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Warnung vor der "Bildungskatastrophe"

In den 1960er-Jahren absolvierten nur sechs Prozent eines Jahrgangs das Abitur. Harte Kritik daran übte der Altphilologe, Religionshistoriker und Lehrer Georg Picht: Er stellte den Glauben an die Qualität des elitären Gymnasiums infrage. Heute wäre er 100 Jahre alt geworden.

Von Karl-Heinz Heinemann | 09.07.2013
    "Die Wahrheit ist, dass wegen der Vernachlässigung unseres Bildungswesens tragende Grundrechte unserer Verfassung Tag für Tag verletzt und missachtet werden."

    Am 1. Juli 1965 demonstrieren Studenten in Heidelberg gegen den Bildungsnotstand. Der Redner ist der Theologieprofessor Georg Picht.

    "Gegen diese Zustände demonstrieren wir heute. Die Regierungen und die Parlamente müssen jetzt handeln. Tun sie es nicht, so steht schon heute fest, wer für die dritte große Katastrophe in der deutschen Geschichte dieses Jahrhunderts verantwortlich ist."

    Die dritte große Katastrophe, von der Picht spricht, ist die deutsche Bildungskatastrophe. Er ist der Urheber dieses Begriffs, der bis heute den bildungspolitischen Diskurs prägt. 1964 löste er mit einer Artikelserie in der evangelischen Wochenzeitung "Christ und Welt" eine Debatte aus, in deren Folge sowohl die Studentenbewegung als auch die Bildungsexpansion in den 70er-Jahren stehen.

    "Es geschehen hier Verbrechen. Es geht um das reale Leben von zehntausenden und hunderttausenden von jungen Menschen, die … ihrer realen Lebenschancen beraubt werden."

    Picht rechnet vor: In Deutschland würden im Jahr 1970 6,8 Prozent eines Altersjahrgangs das Abitur erreichen, in den skandinavischen Ländern und in Frankreich wären es etwa 20 Prozent. Dass es heute knapp die Hälfte eines Altersjahrgangs ist, die das Abitur erreicht, auch, dass es heute nicht mehr, wie damals, nur ein Drittel der Gymnasiasten bis zum Abitur schafft, dass das katholische Mädchen vom Lande heute nicht mehr gegenüber dem protestantischen Stadtjungen benachteiligt ist – das ist zumindest zum Teil seinem Kassandraruf von damals zu verdanken.

    Reformer und Reformkritiker
    Georg Picht, geboren am 9. Juli 1913 in Straßburg, wuchs im Schwarzwald auf dem elterlichen Birklehof in Hinterzarten auf. 1932 richtete Kurt Hahn, der Gründer der Schlossschule Salem, dort eine Zweigstelle seines Internats ein. Der junge Altphilologe Picht begann an dieser Schule als Lehrer. Nach 1945 gründete er selbst die Internatsschule Birklehof, die er zehn Jahre lang leitete und die heute noch unter diesem Namen existiert.

    Als Mitglied des "Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen" arbeitete Picht in den fünfziger Jahren an der Bildungsreform. 1964 wurde er Professor für Religionsphilosophie in Heidelberg. Die Entwicklung der Hochschulen im Zuge der Bildungsexpansion rügte Picht 1982 scharf:

    "… die so genannte Universitätsreform hat … nicht etwa Freiräume für Elastizität geschaffen, die uns ermöglichen würde, dem rapiden und unkalkulierbaren Wandel der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, beruflichen Verhältnisse uns flexibel anzupassen, sondern sie hat stattdessen eine starre Reglementierung sämtlicher Studiengänge durchgeführt, und das hat zur Folge, dass Hunderttausende einem Drill unterworfen werden, der für ihr späteres Leben völlig nutzlos ist und sie nicht berufsfähig, sondern berufsunfähig macht."

    Seine Kritik lässt sich heute noch gegen die Bachelor- und Master-Studiengänge vorbringen. Picht widmete sich auch den "großen" gesellschaftlichen Fragen, dem Überleben der Menschheit und dem "Philosophieren nach Auschwitz und Hiroshima", wie eine seiner Schriften mit Blick auf Adorno heißt. Nur eine Weltregierung werde die ökologische Katastrophe und das Problem der Welternährung lösen können, meint er schon in den 60er-Jahren in einer Rundfunkvorlesung:

    "Ich fürchte, dass inzwischen ein Prozess in Gang gekommen ist, der die hoch entwickelten Industriestaaten so tief erschüttern wird, dass wegen unserer Unvernunft … in der Form von schweren Krisen schließlich (sich) die Veränderungen vollziehen, die wir, wenn wir gut beraten gewesen wären, freiwillig und vernünftig vollzogen hätten."

    Am 7. August 1982 starb Georg Picht 69-jährig auf dem Birklehof, wo er fast sein ganzes Leben verbracht hatte.