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Walter Benjamins Familie
Im Schatten des großen Bruders

Walter Benjamin war eine der Lichtgestalten der deutschen Philosophie. Aber auch seine Familie hat sich in der deutschen Geschichte hervorgetan: als Wissenschaftler, Publizisten, Sozialisten. Uwe-Karsten Heye schafft mit "Die Benjamins. Eine deutsche Familie" anhand ihrer Biografien ein Lesebuch deutsch-deutscher Geschichte.

Von Anja Hirsch | 17.10.2014
    Walter Benjamin
    Walter Benjamin (1892–1940) (dpa / picture alliance / Heinzelmann)
    Dass Kunstwerke eine Aura haben können, die sich durch Vervielfältigung verflüchtigt, ist eine der wohl am meisten zitierten und missverstandenen Thesen des Literaturwissenschaftlers und Philosophen Walter Benjamin: "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" heißt sein berühmter Aufsatz, der in keiner geisteswissenschaftlichen Hausarbeit der 70er- und 80er-Jahre fehlen durfte. Benjamin, neben Adorno und Horkheimer oder Hannah Arendt eine weitere Lichtfigur deutsch-jüdischer Intellektueller, rüttelt aber noch aus einem anderen, nicht-ästhetischen Grund auf. Fällt sein Name, denkt man an sein tragisches Ende in den Pyrenäen. Hier, in den Bergen, die Freiheit zum Greifen nah, hinterließ der Flüchtling nach einer beschwerlichen Wanderung eine letzte Notiz, bevor er seinem Leben mit 48 Jahren ein Ende setzte - man hatte ihm die Einreise nach Spanien wegen eines fehlenden französischen Ausreisestempels verweigert. Die Aussicht, ins antisemitische Deutschland zurückgestellt zu werden, muss ihm albtraumhaft erschienen sein. Im gleichen Jahr, 1940, wurde der Journalist Uwe-Karsten Heye geboren. Benjamin, der scharfe Analytiker und sprachmächtige Literat, prägte später auch ihn.
    "Das ist ja einer der Großen, schon fast seherischen Philosophen gewesen, wenn man einzelne Zeugnisse von ihm im Blick der 20er-Jahre auf das, was da kommen wird, also er war für mich immer ein spannender Denker."
    Dora Benjamin aus dem Schatten ihres Bruders geholt
    Heye erzählt zunächst, was aus den drei Geschwistern Walter, Georg und Dora wurde. Hineingeboren in eine jüdische, großbürgerliche Familie, der Walter Benjamin in seinem vielleicht schönsten Buch "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" ein Denkmal setzte, beziehen sie alle gegen den braunen Terror Position. Auf unterschiedliche Weise. Dora, neun Jahre jünger als Walter, ist selbst eine der fortschrittlichsten Wissenschaftlerinnen, deren Karriere mit dem Krieg einbricht. Wie der mittlere Bruder Georg engagiert sie sich. Beide publizieren über Sozialthemen: Dora in den 20er-Jahren über die schwierige Lage der Konfektionsfrauen, Georg über die Ledigenheime im Roten Wedding Berlins. 1942 gelingt ihr unter abenteuerlichen Umständen die Flucht - ein ärztliches Attest hatte sie vor der Deportation bewahrt. Noch im Schweizer Exil, wo sie in einem Erziehungsheim mit Kindern arbeitet, entwirft sie Pläne, wie es in Deutschland nach dem Nationalsozialismus weitergehen kann. Sie fordert zum Beispiel die Einführung eines - von ihr selbst als "völlig undurchführbar" bezeichneten - Präferenzpasses für alle diejenigen, deren eindeutig antifaschistische Haltung nachweisbar ist. Heye kann Dora Benjamin - mithilfe eines Aufsatzes von Eva Schöck-Quinteros - aus dem Schatten des Bruders holen und ihr ein wenig zu ihrem eigenen Recht verhelfen.
    "Es war eine kluge Frau, die dann zusammen mit Walter in Paris im Exil war und viel für ihn gearbeitet hat dort, und auch im Grunde auch ein Opfer dieser Nazizeit war."
    Eine der letzten Schriften Dora Benjamins ist ein leidenschaftlicher Appell, sich der traumatisierten Jugend anzunehmen. 1946 stirbt die schon lange mit vielen Krankheiten ringende Schwester Walter Benjamins im Schweizer Exil an den Folgen von Brustkrebs. Georg ist es, der Hilde Benjamin, die junge Jurastudentin und spätere Justizministerin der DDR, mit in die Familie bringt. Seit 1914 sind sie Mitglied der KPD. Sie bekommen 1932 einen Sohn, Michael, der als sogenanntes "Mischlingskind 1. Grades" über Jahre versteckt werden muss und den Vater kaum kennt: Georg Benjamin wird unmittelbar nach dem Reichstagsbrand verhaftet. Er sitzt sechs Jahre in verschiedenen Gefängnissen und wird 1942 im KZ Mauthausen umgebracht. Heye konnte über Ursula Benjamin, die spätere Frau Michaels, der Rechtsprofessor in Moskau und Ost-Berlin war und im Jahre 2000 starb, Briefe und Tagebücher einsehen. Von dieser Seite kannte man die spätere Richterin, die im Krieg mit zwölf Jahren Berufsverbot belegt wird, noch kaum.
    "Aber wenn sie lesen, wie die beiden sich über Briefe verständigt haben, über Erziehungsfragen des Sohnes Michael, wie liberal dieser Georg war - wenn sie all das lesen, dann sehen sie zugleich aus jeder Zeile, welche Haltung man haben konnte, wenn man seine eigene Haltung als menschlich und mitmenschlich empfinden wollte."
    Bild von "Blut-Hilde" korrigieren
    "Die Benjamins" ist weniger eine detailversessene Familienbiografie, vielmehr als Lesebuch deutsch-deutscher Geschichte anhand einer bedeutenden Familie gedacht. Heye schreibt betont empathisch. Vom Erlebnisbericht, wenn es die eigene Spurensuche betrifft, wechselt er zu historischen Fakten. Oft spekuliert er, wie es gewesen sein könnte, und lässt bewusst Fragen offen. Die Schilderung der äußeren Umstände, die Heye einem bis in erschütternde Details zumutet, erzwingen beim Lesen eine große Nähe und ermöglichen eine Innensicht. Heikel wird das insbesondere dann, wenn es um die umstrittene Rolle Hilde Benjamins geht. Direkt nach dem Krieg wird sie in Berlin-Steglitz in der zentralen Justizverwaltung eingesetzt, um nach Alliiertenrecht belastete Richter mit ehemaliger NSDAP-Parteimitgliedschaft durch Unbelastete zu ersetzen. Das, so Heye, bleibt ihr Hauptanliegen, auch später als Justizministerin der DDR, das Amt, das sie bis 1967 bekleidet. Die Gründlichkeit, mit der sie vorgeht, hat ihr den Ruf als "Blut-Hilde" zugezogen. Dieses Bild will Heye endlich korrigieren. Er verweist auf ihre Leistungen als Reformerin, vor allem des Familienrechts, und zeigt auf, wie unterschiedlich West- und Ostdeutschland mit der Tätergeneration umgingen.
    "Wenn sie die 50er-Jahre betrachten - ich bin damals 15, 16 Jahre alt gewesen, als ich anfing, diese 50er mit einem tiefen Ekel zu empfinden, hatte man ja das Gefühl, dass die Bundesrepublik ein postfaschistisches Land nur ohne Hitler und Goebbels gewesen ist."
    Heye erinnert dazu an jüngere Studien, etwa über die braune Verstrickung des Bundeskriminalamtes oder des Auswärtigen Amtes. Fritz Bauer, an der Verfolgung prominenter NS-Täter wie Adolf Eichmann beteiligt, musste damals nicht umsonst fürchten, dass die westdeutsche Justiz durchlässig war. Im Kontext des Kalten Krieges, so Heye, habe Hilde Benjamin als Feindbild gedient, das nicht zuletzt von Medien wie dem "Spiegel" gezeichnet und erst 1959 gemildert wurde.
    "Und wenn ich das sage, gerate ich ja immer in Gefahr, die DDR irgendwie zu beschönigen. Das will ich überhaupt nicht. Darum geht es mir gar nicht, sondern es geht mir um die Formen der Auseinandersetzungen, die ja nie danach fragten: Was ist eigentlich die Motivation dieser Frau? Kann man damit umgehen? Wie könnte man sie beschreiben?, sondern es war Diffamierung angesagt von vornherein."
    Fünf dramatische Schicksale im Spannungsfeld deutscher Geschichte
    Als Gegengewicht hätte man gerade hier unbedingt nähere Details über die Art der Verhandlungsführung bringen müssen. Immerhin formuliert Heye aber deutlich, dass es überzogene Urteile gab, etwa eines gegen Zeugen Jehovas. An Hilde Benjamins ideologisch starrer Haltung, die angesichts des erlebten Leids während des Krieges verständlich wird, lässt er keinen Zweifel. Uwe-Karsten Heye, der als Redenschreiber Willy Brandts und Sprecher der Regierung Schröder am politischen Leben der Bundesrepublik teilhatte, nähert sich durchaus mit erzieherischem Impetus als Aufklärer, Mahner und Erinnerer. Im Jahr 2000 hat er die Initiative "Gesicht zeigen" gegen Rechtsextremismus mitgegründet.
    "Ein Motiv für dieses Buch, das ja bis in die heutige Zeit reicht, war ja, noch mal aufmerksam zu machen: Was passiert, wenn wir diese Art politischer Desillusionierung und demokratische Ermüdung, die ich wahrnehme heute, so weiterlaufen lassen, und von daher glaube ich, dass es notwendig ist, noch mal darauf aufmerksam machen, wohin das führen kann; vor allem bei sich selbst nachzudenken: Was tu ich eigentlich, damit das nie wieder ernsthaft gemeint ist und auch ein nie wieder bleibt."
    "Wer einmal den Fächer der Erinnerung aufzuklappen begonnen hat, der findet immer neue Glieder, neue Stäbe", so heißt es bei Walter Benjamin. Sie erzählerisch zu verfugen, birgt immer ein Risiko. Aber eben auch die Chance, diese fünf dramatischen Schicksale im Spannungsfeld deutscher Geschichte überhaupt erst betrachten zu können. Die Zeit von Walter Benjamins Geburtsjahr 1892 bis zum Todesjahr von Hilde Benjamin 1989 lässt der Autor schließlich in die Gegenwart münden, zu dem Skandal um die NSU-Morde um Beate Zschäpe und einer immer noch grassierenden Rechtsblindheit. Gegen diese Art der Verdrängung und Verhinderung von Aufklärung gilt es einzutreten. Als notwendige Erinnerungsarbeit hat Heyes Familiengeschichte der Benjamins einen wichtigen Platz. Genau hinschauen, Kritik und Selbstkritik pflegen - dazu regt dieses Buch unbedingt an.
    Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins. Eine deutsche Familie. Aufbau Verlag, Berlin 2014. 360 Seiten, 22,99 Euro.