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Wahrheitssucher auf Abwegen (1)

Ptolemäus hat die Daten für sein Weltbild abgekupfert, Galilei Experimente vorgetäuscht und Newton sein Gravitationsgesetz geklaut – Mogler, Fälscher und Betrüger in den hehren Hallen der Wissenschaft gab es auch früher schon. Die Liste lässt sich nahtlos um einige Nobelpreisträger ergänzen und reicht bis in die Forschungslandschaft der Jetztzeit.

Von Bernd Schuh | 31.12.2003
    Fälschen ist menschlich, könnte man sagen, und die Motive sind universell: Geltungssucht, Machtstreben, Arroganz; und zuweilen auch der Drang zum Weltverbessern, bis hin zur Selbsttäuschung. Der jüngste Fall: ein Physiker, der mit zig gefälschten Arbeiten berühmt wird, enttarnt und entehrt wird, aber dennoch fest von der Richtigkeit seiner getürkten Ergebnisse überzeugt ist – Wissenschaftsbetrug anno 2002.

    Betrügen war schon immer eine Kunst.

    Da stehen sowohl Galilei als auch Newton in dem Ruf, Experimente soweit retuschiert zu haben, dass sie eine Genauigkeit vortäuschen, die sie mit den damaligen experimentellen Methoden niemals hätten erreichen können.

    Betrügen war schon immer eine Kunst. Seit einiger Zeit ist es auch eine Wissenschaft. Es handelt sich um eine junge Disziplin, die zwar keinen Lehrstoff abgibt, die aber mittlerweile zur festen Ausrüstung professioneller Wissenschaftler gehört.

    Wo Tabellen gefälscht worden sind, wo Laborbedingungen künstlich hergestellt worden sind, Man könnte eine ganze Kette von solchen modernen Fällen des Betruges zusammenstellen, im Grunde genommen sind die Zeitungen ja in jeder Woche voll davon.

    Fälscherlitanei:

    Guido Zadel erfindet ein Kapitel seiner Doktorarbeit.
    Isaac Newton passt Parameter an Experimente an.
    Wolfgang Lohmann erfindet einfachen Nachweis für Hautkrebs.
    Gerhard Triebig vertauscht Blutproben.
    Claudius Ptolemäus schreibt Sternenkatalog ab.
    Meinolf Görtzen entwendet Fotos aus anderen Arbeiten.
    Friedhelm Herrmann retouschiert Abbildungen und fälscht Daten.
    Gregor Mendel trimmt Versuchsreihen.
    Marion Brach unterstützt geltungssüchtigen Fälscher.
    Galileo Galilei erfindet nicht gemachte Experimente.
    Mathias Berger unterschlägt Selbstmorde als Folge seiner Schlaftherapie
    Roland Mertelsmann ist mitverantwortlich für gefälschte Arbeiten.
    Albert Einstein unterschlägt Versuchsergebnisse.
    Lothar Kanz publiziert "nicht nachvollziehbare Ungereimtheiten".
    Julius Wagner-Jauregg impft tödliche Krankheit.
    Werner Bezwoda fälscht Daten zu Brustkrebstherapie.
    Peter Seeburg lügt in Fachartikel, um Patent zu schützen.
    Robert Millikan unterschlägt unpassende Versuchsergebnisse und lügt in Fachartikeln.
    Jan Dirk Schön beschreibt nie erzielte Resultate.
    Robert Koch verkauft unwirksames Impfserum.
    Heinz Breer manipuliert Daten.
    Johannes Noé retouschiert Abbildungen.

    Der Liedermacher und Mathematiker Tom Lehrer hat in den 1950er Jahren eine kleine satirische Anleitung für Schwindler und Hochstapler in der Wissenschaft verfasst.

    Ideen Klauen, Arbeiten abschreiben, Bücher von andern kopieren; und was immer man tut – es als Wissenschaft ausgeben und kräftig angeben. Lehrers Lied liest sich wie der Leitfaden des Wissenschaftsbetrügers Elias Alsabti.

    Der Iraker arbeitete in den 1970er Jahren an verschiedenen amerikanischen Forschungseinrichtungen für Medizin. Innerhalb von drei Jahren brachte er 60 wissenschaftliche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften unter.

    Sein Publikationsverzeichnis kam ein bisschen so zustande wie in dem schönen historischen Lied von Tom Lehrer über den Ideenklau in der Forschungsförderung, das dann mit den Worten endet "every chapter I stole from somewhere else. Index I copied from old Wladiwostok telefon directory. This book was sensational."

    Alsabti kopierte zwar keine Seiten aus dem Telefonbuch, aber seine Zitatenlisten waren ähnlich willkürlich und nichts sagend. Was niemand bemerkte.

    Er publizierte an mehr oder weniger selten gelesenen Orten erschienene Arbeiten von anderen, umgebaut, übersetzt, mit Fülltext, teilweise mit neuen Bildern versehen, und dann versuchte er, sie in reputierlichen Journalen wieder unterzubringen, und das ist ihm in einem erstaunlichen Maße gelungen.

    Christoph Schneider leitet bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Abteilung "Forschungsförderung". Damit daraus keine Fälschungsförderung wird, muss Schneider gelegentlich Experten benennen, die Betrugsvorwürfe untersuchen. Damit sich Fälle wie die von Alsabti nicht wiederholen.

    Schon in seinem Heimatland hatte er sich vom Medizinstudenten zum bedeutenden Krebsforscher hochgeschwindelt. Dass er sich als Angehöriger des jordanischen Königshauses ausgab, verhalf ihm zu großzügigen Stipendien der jordanischen Regierung, mit denen er dann als Gastforscher in die Staaten zog.

    Seine Publikationen klaute er nicht nur aus weniger bekannten Zeitschriften, sondern auch aus Forschungsanträgen seiner Chefs. Zwar fiel er immer wieder durch bodenlose Unkenntnis auf, aber mehrmals gelang es ihm, dem endgültigen Aus seiner zweifelhaften Karriere durch einen Institutswechsel zuvor zu kommen.

    Herr Alsabti war eine besondere Form von Wissenschaftsbetrüger, insofern als er ein klassischer Hochstapler war, der nur zufällig ein Universitätsstudium hinter sich gebracht hatte, der hätte also genauso gut, eine romanhafte Figur wie er war, auf jedem anderen Gebiet sich betätigen können, wenn er sich das zu eigen gemacht hätte. Er war einfach genial.

    Genialität schützt nicht vor Unehrlichkeit oder Unehrenhaftem Handeln, und die Frage ist: wie kann sich die Gesellschaft, insbesondere die wissenschaftliche, vor derlei Genie schützen. Klar ist: Hätte die wissenschaftliche Selbstkontrolle, hätte das Gutachtersystem der Fachzeitschriften funktioniert, wäre Alsabti niemals mit seinen dreisten Plagiaten durchgekommen. Aber offenbar haben die Gutachter unbedeutender Zeitschriften anderes und in ihren Augen sicher Besseres zu tun als Manuskripte auf Ideen- oder noch dreister Textklau zu überprüfen. Ein bezeichnendes Licht auf die Veröffentlichungspraxis mancher Magazine wirft folgendes Zitat eines Herausgebers:

    Wir ziehen niemals eine Arbeit zurück. Das ist einfach nicht üblich.

    Der Ausspruch war die Antwort auf die Bitte um Richtigstellung desjenigen amerikanischen Wissenschaftlers, dessen Forschungsanträge Alsabti zu Veröffentlichungen in diesem Magazin umgearbeitet hatte. Erst als der Fall des Hochstaplers weitere Kreise zog, ließen sich Herausgeber betroffener Zeitschriften herab, Alsabti-Artikel zurückzuziehen.

    Leichtes Spiel haben falsche oder fälschende Forscher nicht zuletzt auch dank der wissenschaftlichen Informationsflut.

    Nicht weniger als 60.000 Fachzeitschriften gibt es als Publikationsorgane der Naturwissenschaften und Medizin. Der weltweite Ausstoß an Fachpublikationen liegt bei etwa 20.000 Arbeiten. Pro Tag.

    Nur ein Bruchteil der Zeitschriften genießt das ungeteilte Ansehen der Fachwelt und dient der Weitergabe wirklich neuer Resultate. Viele Arbeiten in vielen wenig gelesenen Zeitschriften haben nur den einen Zweck: die Vita des Autors aufzupolieren. Sieht die Veröffentlichungsliste nur umfangreich genug aus, fragt so schnell niemand mehr nach ihrer Qualität. So werden Pluspunkte für die Karriere gesammelt. Ein gewichtiges Motiv für ansonsten ehrliche Forscher, das Veröffentlichungsethos großzügig auszulegen.

    Leicht gemacht wird es skrupellosen Karrierejägern aber auch durch den harten Wettbewerb unter den Zeitschriften selbst, gerade auch unter den best angesehenen, wie "Nature" oder "Science". Der Konkurrenzdruck, möglichst früh mit den neusten Resultaten zu glänzen, hat eingestandenermaßen schon zur bewussten Lockerung der ansonsten strengen Kontrollen vor Annahme einer Arbeit geführt.

    Falsche oder gar gefälschte Resultate in den Spitzenzeitschriften kommen sogar besonders schnell auch in die Öffentlichkeit, denn Journalisten stützen sich bevorzugt und vertrauensvoll auf diese Vorzeigemagazine der wissenschaftlichen Gemeinde. Besonders fatal wirkt sich das in den Lebenswissenschaften aus. Jahrelang können Falschmeldungen kursieren, zum Beispiel über vorgebliche Fortschritte in der Krebsdiagnose oder in der Gentherapie, und auf diese Weise falsche Hoffnungen wecken.

    Einmal publiziert, sind die Dinge in der Welt. Auch gefälschte Ergebnisse, können zwar im nachhinein richtig gestellt werden von der Scientific Community, aber man kann ihre Publikation nicht ungeschehen machen. Das heißt sie stehen in der Welt und können damit auch Unheil anrichten.


    Fälscherlitanei:

    Julius Wagner-Jauregg impft tödliche Krankheit.
    Albert Einstein unterschlägt Versuchsergebnisse.
    Robert Millikan unterschlägt unpassende Versuchsergebnisse und lügt in Fachartikeln.
    Claudius Ptolemäus schreibt Sternenkatalog ab.
    Gregor Mendel trimmt Versuchsreihen.
    Robert Koch verkauft unwirksames Impfserum.
    Galileo Galilei erfindet nicht gemachte Experimente.
    Isaac Newton passt Parameter an Experimente an.

    Neu ist das Phänomen der Fälschung nicht. Warum sollte es auch? Wissenschaftler sind und waren schon immer auch Menschen. Warum sollte es unter ihnen weniger Betrüger geben als unter den andern? Nur weil sie ihrem Anspruch nach auf Wahrheitssuche sind? Vielleicht macht gerade das sie anfällig gegen die Versuchung, als bewiesene Wahrheit zu präsentieren, was sie für richtig halten, auch wenn sie es nicht beweisen können. Oder auch einmal die Wahrheit der Erfindung oder Verfälschung zu opfern, wenn es denn im Dienst der vermeintlich guten Sache steht.

    In der Geschichte gibt es Formen des Betruges, die sehr stark auch mit Selbstbetrug zusammen hängen.

    Der Wissenschaftshistoriker Wofgang Eckart hat sich auf betrügerische Mediziner spezialisiert.

    Eine Form dieses Betruges, die sogar mit einem Nobelpreis verbunden war, das war die Theorie von Wagner-Jauregg, einem österreichischen Mediziner am Anfang des Jahrhunderts, der gedacht hat, man könne die Spätfolgen der Syphilis, also die progressive Paralyse mit Fiebertherapie und vor allem durch die Injektion von Malariaplasmodien heilen. Wie sich dann herausgestellt hat, war das ein sehr starker Selbstbetrug, wenn nicht gar betrügerisches Vorgehen.

    Zehntausende, möglicherweise sogar hunderttausende von Syphilispatienten wurden der Impfung mit Malariaerregern unterzogen. Wahrscheinlich sind die meisten nicht an ihrer Grunderkrankung sondern an dem künstlichen Fieber der Wagner-Jauregg-Therapie gestorben. Der Psychiater erhielt den höchsten Wissenschaftspreis für diese Fehlbehandlung im Jahr 1927. Noch heute ist es nicht einfach, kritische Anmerkungen zu diesem Nobelpreis in der Literatur zu finden.
    Ein weiteres Beispiel, das hier anzuführen wäre, auch wenn eine große Persönlichkeit damit in Verbindung gebracht wird, das ist die vermeintliche Entdeckung eines Tuberkulose-Heilmittels durch Robert Koch. Robert Koch, der Entdecker des Tuberkelbazillus Anfang der 80er Jahre, hat geglaubt Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, er habe nun auch ein Medikament gegen die Tuberkulose gefunden, und hat dieses Medikament, das Tuberkulin, wie er es nannte, ohne valide klinische Prüfung sehr schnell publiziert. Das hat zu einem dramatischen Ansturm auf Tuberkulin geführt, die Information, dass Tuberkulose nun heilbar sei, ging auch damals schon innerhalb weniger Tage um die Welt, und die Patientenmassen sind nach Berlin geströmt, um sich heilen zu lassen.

    Schon wenige Monate später endete die Euphorie in einem Kater. Robert Kochs Tuberkulinkur tötete statt zu heilen. Und es war nicht nur sein fehlgeleitetes Sendungsbewusstsein, dem die Gutgläubigen zum Opfer fielen.

    Eckart Robert Koch wollte großes Geld damit machen, er wollte massiv in die Tuberkulinproduktion einsteigen, und hatte auch sehr persönliche Motivationen dabei, nämlich persönlichen Geldgewinn, das wäre ein Beispiel für einen ganz eklatanten Betrugsfall, der vielleicht mit einem Selbstbetrug begann, der letztlich aber in betrügerisches Handeln einmündetete; der aber den Namen dieses Mannes nicht zerstört hat.

    Robert Koch, zusammen mit Louis Pasteur eine der großen medizinischen Lichtgestalten des Jahrhunderts – ein schnöder, geldgieriger Betrüger? Auch das eine Sicht, die heute wenig eingenommen wird; dann doch lieber ihn als verblendeten Weltverbesserer sehen. Damals reagierte die wissenschaftliche Gemeinde mit Ablehnung und Verachtung, so dass Koch sich lieber von Berlin fernhielt und fortan in den deutschen Kolonien arbeitete.

    Auch von einigen ganz Großen in der Physik weiß man, dass sie aus Überzeugung oder Selbstüberschätzung einen eher laxen Umgang mit den ethischen Grundsätzen wissenschaftlichen Arbeitens pflegten.

    Der Sternenkatalog des ägyptischen Astronomen Claudius Ptolemäus – der vollständigste und genaueste, den die Antike hervorgebracht hat – beruht keineswegs wie behauptet auf eigenen Beobachtungen und Berechnungen, vielmehr ist er die Frucht fleißiger Kopierarbeit; die Fixsternpositionen stammen samt und sonders aus einem bereits 200 Jahre vor Ptolemäus von seinem griechischen Vorgänger Hipparchos zusammengestellten Himmelskatalog.

    Da stehen sowohl Galilei als auch Newton in dem Ruf, zugunsten einer hinterher vielfach bestätigten Theorie, die ihren ganzen Ruhm hinterher begründet hat, Experimente sei es fingiert, sei es im nachhinein retuschiert zu haben, dass sie eine Genauigkeit vortäuschen, die sie mit den damaligen experimentellen Methoden niemals hätten erreichen können.

    Galileo Galilei reformiert antike Vorstellungen von der Bewegung fester Körper, indem er behauptet, physikalische Prozesse liefen in Ruhe auf dieselbe Weise ab wie in gleichförmiger Bewegung. Er begründet diese damals revolutionäre Ansicht mit einem Experiment auf einem Schiff, das er jedoch niemals macht, weil er vom Ausgang des Experiments völlig überzeugt ist.

    Der große Sir Isaac Newton, berühmt für die Formulierung des Gravitationsgesetzes, hat dieses vermutlich von dem englischen Kollegen Robert Hooke "geklaut"; der war so dumm, es ihm mitzuteilen. Außerdem trimmt Newton verschiedentlich theoretische Berechnungen so hin, dass sie mit Messdaten anderer in Einklang stehen, zum Beispiel bei der Schallgeschwindigkeit und der Verschiebung der Tagundnachtgleichen.

    Auch das Jahrhundertgenie Albert Einstein unterschlägt experimentelle Daten. Bei Messungen zum Magnetismus von Eisen, die er zusammen mit seinem niederländischen Kollegen Johannes deHaas durchführt, ergeben sich zwei sehr verschiedene Messwerte; die beiden Koryphäen lassen den einen unter den Tisch fallen und erklären den anderen als richtig, weil er zu ihren eigenen Berechnungen passt. Später stellt sich ihre Theorie als unvollständig heraus, der unterschlagene Wert hätte eigentlich viel besser gepasst. Einstein hat sich nie zu dieser peinlichen Episode in seiner wissenschaftlichen Karriere geäußert.
    Auch andere Figuren, Gregor Mendel oder Robert Millikan, haben, wie ihnen später nachgewiesen worden ist, Unsauberkeiten im Experiment und seiner statistischer Auswertung in Kauf genommen, sind trotzdem sehr berühmt geworden.

    Der Augustinermönch Gregor Mendel ist heute berühmt als Begründer der Vererbungslehre, die er durch zahlreiche Kreuzungsversuche mit Erbsen im Klostergarten entwickelte. Er lässt ganze Versuchsreihen mit unklaren Ergebnissen unter den Tisch fallen, und rät seine Vererbungsregeln mehr als er sie ableitet. Doch das Glück ist ihm hold, die Regeln stimmen.

    1923 erhielt der amerikanische Wissenschaftler Robert Millikan den Physiknobelpreis für die exakte Bestimmung der elektrischen Elementarladung. Anhand seiner Notizbücher lässt sich später nachweisen, dass er zahlreiche Messungen für die Bestimmung dieses Wertes unterschlagen hat, weil sie ihm nicht in den Kram passen. Der Wert gilt aber heute als richtig. Millikan stirbt als Träger von 20 Ehrendoktorhüten und zahlreicher weiterer Preise.

    Die Liste ließe sich mit weiteren illustren und weniger illustren Namen fortsetzen. Das Spektrum der frühen Verfehlungen reicht vom puren Plagiat über dreiste Datenmanipulation bis zum frei erfundenen Experiment. Nun mag man den Geistesgrößen der Antike zugute halten, dass zu ihrer Zeit die Wissenschaft in unserem Sinn noch nicht existierte und man mithin die heute gültigen Maßstäbe für sauberes wissenschaftliches Arbeiten nicht anlegen könne. Für Männer wie Einstein oder Millikan gilt das definitiv nicht mehr. Sie setzten sich aus Überzeugung und vielleicht einer guten Portion Selbstüberschätzung über den Ehrenkodex der Wissenschaft hinweg. Auch Geltungssucht und schiere Rechthaberei spielten in der Vergangenheit eine große Rolle. Die Zeiten ändern sich zwar, die Motive werden allenfalls komplexer.

    In dem Maß, in dem Staat und Öffentlichkeit immer mehr Anteil nimmt an der Kontrolle der Geschwindigkeit und der Kontrolle der Validität wissenschaftlicher Forschung, nimmt auch leider die Neigung zu wissenschaftlichem Fehlverhalten zu. Bedenken Sie, wir leben in einer Zeit in der es Ressourcenknappheit gibt, in der gerade im Wissenschaftsbereich knapper werdende Gelder verteilt werden müssen, das führt zur Anforderung an den Wissenschaftler, immer schneller zu publizieren, immer sensationeller zu arbeiten, wissenschaftskonform sich zu verhalten, was dazu verleiten KANN, dass es zu Fehlleistungen kommt. Wir beobachten das in der Wissenschaftsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert, seit der öffentliche Druck auf die Wissenschaftler stärker wird, dass es zu vermehrtem Fehlverhalten kommt.

    Wie gesellschaftliche Erwartungen eine ganze Forschungsrichtung zu unvorsichtigem Vorwärtspreschen bewegen können, in dessen Verlauf die Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens auf der Strecke bleiben und am Ende die potenziellen Nutznießer dieser Forschung selbst, zeigt die Geschichte der Entdeckung des Blutkreislaufs.

    Der Blutkreislauf ist ja erst im 17. Jahrhundert – der "große" Blutkreislauf - von William Harvey entdeckt und publiziert worden. Es hat sehr lange gedauert, bis sich diese Lehre durchgesetzt hat. Man hat vorher geglaubt, dass das Blut in der Leber produziert wird, über die rechte Hohlvene in das rechte Herz gelangt, durch eine offene Scheidewand in die linke Herzkammer gelangt, da aufgeheizt wird und in den Körper ausgestrahlt wird und da verbrennt, in der Peripherie. Das hat Harvey falsifiziert, er hat gesagt das kann nicht sein, es gibt ein solches Loch in der Herzscheidewand nicht, das Blut kann auch nicht in so großer Menge von der Leber produziert werden, es muss also einen Blutkreislauf geben.

    Als dieser Blutkreislauf anerkannt war, das hat etwa 30, 40 Jahre gedauert, bis diese Akzeptanz hergestellt war, und das alte System, das über 2000 Jahre alt war, gestürzt worden war, da hat man auch gleichzeitig gewusst, dass man nun ein neues Mittel an der Hand hat, Medikamente über die Venen direkt an die Organe zu bringen. Weil sie ja nicht verloren gehen, weil sie ja nicht in der Peripherie verbrannt werden. Und man hat gleichzeitig gemeint, die Öffentlichkeit hat das ja auch gewollt, dass man das was am gefährlichsten war bei Verletzungen, nämlich den Blutverlust, dass man das nun ersetzen könnte, dadurch dass man Blut über eine Kanüle in die Venen transfundiert. Ein richtiges Wissen, wir benutzen es heute noch, nur damals war die Blutchemie und Körperflüssigkeitschemie völlig unbekannt, so dass man dann Versuche gemacht hat, Hundeblut, Lammblut oder auch einfach fremdes Menschenblut zu transfundieren, unter dem Druck der Öffentlichkeit, unter dem Druck der neuen Erkenntnisse, mit fatalen Ergebnissen, wie man sich vorstellen kann. Der Versuch, Wein in die Armvenen zu injizieren, mag ja noch belustigend erscheinen, aber Lammblut zu transfundieren war absolut tödlich. Das war eine Methode, die etwa 10 Jahre aufrecht erhalten blieb und dann von den Herrschern verboten wurde.

    Die Zahl der Opfer dieses ungebremsten Fortschrittsglaubens wurde nie erhoben. Heute könnte man die molekularmedizinische Forschung in einer ähnlichen Situation sehen wie die Medizin zur Zeit der Entdeckung des Blutkreislaufs. Das Erbgut ist entschlüsselt, immer neue Gene für Erbkrankheiten werden entdeckt. Die Forscher machen Hoffnungen auf grundlegende Therapien durch Eingriffe ins Erbgut, auf die Heilung von Stoffwechselkrankheiten, auf maßgeschneiderten Organersatz.

    Für die Stammzellforschung wird man sicherlich sagen können, dass der öffentliche Druck hier, neues Wissen zu produzieren, um damit schneller unheilbare Krankheiten zu therapieren sehr groß ist. Dieser Druck wird aber auch von Wissenschaftlern selber produziert, die Stammzellforschung betreiben möchten. Das ist ein Wechselspiel zwischen Wissenschaftlern, die ihre Methoden durchsetzen wollen, auch wenn sie ethisch nicht mit der gesellschaftlichen Gesamtmeinung übereinstimmen, und der Information, über die positiven Ergebnisse der Stammzellforschung, die nach außen gegeben werden, und die dann dazu führen, dass die Gesellschaft oder große Teile der Gesellschaft sich dann entschließen mag, auf bestimmte ethische Normen zu verzichten, um den wissenschaftlichen Erfolg schneller voran zu treiben. Letztlich ist auch das eine Form des Wissenschaftsbetruges.

    Die Vorspiegelung falscher Tatsachen nämlich oder die vorschnelle Veröffentlichung vermeintlicher Tatsachen. Betrogen wird hier nicht der Rest der Kollegen, sondern die erwartungsvolle Öffentlichkeit.

    Für die Motivsuche in der Gegenwart ist der jüngste spektakuläre Fall besonders ergiebig, weil er zu vielerlei Erklärungsversuchen einlädt. Der Festkörperphysiker Jan Hendrik Schön machte sich in den Jahren 1998 bis 2002 einen Namen mit hochkarätigen Arbeiten aus den Gebieten Mikroelektronik und Nanotechnologie. Er erhielt zahlreiche Preise und stand kurz vor der Berufung zum Direktor eines Max-Planck-Instituts – für einen 34-jährigen Physiker ist das mehr als eine bedeutende Auszeichnung.

    Tatsächlich aber hat Schön etliche Ergebnisse in seinen Arbeiten frisiert oder sogar komplett erfunden. Das kostet den Shooting Star der deutschen Physikszene seinen Job bei den Bell Laboratories und seine Zukunft am Max-Planck-Institut. Er muss alle Fälschungen öffentlich widerrufen.

    Wenn man sich die Erklärungen zur Zurückziehung einer ganzen Serie von Publikationen in Nature und Science, das sind die beiden meist gelesenen Zeitschriften weltweit, wenn man sich die anschaut, dann steht in jeder von beiden eine Nachbemerkung von Herrn Schön, die besagt, dass er nach wie vor fest davon überzeugt ist, dass die berichteten Tatbestände der Wahrheit entsprechen, also eine eins-zu eins-Entsprechung in der Natur haben.

    Mithin wäre Jan Hendrik Schön auch ein typischer Fall von Selbsttäuschung, ein Täuscher, der "nur" aus Überzeugung handelte und dabei den Pfad wissenschaftlicher Tugend verließ.

    Es gibt einen zweiten Motivationsstrang, der psychologisch interessanter ist, und das ist die Tatsache, dass man an das, was man mit wissenschaftlich nicht zulässigen Methoden demonstriert und dann aufschreibt, so intensiv glaubt, dass man innerlich überzeugt ist, die Menschheit damit beglücken zu sollen.

    AUTOR Auch Fälschertypus Nummer zwei findet sich in der Schön'schen Geschichte: der selbsternannte Menschheitsbeglücker; der nur das Pech hatte, entdeckt zu werden. Ein Drittes kam hinzu: der Messias wurde erwartet.
    Bei Jan Hendrik Schön ist die Sache ja so: das, was er in einer Reihe höchstrangig publizierter Arbeiten beschrieben hat, war etwas was viele Festkörperphysiker und Chemiker sich ziemlich zeitgleich sehr angestrengt haben, herauszukriegen. Man wünschte sich einfach experimentelle Verbesserungen zu erzielen von der Qualität wie Herr Schön sie dann publiziert hat.

    Zeitgeist und Umfeld müssen also stimmen. Der Boden für die gefälschten Ergebnisse ist bereitet, das Thema "liegt in der Luft". Der Forscher bewegt sich in den "richtigen Kreisen" für seine erfundene Entdeckung, man traut sie ihm zu, erwartet sie geradezu.

    Es kam vieles zusammen. Es kam die Wunschvorstellung von vielen zusammen, diese Art von Ergebnis, eine Verbesserung um mindestens eine Größenordnung in der physikalischen Güte zu erzielen, und es kam hinzu, dass Herr Schön mit großen individuellen Vorschusslorbeeren in dieses Feld gegangen ist, und mit Leuten zusammen garbeitet hat, denen die Scientific Community das zutraute.

    Fälschen also zu leicht gemacht? Der Betrug eine geradezu menschliche Reaktion auf den Erwartungsdruck der Kollegengemeinde, des Doktorvaters, des Mittelbewilligers? Das hieße, sich die Antwort zu leicht machen und das Problem beschönigen. Die Motive der Betrüger können durchaus vielschichtig sein; das mag man ihnen zugestehen. Aber warum sollte man ihre Verstöße, ihre Erfindungen und Auslassungen, ihre Retouschen und Bilderklaus, das Manipulieren der Wahrheit zum eigenen Vorteil, warum sollte man das weniger hart bewerten als zum Beispiel die Fälschung von Steuerunterlagen?