Dienstag, 19. März 2024

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Wahre Geschichte und Erinnerungen
Der Patient H.M.

Die Gehirnforschung ist faszinierend, doch häufig ist unklar, ob die Wissenschaft Menschen als Versuchskaninchen missbraucht. Lukas Dittrich berichtet aus dem Leben seines Großvaters, dem Neurochirurgen William Scovill. Er entfernte einem Epilepsie-Patienten große Teile des Gehirns, was zu großen Folgeschäden führte.

Von Michael Lange | 09.12.2018
    Buchcover "Der Patient H.M." , Gehirn
    Chirurg Scoville wollte mit der Entnahme von zwei Dritteln des Hippocampus die Epilepsie heilen (Herbig Verlag)
    An einem Tag im Sommer 1953 ändert sich für Henry G. Molaison alles. Der 27-jährige Epilepsie-Patient ist von einem Moment zum nächsten ein völlig anderer Mensch. Verantwortlich dafür ist eine waghalsige Operation. Der Neurochirurg William Scoville entfernt dem jungen Mann große Teile seines Gehirns.
    Immer wieder größere Hirnteile entfernt
    Nach der Operation leidet Molaison bis zu seinem Tod 2008 an Gedächtnisverlust. Er kann kaum neue Erinnerungen aufnehmen und wird als Patient H.M. zum begehrten Versuchskaninchen für Generationen von Neuropsychologen. Der Wissenschaftsjournalist Luke Dittrich bezeichnet ihn als das am intensivsten untersuchte Forschungsobjekt aller Zeiten. Der Buchautor ist der Enkel des damaligen Starchirurgen William Scoville. Er will wissen, was seinen Großvater antrieb, als er bei seinen Patienten immer wieder größere Teile des Gehirns entfernte.
    Menschen als Versuchskaninchen
    Dittrich berichtet aus dem Leben seines Großvaters als Wissenschaftler und Privatmann und gibt faszinierende Einblicke in die Geschichte der Gehirnforschung. In vielen Beispielen vom antiken Ägypten bis zu skrupellosen NS-Medizinern stellt er die Pioniere der Wissenschaft ihren Patienten gegenüber. Oft ist unklar: Handelt es sich um akzeptable Heilversuche oder werden Menschen als Versuchskaninchen missbraucht? Nicht selten werden bis heute größere Risiken in Kauf genommen, wenn es dem wissenschaftlichen Fortschritt dient.
    Was manche als Mut von Pionieren bezeichnen, offenbart nicht selten einen Mangel an Verantwortung. Dabei zeigt sich immer wieder: Draufgänger haben in der Medizin nichts verloren.
    Luke Dittrich: Der Patient H.M.
    Eine wahre Geschichte von Erinnerung und Wahnsinn
    Aus dem Amerikanischen von Pascale Mayer
    Herbig-Verlag, 464 Seiten, 24,00 Euro