Freitag, 19. April 2024

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Warten auf die Muse

Bereits zu seinen Lebzeiten war Eduard Mörike ein umstrittener Dichter. Wilhelm Raabe nannte ihn eine "quabblige faule Natur", Heinrich Heine zog in seiner Kritik der Romantischen Schule mit ätzendem Spott über den Schwaben her. Nach seinem Tod rief der Erfinder des Übermenschen Friedrich Nietzsche dem Autor des Alten Turmhahns verächtlich: "Schwammig" und "weichlich" nach, und für den marxistischen Literaturpapst George Lukasz war Mörike ohnehin nicht viel mehr als ein "niedlicher Zwerg". Längst hatte sich in der Literaturgeschichte und dem Bewusstsein des Lesepublikums das Bild des schwächlichen Menschen, Idyllikers und Hinterwäldlers festgesetzt. Vor etwas mehr als 20 Jahren schrieb die Lyrikerin Ursula Krechel über Mörike: "Nein, meine Anteilnahme hat dieser Dichter nicht. Andere haben ihn ja schon für sich gepachtet, ihm den Bratenrock der eigenen Ängstlichkeit aufgeknöpft; ich für mein Teil möchte ihn zugeknöpft lassen. Es ist, als lebte dieser Dichter in einer tieferen, längst verkarsteten Schicht."

Von Jan Koneffke | 08.09.2004
    Wer aber sind "die anderen", von denen Ursula Krechel spricht? Das waren die Germanisten der Nachkriegszeit, die Holthusens, Benno von Wieses und Emil Staigers, die den schwäbischen Dichter zum Kronzeugen einer unbefleckten Literatur machten. Mit Mörike wusch man sich von einer Vergangenheit rein, die einen Nietzsche und sogar einen Goethe für die Ideologie der Herrenrasse hatte missbrauchen können, in Mörikes Mondscheingärten oder bei seinem Riesen Suckelborst, der "weder ein Halbgott, noch ein Begeisterter, sondern ein Schweinpelz" ist, aber schwerlich Verwertbares finden konnte. Seinen Apologeten galt Mörike als "reine Dichterseele", unpolitisch – das war auch eine Spitze gegen die Gruppe 47 – nicht von den Zeitläuften beeinflusst, aber die verlorene "Eigentlichkeit" beschwörend, ein Poet der Innerlichkeit, bei dem sich die konservative Elite, die die Nazizeit in der sog. "inneren Emigration" überdauert hatte, zu Hause fühlte.

    "Es war ihm verwehrt, das Leben anders denn als vergangenes anzuerkennen", hieß es bei Emil Staiger. "Für ihn gab es nur Natur, nicht aber Geschichte", echote Benno von Wiese, der dem Dichter außerdem unterstellte, vor einem "Zuviel an Glück" zurückgeschreckt zu sein. Da blieb Mörike nur, folgerte v. Wiese schlagend, "die innere Diät." Aber trifft der Leitsatz des Spießers auf Mörike zu? Gehörte der Dichter zu jenen "Musterschülern des Lebens", über die Walter Benjamin spottete: "Daß am Schönen auch das Glück noch Anteil haben könnte, das wäre zuviel des Guten, darüber würde ihr Ressentiment sich niemals trösten."?
    Das berühmte "Gebet", Generationen von Schülern eingebleut, scheint den Verteidigern des provinziellen Dichtergemüts zuächst recht zu geben:

    Herr, schicke was du willst
    Ein Liebes oder Leides
    Ich bin erfreut daß beides
    Aus deinen Händen quillt

    Wollest mit Freuden
    Und wollest mit Leiden
    Mich nicht überschütten
    Doch in der Mitten
    Liegt holdes Bescheiden


    Allerdings übersahen sie geflissentlich, dass die früher entstandene zweite Strophe, zuerst im Maler Nolten abgedruckt, dort das Morgengebet der bereits wahnsinnigen Agnes ist. Die Verse werden von ihr kommentiert mit den Worten: "Ja, nichts geht über die Zufriedenheit. Gottlob, diese hab ich; fehlt nur noch eins, fehlt leider nur noch eins!" Verfolgte Mörike mit seiner Mozart-Novelle wirklich das Ziel, "die Geschehnisse der französischen Revolution rückgängig zu machen und das verlorene Paradies des Ancien Règime ... noch einmal zum Leben zu erwecken", ganz im Geiste des Wiener Kongreßes, wie ein Interpret kühn behauptete? Offenbar hatte er folgende Zeilen der Novelle überlesen:

    (Das Orangenbäumchen) konnte ... als lebendes Symbol der feingeistigen Reize eines beinahe vergötterten Zeitalters gelten, worin wir heutzutage freilich des wahrhaft Preisenswerten wenig finden können, und das schon eine unheilvolle Zukunft in sich trug, deren welterschütternder Eintritt dem Zeitpunkt unserer harmlosen Erzählung bereits nicht ferne mehr lag.

    War Mörike restaurativ auch in seiner – vermeintlichen – Absicht, die Literatur der klassischen Zeit wiederherzustellen, wie Emil Staiger behauptete? Als ein Beleg dafür galt Mörikes gelegentliche Verwendung der klassischen Form, etwa des Distichon, wie beim Epigramm Leichte Beute:

    Hat der Dichter im Geist ein köstliches Liedchen empfangen,
    Ruht und rastet er nicht, bis es vollendet ihn grüßt.
    Neulich so sah ich, o Schönste, dich erstmals flüchtig am Fenster,
    Und ich brannte: nun liegst heute du schon mir im Arm!


    Aber wie lässt sich Mörikes angeblicher Klassizismus mit dieser Verkehrung von Motiv und Resultat in Einklang bringen? Die Klassik hätte die Schönste am Fenster zum "Material" der poetischen Sublimation gemacht, während Mörike aus der Erfahrung keine klassische Sentenz schlägt, sondern umgekehrt das Distichon in der immaginierten erotischen Erfüllung gipfeln lässt. Vollends unterlaufen wird die klassische Form schließlich in der parodistischen Verwendung einer antiken Odenform: der alkäischen Strophe. Das springt besonders krass in die Augen, wenn man Hölderlin, der dieselbe Odenform benutzte, und Mörike nebeneinanderhält. Hier die Griechenlandsehnsucht, der moderne Mythos, dort die Prosa des bürgerlichen Lebens in einer Poetisierung des Banalen, die auf die Entpoetisierung der überlieferten lyrischen Sphäre hinausläuft.
    Hölderlin dichtet:

    Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom
    Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat
    So kehrt auch ich zur Heimat hätt ich
    Güter soviele wie Leid geerntet


    Und Mörike:

    Verzeih! Im Jägerschlößchen ist frisches Bier
    Und Kegelabend heut: ich versprach es halb
    Dem Oberamtsgerichtsverweser
    Auch dem Notar und dem Oberförster.


    Der "Fall Mörike" scheint doch komplizierter zu liegen, als es Apologeten und Kritiker meinten. Und in der Tat gab es immer wieder individuelle Stimmen, die dem Dichter einen ganz anderen Platz in der Literaturgeschichte zuweisen wollten. Der jüngst verstorbene, seinerzeit zur Gruppe 47 gehörende Walter Höllerer etwa beobachtete bereits in den 50er Jahren an Mörikes Poetisierung der geringsten Gegenstände, daß dieses Verfahren gleichwohl nicht zu ihrer Romantisierung führt. Helmut Heißenbüttel vergewißerte sich in den 60er Jahren an Mörikes Versen des Konkreten in der Poesie. Am Gedicht Der Petrefaktensammler zeigte Heißenbüttel, wie Mörike in seiner mittleren Phase das metaphorische Sprechen zum stofflich-materiellen Sprechen hin aufbricht. Und ebenfalls in den 60er Jahren interpretierte Theodor W. Adorno ein Gedicht Mörikes ausgerechnet in seiner "Rede über Lyrik und Gesellschaft", und sprach vom "geschichtsphilosophischen Takt" des Dichters.

    Unpolitisch war Mörike jedenfalls nicht, wie etwa seine Briefzeilen von 1848 beweisen:


    Wir lesen gegenwärtig Coopersche Seeromane, die eine gute Unterhaltung unter allen Umständen sind. Die Nachrichten aus Frankreich aber verschlingen billig alle anderen Interessen und lassen einen selbst die Sorge um den eigenen kranken Leib vergessen. Das geht doch Schlag auf Schlag, wie man noch nichts erlebte.

    Und als die Revolution in Baden und der Pfalz gescheitert war, bemerkte er enttäuscht:

    Mag immerhin die Poesie und Literatur noch eine Zeit lang ruhn, wenn es nur um die Interessen, hinter welchen sie billig zurücksteht, jetzt nicht so traurig stünde! Ich möchte wissen, ob Sie für die deutsche Sache noch irgend eine andere Hoffnung sehn, als die auf einer neuen Revolution? Kaum!

    Viele Jahre später hingegen, 1871, schrieb er den Deutschen Kriegern ins Stammbuch:

    Bei euren Taten, euren Siegen
    Wortlos beschämt hat mein Gesang geschwiegen
    Und viele, die mich darum schalten
    Hätten wohl besser den Mund gehalten.


    1. Sprecher:
    Nein, Mörike, der übrigens gar nicht Pfarrer werden wollte, sondern es aus ökonomischen Gründen werden musste, der seiner moralisch-rigiden Schwester Luise nicht einmal "frischweg" antworten konnte, als sie, im Sterben liegend, ein Glaubensbekenntnis von ihm verlangte, hielt nicht viel von politischen Versen, aber nicht, weil er unpolitisch war oder auf die Autonomie der Kunst pochte, sondern weil sich sein ästhetisches Empfinden gegen sie sträubte. Man vergleiche nur die Plattheiten der Gedichte eines Freiligrath, Herwegh oder Fallersleben mit dem Tönereichtum Mörikescher Verse.

    Das eigentlich Verwirrende an seiner schmalen Produktion ist die Individualität jedes einzelnen Gedichts, und auch das war ein Grund für die Schwierigkeit, Mörike zu klassifizieren. Heinrich Heines Verse und selbst die Gedichte eines Joseph v. Eichendorff etwa wirken gegen die Mörikes wie Manufakturprodukte, und lassen sich dementsprechend auch epigonal nachahmen, was die Gedichte des Schwaben nicht erlauben.

    Mörike war übrigens kein Vertreter der "zweckfreien Kunst." Unfähig, den Prozess der Verfertigung eines Gedichtes zu organisieren, wartete er auf den günstigen Augenblick. Die Gelegenheit machte den Dichter, und er ergriff sie. Es liegt in der gleichwohl paradoxen Logik dieses unwillkürlichen Verfahrens, das der Dichter der Gelegenheit zum Dichter für die Gelegenheit wurde. Je älter Mörike wurde, umso mehr Geburtstags- und sonstige Anlaßgedichte verfasste er.
    Wenn man sich mit den jüngst erschienen Biographien Mörikes beschäftigt, hat man, trotz deutlicher Fortschritte in der Forschung, noch immer das Gefühl, das Bild des schwäbischen Dichter sei verstellt. Dabei lassen sich an dem äußerst unheilvollen, ja finsteren Roman Maler Nolten, der lange fälschlicherweise als "Schicksalsroman" bezeichnet wurde und leider immer noch wird, die Spuren einer engen, inneren und äußeren Zwängen ausgelieferten Gesellschaft erkennen, in der keiner seiner Helden derjenige sein oder werden darf, der er ist oder werden möchte.

    Mörikes Buch ist ein Gesellschaftsroman, in dem die Handlungen seiner Protagonisten von einem dunklen Schuldzusammenhang determiniert sind. So dunkel, wie die Germanistik meinte, ist dieser Schuldzusammenhang dann aber doch nicht: Er hat seinen Ursprung in der Entführung einer Zigeunerin, der Aneignung des Naturhaften aus Besitztrieb, nicht aus Liebe, durch einen Oheim des Nolten. So wie die Zigeunerin, die "krank geworden vor Heimweh nach ihren Wäldern" in der zivilisierten Fremde bald zugrunde geht, symbolisch für das freie, natürliche Leben steht, so zwanghaft, unfrei bewegen sich in Mörikes Roman die zivilisierten Helden. Die einmal begangene Schuld bezahlen sie nicht nur samt und sonders mit dem Leben, sondern sogar mit dem Tod, denn am Ende kehren sie als Untote wieder.

    Anzunehmen, Mörike hat im Roman, wie unbewusst auch immer, seine Zeit und die Zwänge, denen er sich selbst ausgeliefert sah, porträtieren wollen. Anzunehmen, auch er durfte nicht sein oder werden, der er war. Von seiner berühmten "Faulheit" läßt sich jedenfalls sagen, daß sie, wie seine Krankeiten, wohl auch ein Stück Verweigerung war. Der Schwabe Mörike hat als einer der wenigen seines pietistischen Landstrichs und eines Jahrhunderts, das im Maschinentakt begann, den Menschen das bürgerliche Arbeitsethos einzuhämmern, den Traum vom nutzlosen Leben geträumt. Ein wahrhaft lyrischer Taugenichts also, der "den halben Vormittag mit unsteten Gedanken lesend und brütend auf dem Bett" lag, durch den Garten schlenderte und "die Hummeln in den Sonnenblumen wühlen" sah.