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Warmherzig und ohne Pathos

Judith Kerrs Buch konfrontierte viele Kinder in Deutschland zum ersten Mal mit dem Nationalsozialismus. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das aus Berlin fliehen musste, weil sein Vater Jude und Literaturkritiker war.

Von Sandra Pfister | 04.11.2013
    Anna ist acht Jahre alt, als sie in Berlin, auf dem Schulweg, mit ihrer Freundin Elsbeth zusammen vor einem Hitler-Plakat stehen bleibt.

    "Da ist wieder ein Bild mit diesem Mann, (...) der guckt aber grimmig, und seine Augen sind ganz starr. - Adolf Hitler heißt der. Er will, dass alle bei den Wahlen für ihn stimmen, und dann wird er den Juden einen Riegel vorschieben. – Glaubst Du, er wird Rachel Löwenstein einen Riegel vorschieben? – Das kann keiner, sie ist Klassensprecherin. – Vielleicht macht er’s mit mir. Ich bin auch jüdisch. – Das stimmt nicht. – Doch. Papa hat es letzte Woche gesagt. Wir sind Juden. Und dass ich und Max, dass wir das niemals vergessen dürfen. – Aber Ihr geht samstags nicht in die Synagoge wie Rachel Löwenstein! – Weil wir nicht religiös sind, wir gehen überhaupt nicht in eine Kirche! – Wir müssen jeden Sonntag gehen, und ich kriege immer einen Krampf im Hintern. (...) O Mann, es ist schon zwei, ich komm‘ zu spät zum Essen."

    Wenig später wird Anna mit ihrem 11 Jahre alten Bruder Max und ihren Eltern in die Schweiz fliehen, kurz bevor Hitler an die Macht kommt. Denn ihr Vater ist nicht nur Jude, sondern auch ein berühmter Autor und Kritiker, dessen Bücher die Nazis später verbrennen werden. Darf man eine solch' tragische Geschichte aus einer naiven Kinderperspektive erzählen, und womöglich noch mit einer gewissen Leichtigkeit? Ja, man darf. Für diesen Tonfall ohne Pathos hat Judith Kerr auch Kritik kassiert: Als sie 1974 den Deutschen Jugendliteraturpreis bekam, sagten viele: Dieser naive Kinderblick ist dem Schrecken der Nazizeit nicht angemessen.

    Viele Lehrer, Eltern und vor allem Kinder haben das anders gesehen. Denn natürlich haben Kinder ein unterschwelliges Gefühl für die Bedrohung, die über ihrer Familie schwebt; doch ihre Verluste sind oft konkreter, unmittelbarer. Bei der Flucht vergessen Anna und ihr Bruder ihre Spielsachen.
    Anna: "Die haben wirklich alles mitgenommen? Auch unsere Sachen?"
    Bruder: "Ja, ich wusste ja immer, dass wir die Spielesammlung hätten mitnehmen sollen. Hitler spielt wahrscheinlich im Augenblick Dame damit."
    Anna: "Und hat mein rosa Kaninchen lieb."

    Max vermisst die Spielesammlung, Anna ihr Schmusetier – das, welches dem Buch den prägnanten Titel gegeben hat.
    "Anna versuchte es sich vorzustellen. Das Klavier war weg... die Vorhänge im Esszimmer mit dem Blumenmuster ... ihr Bett ... alle Spielsachen, auch das rosa Kaninchen. Es hatte schwarze, aufgestickte Augen – die Glasaugen waren schon vor Jahren ausgefallen (...) Warum nur hatte sie statt ihres rosa Kaninchens ihren blöden Wollhund mitgenommen? Das war ein arger Fehler gewesen, und sie würde ihn nie wieder gutmachen können."

    Die kleinen Dramen im großen Drama – dafür hat Judith Kerr ein untrügliches Gespür. Und das große Drama ist ja noch längst nicht zu Ende: Aus der Schweiz flieht Anna mit ihrer Familie nach Paris, und als auch dort das Geld knapp wird, weil der Vater kaum noch als Autor arbeiten kann, entscheidet sich die Familie für ein dauerhaftes Exil in London. Das geht mit einem sozialen Abstieg einher: Die Wohnungen werden immer kleiner und dunkler, die einst großbürgerliche Familie spart erst an den Dienstmädchen, zunehmend auch an Essen und Kleidung. Und obwohl sich dahinter echtes Leid verbirgt, ist die Kinderperspektive sehr viel gnädiger und lässt Raum für Situationskomik. Anna kann darüber lachen, wie ihrer verwöhnten, unpraktischen Mutter selbst Bratkartoffeln misslingen.

    "Mama rührte aufgeregt und mit rotem Kopf in einer Pfanne herum. – Ich wusste gar nicht, dass Du kochen kannst! – In fünf Minuten bin ich fertig. Ich mache Bratkartoffeln mit Rührei, das mögt Ihr ja so gern. – Prima! (...) Bis das Essen auf dem Tisch stand, dauerte es noch eine Stunde. Endlich lag sie todmüde neben Max im Bett. Wenn Heimpi für uns Rührei und Bratkartoffeln gemacht hat, dann ging das immer viel schneller. – Ich glaube, Mama braucht noch ein bisschen Übung."

    Anna nimmt es auch nicht tragisch, dass ihre Kleider immer wieder geflickt und verlängert werden, weil das Geld knapp ist. Viel existenzieller ist für sie ihr Sozialleben: dass sie in der Schweiz schnell Freunde findet, Freunde, die auch zu ihr stehen, als eine Nazi-Familie anrückt und ihren Kindern den Umgang mit den "Judenkindern" untersagt.

    Judith Kerr erliegt dabei nicht der Versuchung, im Nachhinein politisch kommentieren zu wollen. Sie traut sich als eine der Ersten, konsequent aus der Kinderperspektive auf die Nazizeit zu schauen – die sich eben manchmal naiv anhört.

    "Bis jetzt hat es mir nichts ausgemacht, ein Flüchtling zu sein, es hat mir sogar gefallen. Ich finde, die beiden letzten Jahre, in denen wir Flüchtlinge waren, waren viel schöner als die Zeit in Deutschland."

    Was sich aus Annas Mund naiv anhört, meint Judith Kerr durchaus ernst. Sie hat selbst mal gesagt: Die Flucht, die NS-Zeit war auch ein Abenteuer. Und eine Monstrosität zugleich. Eine Monstrosität, die deshalb von Literaturkritikern zum "nicht kindgemäßen" Sujet deklariert wurde.
    Judith Kerr belehrt sie eines Besseren, weil sie warmherzig, aber ohne Pathos schreibt. Zugleich gelingt ihr eine ironische Distanz zu ihrer tragischen Geschichte, der auch Kinder folgen können.

    Es gibt im Buch eine Szene, in der Anna noch vor der Flucht mit ihrer Schulfreundin Elsbeth überlegt, ob man als Kind berühmter Eltern berühmt werden könne. Die Antwort ist: Eher nein, denn berühmt werde nur, wer eine schwere Kindheit verbracht habe. Immer wieder überlegt die Zehn-, überlegt die Elfjährige, ob die Flucht das Zeug hat, ihre Kindheit zu einer schweren zu machen – damit sie später mal berühmt werden kann. Und immer wieder kommt Anna zu dem Ergebnis: Nein, die ganze Familie ist doch noch zusammen und niemand tot.

    Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Ravensburger Buchverlag. 276 Seiten, 9,99 Euro.