Donnerstag, 25. April 2024

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Wandlungen einer Ehe

Dem Werk von Sándor Márai ist posthum ein erstaunlicher Erfolg beschieden worden. Zwar hatte dieser ungarische Dichter, der eigentlich Sándor Grosschmid hieß und im Jahre 1900 im heute slowakischen Kaschau als Sohn eines wohlhabenden Anwalts zur Welt kam, bereits zu Lebzeiten beträchtlichen Ruhm erlangt - vor allem als Feuilletonist und Autor von Gesellschaftsromanen im Budapest der dreißiger Jahre. Doch geriet Márai in Vergessenheit, während er den Horthy-Faschismus und dann den nationalsozialistischen Terror durchlitt. Und seit er Ungarn 1948 verließ, um sein Exil in der Schweiz, in Italien und in den Vereinigten Staaten zu suchen, wurde Márai in seiner früheren, nunmehr volksdemokratischen Heimat totgeschwiegen. Im kalifornischen San Diego beging er, persönlich und literarisch vereinsamt, zu Beginn des europäischen Wendejahres 1989 Selbstmord. Nun allerdings wurde er in Ungarn wieder verlegt und überdies mit Ehrungen und Rehabilitierungen aller Art überhäuft, und als der Piper Verlag in den späten neunziger Jahren seinen Roman "Die Glut" herausbrachte, avancierte er auch noch zum Bestsellerautor im deutschen Sprachraum.

Martin Sander | 10.07.2003
    Was an Márai vor allem zu faszinieren schien, war seine literarische Ausstattung der bürgerlichen Welt als glitzernden Salon. Von geringerem Interesse erwies sich hingegen der politische Analytiker, etwa in den "Bekenntnissen eines Bürgers" oder aber in den Tagebüchern, in denen der Autor seit Kriegsende die geteilte Welt kommentierte. Márais nun auf deutsch wiederaufgelegter Roman "Wandlungen einer Ehe" ist beides: Das Drama vom alltäglichen Unglück der Protagonisten und eine kritische Reflexion zur Rolle und Identität des Bürgers, und damit des wohl meistgescholtenen Protagonisten auf der Bühne des zwanzigsten Jahrhunderts. Márai läßt diesen Bürger so sprechen:

    Ich kenne die Fehler und Laster meiner Klasse genau, und ich nehme sie, die Klasse, das bürgerliche Schicksal, auf mich. Ich mag die Salonrevolutionäre nicht. Man soll denen treu bleiben, mit denen man durch Abstammung, Erziehung, Interessen und Erinnerung verbunden ist. Ein Gefühl sagt mir, daß man das Bürgertum ein bißchen allzu eifrig und ungeduldig begräbt.

    Wandlungen einer Ehe - so lautet zwar der Titel der deutschen Neuausgabe des Romans, an dem Márai in den vierziger Jahren geschrieben und den er in den siebziger Jahren überarbeitet hat. Doch eigentlich handelt das Buch von zwei glücklosen Ehen, an die sich die drei Beteiligten in drei üppig dahinschweifenden Monologen erinnern. Kaffeehausgeplauder, Bettgeflüster oder Bekenntnisse anlässlich einer durchzechten Nacht, das sind die Instrumente, mit denen Márai seine Geschichte des Scheiterns orchestriert. Die Hauptrolle übernimmt dabei der zweifache Ehemann, ein Budapester Fabrikant, Erbe eines Konzerns, ein alles in allem steif-steriler Liebhaber der Künste, der seine bürgerliche Herkunft als soziales Schicksal auf sich nimmt und zugleich dem Dienstmädchen aus der elterlichen Wohnung verfallen ist, eine Neigung, die er auch mithilfe seiner ersten Ehefrau nicht zu überwinden imstande ist. Diese Frau, ein hingebungsvolles Wesen, das - ohne Gnade gegen sich und andere walten zu lassen - die "Schreckensherrschaft der Liebe" durchsetzen möchte und so versucht, den Katalog der bürgerlichen Tugenden als Seelenzustand zu verwirklichen, muß schließlich das Handtuch werfen. Nun kommt Judit zum Zuge, das Mädchen vom Lande, die arme transdanubische Bauerntochter, die sich nach langer Wartezeit und gründlicher Selbstdressur in eine Schicht hineinmanövrieren läßt, die ihr fremd und verhaßt bleibt. Judit nimmt durch ihre Ehe Rache an den anderen und verrät sich selbst.

    Das Nachthemd musste man auf dem Bett zurechtlegen, indem man es faltete, den unteren Teil auf den Rücken des oberen, und die Ärmel ausbreitete. Verstehst du? Das Nachthemd oder die Pyjamajacke sahen dann aus wie ein Araber, der beim Beten auf dem Gesicht liegt und die Arme ausstreckt. Warum sie das so haben wollten, weiß ich nicht. Vielleicht, weil man das Ding so bequemer anziehen konnte, mit einer Bewegung weniger. Ich hasste sie dafür. So sehr, dass ich mich als Reiche zu ihnen gesellte, ihre Kleider anzog, mich ins Bett legte, wo sie lagen, auf meine Figur aufzupassen begann und am Ende auch schon Abführmittel nahm.

    Knapp, aber eindringlich lässt Sándor Márai in dieser Dreiecksgeschichte, die monologisch um Liebe, Hass, Leidenschaft und Enttäuschung kreist, die ungarische Gesellschaft der dreißiger und vierziger Jahre durchscheinen. Die Wirklichkeit kommt zunächst dadurch zum Vorschein, dass man sie ignoriert. Doch der Sorglosigkeit bürgerlichen Lebens zwischen den Weltkriegen folgt die Katastrophe und damit die Zeit der Umkehr aller tradierten Werte. Vor allem von Judit, die sich zur Zeit ihrer Erzählung aus dem kommunistischen Budapest ins Künstlermilieu von Rom geflüchtet hat, erfahren wir tragische und groteske Details aus dem Bombenkrieg um Budapest, von den vagen Vorstellungen zu einer Nachkriegszeit und von der Enttäuschung durch eine kleinbürgerliche Diktatur, die sich soeben etabliert hat.

    Seither habe ich oft gedacht, und ich denke es noch heute, daß niemand verstehen kann, was mit uns geschehen ist. Wir sind alle vom jenseitigen Ufer zurückgekommen, aus der Totenwelt. Alles, was zur Welt des Gestern gehört hatte, war eingestürzt und kaputtgegangen. Jedenfalls glaubten wir, daß alles zu Ende war und etwas Neues begann. - Ein paar Wochen glaubten wir das. - Vielleicht hofften wir noch etwas anderes. Vielleicht hofften wir, die Zeit der großen Unordnung sei gekommen, und alles würde so bleiben, bis ans Ende der Tage. Und es werde keine Polizisten und Schergen geben und keine Nobelbehausungen und kein Küßdiehand, kein Mein und Dein und Ewiglich-dir-verbunden. Sondern? Der große Rummel, das zum Himmel schreiende Nichts, indem die Menschheit einfach herumspaziert, Krapfen frißt, sich vor den Aufräumarbeiten drückt und allein einen Tritt gibt, was sich bis dahin Rücksicht und Verfpflichtung nannte. - Doch das wagte niemand auszusprechen.

    In "Wandlungen einer Ehe" hat Sandor Márai einmal mehr das bürgerliche Lebensgefühl in allen Nuancen sprechen lassen. Gerade dadurch tritt eine Welt hervor, die aller bürgerlichen Werte entkleidet wurde - in schockierender Nacktheit.