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Walter Nowojski (Hrsg.): Rudolf Hirsch - Aus einer verlorenen Welt

Die Rothschilds hatten Geld und Mühe aufgewandt, um die Lage der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, der damals größten und angesehensten in den deutschen Ländern, zu verbessern. Doch ihre Sympathie lag bei den landesverräterischen Fürsten, die gewohnt waren, noch immer Juden als ihre Kammerknechte zu betrachten und zu behandeln. Die Rothschilds wollten die alten Verhältnisse konservieren und gleichzeitig die Errungenschaften der Französischen Revolution nicht verlieren. Später schenkten die Rothschilds der Stadt Frankfurt ihre schlossartigen Häuser und ihre Parks. Sie wollten geliebt werden, aber was immer sie taten, sie gaben dem Judenhass neue Nahrung.

Manfred Jäger | 24.03.2003
    Die Rothschilds hatten Geld und Mühe aufgewandt, um die Lage der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, der damals größten und angesehensten in den deutschen Ländern, zu verbessern. Doch ihre Sympathie lag bei den landesverräterischen Fürsten, die gewohnt waren, noch immer Juden als ihre Kammerknechte zu betrachten und zu behandeln. Die Rothschilds wollten die alten Verhältnisse konservieren und gleichzeitig die Errungenschaften der Französischen Revolution nicht verlieren. Später schenkten die Rothschilds der Stadt Frankfurt ihre schlossartigen Häuser und ihre Parks. Sie wollten geliebt werden, aber was immer sie taten, sie gaben dem Judenhass neue Nahrung.

    So beenden Rosemarie Schuder und Rudolf Hirsch ihr Kapitel über die Rothschild-Dynastie. Es ist Teil ihres Gemeinschaftswerks "Der gelbe Fleck - Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte", das 1987 in der DDR erschienen ist. In dieser Essaysammlung gruben die Autoren zwar tiefer, als es die SED-Ideologie von den vor allem in der Ökonomie zu suchenden Wurzeln des Antisemitismus vorsah, sie scheuten sich aber, Wirkungen des Judenhasses in der DDR und bei ihren Bündnispartnern zu beschreiben. Eine Ambivalenz, die typisch war für beider Leben in der DDR. Im Verlag Das Neue Berlin hat Walter Nowojski nun aus dem Nachlass des Rudolf Hirsch dessen Autobiographie veröffentlicht. Hören Sie die Rezension von Manfred Jäger:

    Die Justiz in der DDR ließ nicht mit sich spaßen. Deswegen gehörte der Gerichtsbericht, zumal der leichtfüßig feuilletonistische, zu den heikelsten journalistischen Formen. Der Presse, dem "kollektiven Propagandisten, Agitator und Organisator", oblag auf diesem Felde keine spontane aktive Kontrollfunktion. Schwere Gewaltverbrechen sollte es eigentlich nicht mehr geben. Sie warfen schwarze Schatten auf die Verhältnisse. Über entsprechende Prozesse wurde in der Regel nicht berichtet. Ein weiterer ideologischer Grund lag in der aggressiven Abwehr der Sensationshascherei in den sogenannten Groschenblättchen des imperialistischen Westens. So diente der Gerichtsbericht über ausgewählte Fälle entweder der Abschreckung, wie bei Wirtschaftsvergehen - einzelne Schuldige sollten vom Plan- und Versorgungschaos ablenken - oder der Erziehung: Bei der Alltagskriminalität war neben dem Pranger auch die helfende Hand im Angebot. Über Jahrzehnte lieferte der Medienjurist Udo Krause über Radio DDR in seiner Sendereihe "Nicht nur eine Akte. Aus der Praxis der sozialistischen Rechtspflege" mit Tonmitschnitten aus den Gerichtssälen penetrante manipulierte Beispiele.

    So musste es auffallen, dass es trotz dieser bösen Spielregeln einen gab, der sich, so gut es ging, nicht an die Vorgaben hielt: Rudolf Hirsch. Sein Name wurde - mit einem Begriff aus der bürgerlichen Warenwelt - zum Markenzeichen. Denn eine glückliche Fügung sorgte dafür, dass er von ihrer Gründung um die Jahreswende 1953/54 jahrzehntelang, nämlich bis ins Jahr 1981, die vielgelesene "Wochenpost" mit der Kolumne "Als Zeuge in dieser Sache" belieferte. Als er sich zurückzog, war er schon 74 Jahre alt. Die "Wochenpost", äußerlich der "Grünen Post" nachempfunden, einem Abonnementsblatt der Weimarer Zeit, wurde von der SED nach dem Schock des Juni-Aufstands 1953 als, wie es hieß, "sozialistische Familienzeitung mit Massencharakter" gegründet. Sie begann mit 800.000 Exemplaren, in den siebziger Jahren wurde eine Auflage von ein und einer viertel Million genehmigt. Die Nachfrage war enorm, nur wenn ein Abonnent starb, durfte ein Kunde nachrücken. Leicht hätten 2 Millionen verkauft werden können. Aber man druckte lieber ideologischen Kram, den keiner haben wollte, und kaschierte diesen Teil der Presselenkung mit dem Wort "Papiermangel". Noch heute sagen Leser, sie hätten die "Wochenpost" vor allem wegen der Kleinanzeigen (mit halblegaler Tauschbörse) und wegen des Gerichtsberichts gekauft.

    1997, im Alter von 89 Jahren, hat der Verfasser jener legendären Einblicke in den Alltag der DDR damit begonnen, seine Autobiographie zu schreiben. Sie blieb unvollendet und wurde nun aus dem Nachlass veröffentlicht. Rudolf Hirsch stammt aus einer assimilierten wohlbehüteten und wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus dem rheinisch-westfälischen Schmelztiegel zwischen Witten an der Ruhr, wo der Vater geboren wurde, und dem niederrheinischen Krefeld, wo die Hirschs das beste Schuhgeschäft weit und breit besaßen. Der Vater, "Herr Moritz Hirsch", fühlte sich im wilhelminischen Kaiserreich anerkannt, sah sich als Freidenker der Synagogengemeinde nur kulturell verbunden und fürchtete den Zustrom der ihm völlig fremden ostjüdischen Einwanderer. 1928, zwei Jahre nach des Vaters Tod, übernahm Sohn Rudolf als Geschäftsführer den Laden, gebeutelt von der Weltwirtschaftskrise. 1931 trat er der KPD bei, unzufrieden mit den Zuständen und mit der eigenen Lage. Schon im Mai 1933 musste die Mutter das Schuhgeschäft zum "Schnäppchenpreis" an einen Nutznießer des NS-Regimes verkaufen - ein Musterfall von "Arisierung".

    Für Rudolf Hirsch begannen die Jahre des Exils. Aus den Niederlanden kehrte er 1934 noch einmal illegal nach Deutschland zurück, als Mitglied der Widerstandsgruppe "Neu Beginnen". 1937 ging er nach Palästina, wo er sich - abgesehen von einem kurzen abenteuerlichen Aufenthalt in Stockholm - als Arbeiter in Sandalenfabriken durchschlug. Dort in Tel Aviv erfuhr er, dass seine Mutter Meta 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Arnold Zweig, Gefährte und väterlicher Freund im Exil, sorgt dafür, dass er im Herbst 1949 nach Ostberlin nachkommen und in seiner "Regierungsvilla" zur Untermiete wohnen kann, in Hohenschönhausen, "wo die Hohen schön hausen", wie der Neuankömmling der im Meldebogen als Beruf "Schuhfacharbeiter" angibt, schnöde witzelt.

    Mit dieser Heimkehr brechen die Aufzeichnungen ab. Man spürt die flüchtige und karge Schreibweise eines Eiligen, dem die Zeit verrinnt. Der tiefere Grund für das "falsche Timing" liegt wohl darin, dass Hirsch sich nicht wichtig genug nahm oder - schärfer gesagt -, dass er seinen problematischen Seiten nicht allzu nahe kommen wollte. Er war klug genug, sich als ein Don Quichote in Ostberlin zu begreifen, also zugleich als originell, einflusslos und letztlich auch ein wenig lächerlich.

    So fehlen von ihm zusammenhängende Auskünfte über sein Leben in der DDR. Als Jude mit Westemigration galt er lange als verdächtig. Wilhelm Pieck sorgte persönlich dafür, dass er nicht in die SED aufgenommen wurde. Hirsch begegnete solcher Missachtung öffentlich mit disziplinierter Gefasstheit und unter Freunden mit sanftem oder scharfem Spott. In den Memoiren erwähnt er den Tod seiner Schwester Liesel im Stalinschen Gulag eher beiläufig, als müsse er noch immer der Gefahr trotzen, durch eine vermeintliche biographische "Zufälligkeit" zum Antikommunisten zu degenerieren.

    Der Herausgeber des nachgelassenen Manuskripts, Walter Nowojski, hat in einem Nachwort von fast 60 Seiten manche Leerstelle gefüllt, mit Zitaten aus autobiographischen Romanen Hirschs und aus anderen Quellen. Kritisches hat er über den bedeutenden Feuilletonisten nicht zu sagen, der leider auch dem fatalen Ehrgeiz nachgegeben hat, durch das Verfassen von Romanen zum "wahren Schriftsteller" zu avancieren. Hirsch hatte das Glück, von jüdisch-russischen Kulturoffizieren an ihr Besatzungsblatt, die "Tägliche Rundschau", geholt zu werden und dort für den Gerichtsbericht zu sorgen, als neugieriger Laie ohne jede juristische oder journalistische Ausbildung. Instinktiv wusste Hirsch, dass er das ihm fremde Land besonders gut in Gerichtssälen würde kennenlernen können. Als "Mann der Russen" gewann er bei der noch unsicheren DDR-Justiz eine absurde Autorität. Bei der "Rundschau" hat er dann selbst gekündigt, als die "Wochenpost" eine weit größere Leserschaft garantierte. Nun gab es oft Ärger mit der obersten Rechtsaufsicht der DDR, weil er sich das Recht auf Urteilsschelte herausnahm. Öfters sympathisierte er mit den angeklagten "kleinen Leuten" und erregte zum Beispiel die Wut Margot Honeckers, als er die kriminelle Energie und realsozialistische Heimerziehung in einen Kausalzusammenhang brachte. Er war ein glaubhafter und glaubwürdiger Berichterstatter der Auschwitz-Prozesse in der Bundesrepublik. Politische Verfahren in der DDR, alle "Stasi nahen" Fälle, blieben für ihn tabu. Nowojskis zitiert den Brief einer Leserin, die bohrend fragte:

    Wenn man die Gerichtsberichte liest, dann sollte man meinen, es gäbe bei uns nur kleine soziale Ganoven mit sozialistischem Bewusstsein nach der Tat. Aber bei uns gibt es Mord, versuchten Selbstmord, Kindesmisshandlung, fahrlässige Tötung, Verletzung der Aufsichtspflicht, Republikflucht, Grenzzwischenfälle, Spionage, Schmuggel, Raub, Gefängnisflucht usw. Auch geraten nicht nur Asoziale auf die schiefe Bahn, sondern auch führende Persönlichkeiten, staatliche Leiter, Ärzte, Pädagogen, Politiker usw. Warum wird davon nicht berichtet?

    Das hier beschriebene Dilemma des Journalisten Hirsch hätte ins Zentrum des Nachworts gehört. Nowojskis milde beschönigender Blick auf die DDR reicht leider nur zu einigen Relativierungen und der Konklusion, der Chronist sei eben "eingegrenzt" gewesen "in den Zwängen der Zeit".

    Schade, dass Hirsch zu diesem Sachverhalt nicht mehr als "Zeuge in eigener Sache" auftreten konnte oder wollte. Seine in vielen Sammelbänden vorliegenden Gerichtsberichte, "Leitartikel des kleinen Mannes", wie es seinerzeit mit guten Gründen lobend hieß, bieten aber wertvolles Material für eine Alltagsgeschichte der DDR.

    Manfred Jäger über die von Walter Nowojski herausgegebene Autobiographie "Rudolf Hirsch - Aus einer verlorenen Welt", Verlag Das Neue Berlin, 223 Seiten, 14,90 Euro.