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Wanderer zwischen den Welten

Heiner Müller hat das politische Theater in beiden Teilen Deutschlands nachhaltig geprägt. Die Stücke und Inszenierungen des bedeutenden Theatermannes sind noch heute auf den Bühnen der Welt präsent. Heiner Müller wird zum Wanderer zwischen den Welten. Heimatlos in beiden deutschen Staaten macht er die Abgründe der deutschen Geschichte zu seiner Bühne.

Von Holger Teschke | 30.12.2005
    "Und zwischen ABC und Einmaleins
    Wir pißten pfeifend an die Schulhauswand
    Der Lehrer hinter vorgehaltner Hand
    HABT IHR KEIN SCHAMGEFÜHL Wir hatten keins

    Als Abend wurd wir stiegen auf den Baum
    Von dem sie früh den Toten schnitten. Leer
    Stand nun sein Baum. Wir sagten: DAS WAR DER.
    WO SIND DIE ANDERN ? ZWISCHEN AST UND ERD IST RAUM"

    Heiner Müller wird 1929 im sächsischen Eppendorf geboren. Nach Oberschule, Reichsarbeitsdienst und Ausbildung für den Volkssturm gerät er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er sich aber bald absetzen kann. Ab 1949 arbeitet er in einer Bibliothek im mecklenburgischen Waren. Anstatt auftragsgemäß die bürgerlichen Schriftsteller auszusondern, studiert er sie - besonders intensiv Nietzsche, Dostojewski und Ernst Jünger. Bald stößt er auf die ersten Stücke von Brecht und beschließt, sich auf den Weg ans Berliner Ensemble zu machen.

    Im Gepäck hat er eigene Gedichte, die Brecht interessant findet, doch dessen Assistenten halten den unbekannten Dichter aus der Provinz nicht geeignet genug für das berühmte Haus am Schiffbauerdamm. Müller kommt beim Schriftstellerverband der DDR unter und verfasst 1956 den "Lohndrücker". Es ist das erste Stück, das die realen Konflikte beim Aufbau des Sozialismus auf die Bühne bringt und verschafft seinem Autor den Heinrich-Mann-Preis. Gemeinsam mit seiner Frau Inge arbeitet er ab 1959 als Dramaturg und freischaffender Schriftsteller. Doch schon sein zweites Stück "Die Umsiedlerin" sorgt 1961 für einen politischen Eklat. Müller wird aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und bleibt für lange Jahre persona non grata. 1966 begeht Inge Müller Selbstmord und hinterlässt ein außergewöhnliches lyrisches Werk. Müller selber wendet sich der Antike und Shakespeare-Bearbeitungen zu. 1968, mit der "Philoktet"-Aufführung in München, setzt der erste Erfolg in der Bundesrepublik ein und ermöglicht Müller Reisen nach Westeuropa und in die USA.

    "Nachtzug BerlinFriedrichstrasse FrankfurtMain
    Nach der Fahrt durch die lichtlose Heimat der Haß auf die Lampen.
    Daß die Leiche so bunt ist. ICH BIN DER TOD KOMM AUS ASIEN"

    Heiner Müller wird zum Wanderer zwischen den Welten. Heimatlos in beiden deutschen Staaten macht er die Abgründe der deutschen Geschichte zu seiner Bühne. 1980 inszeniert er zum ersten Mal ein eigenes Stück, den "Auftrag" an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin.

    Müller wird mit seinen Theatertexten "Die Schlacht", "Germania Tod in Berlin", "Hamletmaschine" und "Quartett" zum meistgespielten deutsch-deutschen Dramatiker nach Brecht. Die Akademie für Sprache und Dichtung verleiht ihm 1985 den Büchner-Preis, die DDR entschließt sich ein Jahr später, ihrem ungeliebten "Klassiker" den Nationalpreis zuzusprechen. Müller revanchiert sich mit dem Zyklus "Wolokolamsker Chaussee", der den Weg der sowjetischen Panzer von Moskau bis Berlin nachzeichnet - seine bis dahin radikalste Darstellung der Widersprüche innerhalb der DDR.
    "Er saß mir gegenüber in der Sprechzeit
    Meine fünf Jahre lang im Zuchthaus Bautzen
    Er redete MITMARXUNDENEGLSZUNGEN
    Für sein Arbeiterparadies Ich sah
    Wie seine Lippen sich bewegten und
    Zwischen den Zähnen seine Zunge Schweiß
    Auf seiner Stirn wenn er in Fahrt kam Tränen
    Und was er sagte war wie nicht gesagt
    Seit meinem Umzug von Berlin nach Bautzen
    In einer nicht vergessnen Sommernacht
    Im Jahr der Panzer Neunzehnachtundsechzig"

    Müller spricht auf der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, die das Ende der DDR einläutet. Er wird zum letzten Präsidenten der Akademie der Künste gewählt und 1992, mit vierzigjähriger Verspätung, zu einem der fünf künstlerischen Direktoren des Berliner Ensembles. Hier inszeniert er Brechts "Arturo Ui" mit Martin Wuttke. Schon schwer erkrankt, übernimmt er 1995 die alleinige künstlerische Leitung des Berliner Ensembles und versucht, mit Inszenierungen von Einar Schleef dem Haus ein neues Profil zu geben. Sein letztes Stück "Germania 3 Gespenster am Toten Mann" bereitet er noch zur Uraufführung vor, kann aber nicht mehr mit den Proben beginnen. Am 30. Dezember 1995 ist Heiner Müller in Berlin gestorben. Für sein Leben und seine Theaterarbeit gilt der Satz, den er einmal dem Komponisten Paul Dessau gewidmet hat : "Was zählt, ist das Beispiel, der Tod bedeutet nichts."