Herausforderer als vermeintliche Verräter zu brandmarken. Seine Rhetorik spaltet die Gesellschaft.
    Echte Opposition entsteht in diesem Wahlkampf deshalb nur abseits der bekannten Linien. Ausgerechnet die Minderheit der arabischen Israelis könnte zur Kraft werden, deren Stärke oder Schwäche über Netanjahus Wiederwahl entscheidet. 20 Prozent der israelischen Bevölkerung gehören zu dieser Minderheit
    Netanjahu scheut die Presse
    "Mein Heimatland, mein Heimatland", singen 200 Gäste auf einer Wahlkampfveranstaltung in Haifa. Es ist die Hymne Palästinas. In Haifa, der arabisch-jüdischen Stadt im Norden Israels, war der Likud mit über 26 Prozent vor zwei Jahren stärkste Kraft geworden. Wohl auch weil viele arabische Israelis nicht zur Wahl gegangen waren

    Ayman Odeh, der Spitzenkandidat der Vereinten Liste
    Ayman Odeh, der Spitzenkandidat der Vereinten Liste, ist ein israelisch-arabischer Politiker. (AFP / Ahmad Gharabli)
    Ayman Odeh, der Spitzenkandidat der Vereinten Liste, wirbt in einer Rede um Stimmen. Seine Vereinte Liste ist etwas Besonderes bei dieser Wahl: Zum ersten Mal treten kleine arabische Parteien und die Mitglieder der Hadash-Partei gemeinsam an, sagt der Anwalt des Bündnisses, Hassan Jabareen:
    "Das ist die erste Liste in der Geschichte des Nahen Ostens, die Islamisten, Kommunisten, National-Liberale, Säkulare, Feministinnen, Frauen und Männer umfasst. Das wichtigste Ziel ist es, die Rückkehr der rassistischen Parteien und der Regierung Netanjahu zu verhindern."
    Am Ende seiner Rede bekommt Spitzenkandidat Ayman Odeh in dem Saal in Haifa viel Applaus. Tatsächlich könnte das Wahlbündnis der arabischen Parteien und Kommunisten trotz aller Widerstände in der israelischen Gesellschaft zur drittstärksten Kraft im Parlament aufsteigen. Dafür hat Watan Alqasim die Nacht durchgearbeitet. In seiner kleinen Werbeagentur in Haifas German Colony öffnet er die Facebook-Seite der Vereinten Liste auf einem Bildschirm. Er betreut diesen Auftritt, hat die Wahlwerbung gedreht. Im Moment gehe es vor allem darum, arabische Israelis davon abzubringen, die Wahl zu boykottieren wie vor zwei Jahren, sagt der junge Werber:
    "Wir glauben daran: Wenn unsere Leute wählen gehen, dann stimmen 80 bis 85 Prozent für die Vereinte Liste. Wichtig ist es deshalb, sie an die Wahlurne zu bringen. Damit wir 14 oder 15 Abgeordnete stellen."
    Nicht allen palästinensischen Israelis fällt es leicht, diesem Bündnis ihre Stimme zu geben. Vor allem christliche Araber fragen, was sie mit den Islamisten, einer Partei namens Ra'am, gemeinsam haben. Die Hoffnung auf Veränderung scheint die Zweifel aber zu übertreffen. Das wird beim Besuch in Haifa ganz deutlich.
    In Jerusalem absolviert Regierungschef Netanjahu einen seiner wenigen öffentlich Wahlkampfauftritte. Journalisten sind dazu nicht eingeladen. Netanjahu mag sie nicht. Der Chefredakteur des israelischen Radiosenders Reshet Bet Yoav Krakowski mokiert sich über den eigenartigen Wahlkampf
    "Ministerpräsident Netanjahu führt einen Wahlkampf unterhalb des Radarschirms der Presse. Schon seit langer Zeit, aber jetzt erreichen wir neue Höhen. Am Samstag eine Diskussion in einem Privathaus in Holon – die Presse ist nicht eingeladen. Am Sonntag eine Versammlung mit Frauen des Likud in Tel Aviv – keine Presse. Gestern ein Gang über den Markt in Jerusalem. Die Presse ist nicht eingeladen."
    Entrückt, selbst wenn er Kaffee trinkt
    Allerdings stimmt das nicht ganz: Netanjahu pflegt ein enges Verhältnis zur kostenlosen Tageszeitung "Israel Heute", die der US-Milliardär Sheldon Adelson finanziert. Der Mann, der mit 100 Millionen US-Dollar die Wiederwahl von Präsident Obama verhindern wollte. Neben Talent und Herkunft ist er eine der größten Stützen für Benjamin Netanjahu in Israel.
    Schließlich tauchen doch Bilder vom Markt auf. Netanjahu geht durch die Gassen, entlang der Stände – dicht umringt von Leibwächtern.
    "Ich freue mich, dass wir durch unsere entschiedene Politik Jerusalem die Sicherheit zurückgegeben haben. Dieser Markt wurde wieder zu einem Anziehungspunkt für unendlich viele Bürger, die ihn besuchen, so wie wir, mit Liebe und mit Freude."
    Dann ruft Netanjahu noch, man solle Likud wählen. Eigentlich ein einfacher Termin. Viele der Händler sagen, Likud fließe in ihren Adern. Sprich, in der Familie habe man schon immer so gewählt. Aber Netanjahu wirkt auf sie entrückt, selbst wenn er Kaffee trinkt:
    "Plötzlich sind Bibi und die Abgeordnete Miri Regev hier reingekommen. Er hat Cappuccino bestellt und mit einem 100-Schekel-Schein bezahlt. Da habe ich ganz bewusst 87 Schekel in Münzen rausgegeben. Denn während er jeden Tag über die iranische Bedrohung spricht, müssen wir Selbstständigen mit ein bisschen Kleingeld auskommen."
    Es könnte eng werden für Netanjahu bei dieser Wahl. Das Land wirkt zerrissen. Gespalten in zwei Lager. Wie hältst Du es mit Netanjahu, lässt streng genommen nur zwei Antworten zu. Das wird auch deutlich bei der Frage, warum in Israel überhaupt vorzeitig ein Parlament gewählt werden muss. Die Anhänger der Regierung sagen, weil einzelne Koalitionspartner ein Gesetz über den jüdischen Charakter des Landes verhindert haben. Oder: Weil die Regierung keinen Haushalt mehr verabschieden konnte. Die Gegner und Kritiker des Ministerpräsidenten sagten etwas anderes: Es gehe Benjamin Netanjahu mit der Abstimmung allein um eine weitere Bestätigung seiner Macht.