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Wahrheit kontraproduktiv zur Wirklichkeit

Der in Wien lebende Dichter Peter Waterhouse übersetzt seit Jahren seinen britischen Kollegen, den Lyriker Michael Hamburger, ins Deutsche. In dem neunten Band "Die Nicht-Anschauung" summiert er seine Erfahrungen mit dem dichterischen Werk Hamburgers. So entsteht auch eine Poetik von Waterhouse selbst, die sich mit dem Begriff Wahrheit beschäftigt.

Von Cornelia Jentzsch | 29.08.2005
    "INDIVISIBLE
    Do the dead know nothing, remember nothing?
    The eyes of my dead meet mine
    Or , merged in them, look at the oak I planted,
    Grown taller than I, and look
    Into the living eyes
    That were my children’s but now
    Into their children’s look, seiing themselves
    Or, beyond themselves,
    Features, lines no horizon frames."

    "UNTRENNBAR
    Wissen Tote nichts, erinnern sie nichts?
    Die Augen meiner Toten finden meine
    Oder, in sie gemischt, sehen die Eiche, die ich pflanzte,
    Mich überragt, und sehen
    In die lebendigen Augen
    Die meinen Kindern gehörten, die jetzt
    Die der eigenen sehen, sich darin sehen
    Oder hinaus über sich,
    Zeichnungen, Linien, die kein Horizont rahmt.
    Wenn auch mit sterbenden Augen ich sehe
    Den Garten, der mir entwächst,
    Die Zimmer voller unfertiger Dinge,
    Verworfener, halbverdorbener Dinge,
    Muß ich sie lieben, meine Zöglinge aus Atem, Gewebe und Blut,
    Wachstum, das nicht mir gilt, eines Sämlings, und Wuchs, der ruht..."

    Die ersten Gedichte von Michael Hamburger, übersetzt von Peter Waterhouse, erschienen 1994 im österreichischen Folio Verlag. Sechs weitere Bände mit Lyrik, ebenfalls von Waterhouse übersetzt, folgten. Dazu kommt ein Band mit dem Titel "Wahrheit und Poesie", in dem Hamburger die moderne Poesie in Essays kommentiert. Waterhouse, selbst Dichter, hat in diesen zehn Jahren nicht nur die Lyrik des Engländers deutscher Herkunft übersetzt, sondern sie auch in verdeutlichende Zusammenhänge von "Baumgedichte", "Traumgedichte" oder "Todesgedichte" gebracht. Abgerundet wird die Werkausgabe jetzt mit einem neunten Band, worin Waterhouse seine Erfahrungen mit dem dichterischen Werk Michael Hamburgers summiert. Er schreibt darin über Hamburgers Poesie und über seine eigene übersetzerische Tätigkeit. Nebenbei entsteht so auch eine Poetik des in Wien lebenden Dichters Peter Waterhouse.

    Im Titel des jüngsten Bandes, "Die Nicht-Anschauung", mag vielleicht die Negation irritieren, sie erklärt sich aber schnell aus dem Inhalt. Waterhouse beschäftigt sich vor allem mit einer besonderen Art des Sehens, das für Hamburgers Gedichte grundlegend ist. Waterhouse beschreibt es als "eine Art von vergessendem Sehen, das seine Freude nicht wie Humboldt aus dem Erkennen und Wissen erfährt, sondern im Nichterkennen die Dinge sein läßt, fast amorph". Namen und Worte schweben erst im Vergessen leicht und schwerelos heran. Bleiern ist dagegen der Ballon der Erinnerung, weil er fest an den Ballast einzelner Fakten, Daten, Bilder und Geschehnisse geknüpft ist. Nicht nur auf das private Gedächtnis einer einzelnen Person bezieht sich hier das in die Vergangenheit Schweifende, sondern es verweist auf den historischen Hergang von Kultur und Sprache.

    Erst das Vergessen ermöglicht die Rückkehr zu einem Ort, an dem alle Dinge noch paritätisch "Nicht-Vorhanden" sind, sich also im gleichen Zustand befinden. Hier überdeckt nicht eins das andere, sondern es herrscht eine Art Urdemokratie. Nur hier wird der Dichter fündig. Erinnerung zeugt eher von einen Mangel.

    In diesem Zusammenhang wird auch der Titel verständlich. Es gibt in den Gedichten von Hamburger keinen Moment der Anschauung. Kein wie auch immer vom Menschen katalogisiertes, bewertetes, in einzelne Worte geschiedenes Sehen. Es gibt nur ein "Schauen ins Unklassifizierte, Ungeschiedene, Unbekannte. Schauen wie ohne Begriff, ohne Vorbild." Dieses Sehen enthierarchisiert und läßt die Dinge in einer tatsächlichen - und fast möchte man sagen: humanen - Gleichheit agieren, die der Mensch nicht kennt. Erst in dieser Ausgewogenheit entsteht die eigentliche Bewegung, beginnt ein ungehemmter Fluß und ein permanenter, weil unblockierter Austausch.

    Die Welt ähnelt, so beschreibt es Waterhouse, einem langsamen, unentwegt ablaufenden Traum. Sie befindet sich in einem sogenannten "Vorzustand" oder "Vorgebiet", noch unterhalb oder außerhalb von Sprache. Die Gußform des Wortes liegt unfertig im Rohzustand, da noch nichts eindeutig getrennt, herausgehoben und fixiert, das heißt festgelegt werden kann. Das Sehen und das daraus folgende Dichten sind eine Ahnung von etwas noch nicht klar Aufgetauchtem. Peter Waterhouse beschreibt dieses im Ungefähren Liegende auch als Nicht-Ereignis.

    "Wobei ich als einer dieser Übersetzer mich besonders beschäftige mit jenen Nichtereignissen, die im Gedicht selber, die das Gedicht selber ausmachen. Weniger mit den Nichtereignissen, von denen das Gedicht spricht. Ich glaube es gibt noch ein anderes System von Nichtereignissen, die, vielleicht könnte man sagen, akustischer Natur sind. Es sind klangliche Phänomene, die vielleicht so gering sind, das sie gar nicht Ereignischarakter erhalten, oder der Aufmerksamkeit zum Teil verloren gehen oder anders gesagt, unterschwellig aktiv sind."
    "Ja, so kommt es zu den Nicht-Ereignissen, also indem man sie eben nicht denkt. Sie kommen anders, sie kommen anders daher. Und müssen eigentlich "anaware" bleiben, oder auch Unwahr. Und auf dieses Reservoir der akustischen Kleinigkeiten und Nichtereignisse schaue ich als Übersetzer. ... So daß ich insgesamt immer mehr vermute, daß Gedichte eigentlich eines der wenigen Nachrichtensysteme noch ist, die wir haben. Das glaube ich sehr, und das ist nicht nur eine Invektive gegen Zeitungen, generell, sondern überhaupt gegen Prosasätze. Die scheinen mir, obwohl eigentlich immer mehr Prosa publiziert wird, wird es immer unsicherer, ob die noch irgendetwas sagen. Während Gedichte fortwährend, durch ihre akustische Redlichkeit, oder, ja Redlichkeit, sich selbst überprüfen, ob sie noch in einer Verbindung stehen zur Wirklichkeit."

    Nun könnte man meinen, dass ein an das Vergessen gebundene Sehen nur ein passiver Vorgang sein kann. Doch Waterhouse setzt es einer aktiven Handlung gleich. Solcherart sehen kann man nur, wenn man fortwährend loslässt, entbindet. Als müsste man einen Keller voller Begriffe, Bilder, Zusammenhänge, Verkettungen und Wertungen entrümpeln, müßte den verinnerlichten Staudamm beiseite schieben, der den ungehinderten Fluss, der außen fließt, im Inneren stoppt und nicht widerspiegeln kann.

    Mit diesem enthemmten Wahrnehmen verändert sich schließlich auch die Sprache. Sie wird ebenfalls wandelbarer, fließender und biegsamer. Die haarfeinen Übergänge und Veränderungen, die das Sprechen in ein poetisches Sprechen übergleiten lässt, bemerkt ein Übersetzer durch seine Arbeit am einzelnen Wort natürlich besonders. Zumal wenn es noch jemand ist, der eine ähnliche bilinguale Biographie zwischen englischer und deutscher Sprache wie der Autor selbst aufweist und damit ebenso prädestiniert für Zwischenräume und Zwischenklänge ist. So macht Waterhouse Nuancen im Denken Hamburgers sichtbar, wenn er mit dem Wort Sehen nicht das Wort Beobachten, sondern das Wort Achtgeben assoziiert, das statt des Bewachens etwas Gebendes, vielleicht auch Fürsorgliches anspricht.

    Hinterfragt wird in Waterhouses Analyse nicht zuletzt auch einer der Schlüsselbegriffe der Zivilisation: die Wahrheit. Sie wird in diesem poetischen Kontext kontraproduktiv zur Wirklichkeit gesetzt, ja sie ist "geradezu die Blockade vor der Wirklichkeit". Denn die Wahrheit ist, wie das Sehen, vorherbestimmt. Sie unterliegt einem moralischen Impetus, der sich als Maß verschieden reguliert. Nur so lässt sich begreifen, warum die Sprache eines Adolf Eichmann, wie Waterhouse schreibt, "eine unübersetzbare Sprache, eine Sprache der Identität" ist, die "nicht an die Realität rühren und keine Verbindung zum anderen aufnehmen kann". Nur so wird vorstellbar, warum ein Mörder "mit Worten unerreichbar in seinem Wortgefängnis" bleibt, wie Michael Hamburger in seinem Gedicht "In einer kalten Jahreszeit" schreibt.

    Hamburgers Großmutter wurde in einem deutschen Konzentrationslager umgebracht. Die Familie, die 1933 nach England emigriert war, erfuhr bis heute nicht die genauen Todesumstände und den Sterbeort.

    Peter Waterhouse: Die Nicht-Anschauung. Versuche über die Dichtung von Michael Hamburger.
    Folio Verlag