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War Anna Amalia Goethes Geliebte?

Der Jurist Ettore Ghibellino hat mit der These, Johann Wolfgang von Goethe habe in den Jahren 1775 bis 1786 eine Liebesbeziehung zu verwitwete Herzogin Anna Amalia unterhalten, viel Staub aufgewirbelt. Die These, nachzulesen in Ghibellinos Buch "Goethe und Anna Amalia - eine verbotene Liebe", wurde von der Klassikstiftung Weimar zurückgewiesen. Ghibellino findet dagegen, dass nach seiner Entdeckung Goethes Gesamtwerk neu gelesen werden müsste.

Ettore Ghibellino im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.08.2008
    Christoph Heinemann: Alle reden über Olympia. Wir sprechen über einen Olympier: über Johann Wolfgang von Goethe. Der Deutsch-Italiener Ettore Ghibellino ist überzeugt, dem alten Meister auf die Schliche gekommen zu sein. Ghibellino ist Jurist und hat sich mit Goethes Weimarer Jahren 1775 bis 1786, also bis zum Aufbruch nach Italien, beschäftigt. Seine These: Goethe und die verwitwete Herzogin Anna Amalia - bekannt durch die durch eine Feuersbrunst zerstörte und wieder restaurierte Bibliothek -, die beiden hätten eine Liebesbeziehung unterhalten. Die "liebe Frau", an die Goethe zahlreiche Briefe adressierte, sei nicht die Hofdame Charlotte von Stein gewesen. Diese These, nachzulesen in Ghibellinos Buch "Goethe und Anna Amalia - eine verbotene Liebe", ist von der Klassikstiftung Weimar zunächst nicht beachtet und nun zurückgewiesen worden. Von wegen "Verbotene Liebe"! Charlotte, nicht Anna Amalia sei Goethes Weimarer Herzdame gewesen. Ettore Ghibellino gibt aber nicht klein bei. Er hat einen "Anna Amalia und Goethe Freundeskreis" gegründet, dem mittlerweile 200 Mitglieder angehören. Guten Morgen, Herr Ghibellino!

    Ettore Ghibellino: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Ghibellino, welche sind die beiden wichtigsten Belege für Ihre These?

    Ghibellino: Nun, zunächst einmal Zeitgenossen, die über eine Liaison zwischen Anna Amalia und Goethe berichten. Wir haben neun Zeitgenossen und ungefähr 18 Stellungnahmen. Dabei muss man bedenken, dass die Quellen ziemlich bereinigt sind. Wir haben in Weimar sehr wenig Dokumente aus der Zeit. Zum zweiten sind es die Widersprüche in den Briefen Goethes an Charlotte von Stein. Wenn wir tiefersinniger nachgucken, dann merken wir, dass die Empfängerin Italienisch beherrschen müsste, dass die Empfängerin, wenn sie Charlotte heißt - ein Brief wird tituliert "der verfluchte Name Charlotte verfolgt mich überall" -, da merken wir, dass das Gegenüber über das Vokabular der schönen Künste verfügen muss, Kunsteinkäufe, Mäzenatentum und so weiter. Das passt alles nicht auf Charlotte von Stein, dafür perfekt auf Anna Amalia.

    Heinemann: Sie sprachen eben von gereinigten Quellen. Was bedeutet das?

    Ghibellino: Das bedeutet, dass wir von umfangreichen Briefschaften Anna Amalias nichts mehr haben. Die sind zuletzt 1870 im großherzoglichen Privatarchiv verschwunden. Wir haben überhaupt aus dem ersten Weimarer Jahrzehnt sehr wenig Quellen von Hofdamen, Briefschaften, von den Steins, von Netzwerken, die damals operierten, so gut wie nichts mehr. Auch von Goethe gibt es nicht einen Brief an Anna Amalia im ersten Weimarer Jahrzehnt und umgekehrt.

    Heinemann: Welche Rolle spielte denn dann die Charlotte von Stein?

    Ghibellino: Die Charlotte von Stein ist eine Hofdame Anna Amalias. Sie ist eine treue Hofdame. Sie ist außerordentlich professionell und sie macht genau das, was Anna Amalia von ihr verlangt oder will. Dafür bekommt sie Vorteile materieller Art und überhaupt Einfluss. Ihre Familie wird bevorzugt am Hof befördert. Sie erfüllt mehr so geheimdienstlich-diplomatische Aufgaben und das erfüllt sie mit einer hohen Professionalität und sie ist außerordentlich treu ihrer Anna Amalia. Das ist auch ein Verhältnis der Devotion zwischen ihr und der großen Fürstin.

    Heinemann: Wann und wie begann Goethes Beziehung zur Herzogin Anna Amalia, die ja immerhin die Mutter seines Freundes Karl August war?

    Ghibellino: Ich gehe davon aus, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Goethe kommt am 7. November 1775 nach Weimar. Fast zeitgleich beginnt Anna Amalia ein Liebes-, Verwechslungs- und Liebesstück Goethes "Erwin und Elmire" zu komponieren. Dann sehen wir, dass Goethe verliebt ist in dieser Phase. Wir wissen nicht in wen. Man vermutete bisher Charlotte von Stein. Wir sehen Anna Amalia, die emsigst darum besorgt ist, dass Goethe eine steile Karriere hinlegt. Wieland sprach von "Mirabilia Dei", göttliche Wundertaten, die täglich mehr werden.

    Heinemann: Was reizte denn diese Herzogin an dem zehn Jahre jüngeren Johann Wolfgang von Goethe, der ja, wie wir aus der Biographie von Richard Friedenthal wissen, zusammen mit Karl August ein relativ bewegtes Leben führte? Sagen wir es mal so.

    Ghibellino: Wir haben ja entgegen der bisherigen Goethe-Biographie den Fall, dass eine Frau auf gleicher Augenhöhe zu Goethe steht, dass hier ein Gegenüber ist, das ihm nicht nur ebenbürtig begegnet, sondern ihn auch noch formen kann. Goethe ist 26-jährig. Er hat von Staatskunst überhaupt keine Ahnung. Hier bekommt Anna Amalia die Chance, über Goethe a) den 18-jährigen Herzog dennoch weiter zu beeinflussen, b) auch Goethe zu einem Staatsmann zu formen. Und in der Tat auch in diesen 1600 Briefen Goethes an "Charlotte von Stein" - ich schreibe immer in Anführungszeichen: es gibt keine Gegenbriefe - da schreibt Goethe ganz stolz "heute war ich da und dort am Hofe und habe mich genauso benommen wie Du es gesagt hast, steife Haltung und so weiter".

    Heinemann: Hat diese Beziehung eigentlich literarisch Spuren hinterlassen? Hat Goethe Anna Amalia in seinem Werk verewigt?

    Ghibellino: Eindeutig! Wir haben von Goethe bisher immer die Aussage, dass sein ganzes Lebenswerk eine einzige Konfession sei. Goethe selbst betont immer wieder, dass sein Werk sein Leben darstellen würde. Nur bisher konnte man es nicht nachvollziehen, mit Charlotte von Stein im Hintergrund oder anderen Frauen. Wenn wir Anna Amalia als das Gegenüber sehen, dann stellen wir fest - ob im "Tasso", "Iphigenie", bis hin zu "Das Märchen", in "Wilhelm Meister", nehmen Sie auch den Helena-Akt im "Faust" -, dass hier immer wieder die Liebe eines Bürgerlichen zu einer hochgestellten Frau, die unerreichbar ist, thematisiert wird. Was das jetzt für die Interpretation bedeutet, das ist strittig, weil ich bewege mich nicht im Bereich der Ästhetik. Ich gehe allein der Frage nach, inwiefern Goethes Leben Bauplan seiner künstlerischen Werke ist.

    Heinemann: Sie sind promovierter Jurist. Wäre die Kausa Goethe/Anna Amalia ein Strafverfahren, würden Sie aufgrund Ihrer Indizien, die Sie zusammengetragen haben, dann auf schuldig plädieren, oder auf Freispruch aus Mangel an Beweisen?

    Ghibellino: Das ist eine sehr wichtige Frage. Wir haben im Bereich der Geisteswissenschaften keine allgemein anerkannte Beweistheorie. Das heißt jede Disziplin geht vor wie sie will. Ein befreundeter Professor, Strafrechtsprofessor aus München, schrieb mir unlängst, dass alleine die Sprachwidersprüche zu einer Verurteilung dicke reichen würden. Das heißt von juristischer Seite ist aufgrund der Verdichtung von Indizien schon längst eine Tatsache zu konstatieren. Das ist aber natürlich von den Germanisten nicht akzeptiert. Oder nehmen Sie die Historiker. Die sagen, wenn zwei voneinander unabhängige Quellen das gleiche sagen, dann haben sie eine Tatsache. Und so müssen wir erst mal uns zusammensetzen und uns darüber klar werden, was wir unter Beweis, Indizien, allgemeine Erfahrungssätze überhaupt meinen.

    Heinemann: Ihre These, Herr Ghibellino, hat die Goethe-Forschung, wenn ich das so ausdrücken darf, in Ghibellinen und Guelfen gespaltet. Die Klassikstiftung Weimar - das ist sozusagen der Vatikan der Goethe-Forschung -, dort wirft man Ihnen einen selektiven Umgang mit Quellen vor - das heißt, dass Sie nur das verwerteten, was Ihre These stützt - und Entkontextualisierung. Das heißt, Sie zitierten aus dem Zusammenhang. Wie gehen Sie mit dieser Kritik um?

    Ghibellino: Nun, wir haben eine Erwiderung, ich gemeinsam mit Dr. Stefan Weiß, einem habilitierten Historiker, geschrieben und einfach dargelegt, dass nichts dran ist an solchen Vorwürfen. Nach fünf Jahren kommt so eine Stellungnahme, also das Ergebnis von fünf Jahren Widerlegung, wenn Sie so wollen, und dann eine ganz dürftige Stellungnahme, die sich nicht um die zentralen Widersprüche kümmert, sondern ein bisschen Geplänkel am Rande, die offenbart, dass diese Gralshüter im Umgang mit Archiven oder mit Rechnungsbüchern keine Ahnung haben, voll von Fehlern und eben Vorwürfen, die so nicht haltbar sind. Es beweist also diese Stellungnahme genau das Gegenteil dessen. Es beweist, dass man sich unbedingt dringend an einen Tisch setzen muss, denn eine Widerlegung ist eben offensichtlich nicht möglich.

    Heinemann: Dass ein Außenseiter von der Zunft platt gemacht wird, diese Erfahrung hat zuletzt der Sprachwissenschaftler Raoul Schrott gemacht mit seiner "Homer-These" und der Südverschiebung Trojas. Ist das Ihrer Meinung nach, Herr Ghibellino, kennzeichnend für den deutschen Wissenschaftsbetrieb, dass Einmischung von außen unerwünscht ist?

    Ghibellino: Das glaube ich nicht. Ich glaube das ist eine natürliche Reaktion. In meinem Falle ist sie insofern etwas unterschiedlich, als hier überhaupt nicht erwidert wird. Die Faktenlage ist so erdrückend, die Indizien, die Verdichtung so vieler Indizien - überlegen Sie mal: Ich habe über 200 Ansätze, die ich bringe - ist so erdrückend, dass meines Erachtens man eben durch die Ignoranz versucht, sich hinüberzuretten. Aber eine Erwiderung, eine konkrete, scheint unmöglich zu sein. Es ist hier offenbar ein Forschungsansatz, der außerordentlich würdig ist, weiter begangen zu werden. Wir stehen vor einem ersten Weimarer Jahrzehnt Goethes von 1775 bis 1786, das wir vermutlich komplett neu deuten werden können.

    Heinemann: Ettore Ghibellino, wenn wir dieses Gespräch in einigen Jahrzehnten führten, dann besteht die Befürchtung - zumindest aus heutiger Sicht; hoffentlich übertrieben oder unberechtigt -, dass viele Hörerinnen und Hörer Goethe kaum noch kennen. Gilt als "uncool" für junge Leute. Wie kann man junge Menschen für Goethe begeistern? Was raten Sie Lehrerinnen und Lehrern?

    Ghibellino: Wir haben in der Goethe-Gesellschaft festgestellt - Durchschnittsalter 75plus -, dass nur noch diejenigen, die in der Schule Goethe gehabt haben, auch im Alter sich dazu bekennen. Ich glaube, dass wir, um Goethe interessanter zu machen, eben seine Biographie auch in den Vordergrund stellen müssen. Solange er als Säulenheiliger gilt, als Unberührbarer, als Olympier und so weiter, werden wir niemand mehr erreichen können. Das ist leider ein wenig auch, was die Philologie aus ihm gemacht hat, unnahbar und der alles gewusst hat, der Tausend Jahre vorweg genommen hat und alles genau wusste. Das ist in der Tat der falsche Ansatz. Einen liebenden Goethe, der gelitten hat, und zwar auch einen hohen Preis bezahlen musste für seine Privilegien, das ist in der Tat wesentlich interessanter.

    Heinemann: Das heißt es ist deshalb schon wichtig, mit wem er in Weimar ins Bett gestiegen ist?

    Ghibellino: Das ist das Interessante. Wir fangen mit so einer Frage an - mit wem war er? Eine verbotene Liebe -, und enden damit, dass wir sein Gesamtwerk neu lesen können.

    Heinemann: Wann und wie ist bei Ihnen der Goethe-Funke übergesprungen?

    Ghibellino: Ich bin schon immer ein außerordentlicher Verehrer Goethes gewesen. Ich habe allerdings in der Schule eben gelernt, dass man Werk und Person trennen muss. Inzwischen weiß ich, dass das ein Fehler ist. Die Biographie eines Künstlers ist nicht immer, aber sehr oft und gerade bei Goethe von größter Bedeutung für die Interpretation seiner Werke.

    Heinemann: In den "Informationen am Morgen" sprachen wir im Deutschlandfunk mit dem Juristen Ettore Ghibellino, Autor des Buchs "Goethe und Anna Amalia - eine verbotene Liebe". Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.