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Wahnsinn ist schuldlos

Der Roman von Ugo Riccarelli erzählt das Erwachsenwerden des Pflegers Beniamino: In einer Irrenanstalt in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Krieges in einer toskanischen Kleinstadt.

Von Aureliana Sorrento | 22.07.2013
    Jedes Mal, wenn ein Vogelschwarm am Himmel auffliegt, fixiert Fosco die Vögel und schwirrt, ihre Bewegungen nachahmend, mit ausgebreiteten Armen durch den Hof. Der Professor Cavani trägt ständig Homers Verse vor, während Giovanni in die Irrenanstalt eingesperrt wurde, weil er so inbrünstig an Gott glaubt, dass er dauernd mit ihm Gespräche führt. Irre bewohnen die "Residenz des Doktor Rattazzi" und sie weisen alle ein besonderes Merkmal, ein charakteristisches Verhalten auf, das bei jedem ihrer Auftritte erwähnt wird, wie die Epitheta, die besonderen Attribute, die den Göttern und Helden in Homers Epen beigegeben sind. In der Tat scheinen Riccarellis Verrückte in ihrer Fantasiewelt von den anderen Erdbewohnern ebenso weit entfernt wie die Götter im Olymp. Vielleicht geht deshalb eine unheimliche Faszination von ihnen aus. Der Pfleger Beniamino spürte sie schon als Kind, als er durch die Lücke in der Mauer, die die Irrenanstalt vom Garten seines Elternhauses trennte, das enthemmte Treiben dieser Menschen im Hof beobachtete.

    Ein Aufeinanderprallen plumper Körper, eine Kakophonie aus Tönen, die gleichwohl in ihrem aberwitzigen Zusammenklang ihre eigene Vernunft und eine Art Würde zu besitzen schien. Fast eine Art Schönheit.

    Es hat sogar den Anschein, als wären die Gesunden im Roman - wie der Pfleger Beniamino - manchmal versucht, selbst in die Fluten des Wahns zu steigen, sich seinen Strudeln hinzugeben, um die Last der Wirklichkeit abzuladen, Verantwortung und Schuld. Denn der Wahnsinn ist schuldlos - anders als der Krieg, der in diesem Buch den Gegenpol zum leidvollen, doch friedlichen Kosmos der Irrenanstalt darstellt.

    "Die Residenz des Doktor Rattazzi" spielt in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg und während des Krieges in einer toskanischen Kleinstadt. Obwohl in der dritten Person wird der Roman aus der Sicht des Pflegers Beniamino erzählt.

    Beniamino muss seine Familie ernähren
    Zunächst ist Beniamino ein Medizinstudent am Ende seines Studiums. Sein Examen musste er aber aufschieben, weil ihm ein Gegenspieler bei einem Fußballspiel ein Bein gebrochen hat. Dann ist plötzlich sein Vater Ignazio gestorben, und Beniamino kam die Aufgabe zu, für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen. Deshalb hat er einen Job als Aufseher in der Irrenanstalt angenommen.

    Ugo Riccarelli hat seinem Roman die Form eines Entwicklungsromans gegeben. Leider. Denn Beniamino, um dessen Erwachsenwerden es da geht, ist von Anfang an ein ziemlich reifer, sogar weiser Junge. Da wir aber zusehen sollten, wie er sich zum Mann mausert, hat der Autor seine Erlebnisse in der Irrenanstalt mit der Bedeutung einer Entwicklungsmarke aufgeladen, seine Begegnungen mit den Irren zu Momenten schicksalhafter, tiefer Ergriffenheit hochstilisiert.

    Und dank einer jener geheimnisvollen Symmetrien, die manchmal ohne ersichtlichen Grund das Leben der Dinge und Menschen miteinander verbinden, blieben Foscos umherirrende Blicke an Beniaminos Augen hängen, hefteten sich auf sie und gelangten in sein Inneres, wo sie sich an die Angst klammerten, die sie dort vielleicht entdeckten.

    Vermutlich geht es Riccarelli darum, das emotionale Aufblühen seines Helden zu beschreiben, der sich ansonsten, kognitiv und charakterlich, nicht von der Stelle bewegt. Das verleitet den Autor aber dazu, jedes Geschehen mit Innerlichkeit zu überfrachten. Und die meisten anderen Figuren in weite Ferne zu rücken.

    Ein Trupp Partisanen stört das Idyll
    Überhaupt bleiben fast alle Figuren dieses Romans konturlos. Eine Ausnahme bildet Professor Rattazzi, ein Arzt, der neu ist in der Anstalt und von seinen Kollegen ausgegrenzt wird. Denn anders als sie will er die Geisteskranken heilen und sucht einen Zugang zu ihnen - bisweilen durch empathische Gesten, die nicht minder verschroben wirken als die Gebärden der Irren. Weil sie eine ähnliche Haltung gegenüber den Geisteskranken an den Tag legen, werden der Professor und Beniamino schnell zu Freunden. So gehört Beniamino mit seiner Familie selbstverständlich zur Gruppe, die der Arzt aufs Land mitnimmt, als die Bombardements der Irrenanstalt gefährlich nahe rücken. Arzt, Patienten und Pfleger ziehen in eine Villa ein, in der eine Weile paradiesische Ruhe herrscht. Erst als ein Trupp Partisanen auftaucht, wird das Idyll gestört. Dann rücken Faschisten und Deutsche ein. Ein deutscher Hauptmann, von eugenischem Furor getrieben, lässt alle Kranken an die Wand stellen und erschießt einen von ihnen.

    Die Einsicht, dass die vermeintlich gesunden Kriegstreiber in Wahrheit verrückter sind als die Irren, würde sich allein aus der Erzählung dieser Begebenheiten ergeben. Aber Riccarelli fühlt sich bemüßigt, uns den Sinn der Ereignisse auf hohem Kothurn weit und breit zu erklären.

    Und in dieser kurzen Zeitspanne, bevor die Tropfen auf dem Kies explodierten wie die Bomben, die vom Himmel fielen, erkannte Rattazzi, dass der wirkliche Wahnsinn niemals besiegt werden würde, denn er war das innerste Wesen der Normalität, die gerade auf sie zukam. Er war die Männer mit den Soldatenuniformen und den gebrüllten Befehlen, die Schreie derjenigen, die auf jeden Fall sterben würden, sei es für die Freiheit oder für den Führer, während Fosco und Rattazzi friedlich in den Himmel schauten.

    Schade eigentlich. Manchmal blitzt in diesem Roman Poesie auf. Poetisch ist in ihrer Metaphorik auch Riccarellis Sprache. Seine Weitschweifigkeit und Pathos sind aber schier unerträglich.

    Ugo Riccarelli: "Die Residenz des Doktor Rattazzi". Erschienen bei Zsolnay, 192 Seiten, 18,90 Euro.


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