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Warten auf Erika

Die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, gehört in Polen zu den bekanntesten Deutschen - im negativen Sinne. Trotzdem wartet in einem kleinen polnischen Ort die 69-jährige Hildegarda Dawidowska sehnsüchtig auf einen Besuch der CDU-Politikerin.

Von Ernst-Ludwig von Aster | 17.11.2009
    Auf der Landstraße rollt der Berufsverkehr Richtung Danzig. Schnurgerade zieht sich das Asphaltband durch die Landschaft, links und rechts gehen Kleinstädte ineinander über, nur an den Ortsschildern erkennt man die Gemeindegrenzen. Erst kommt Reda, dann Rumia.

    "Tlumiki Haki Hol", "Auspuffe und Anhängerkupplungen" wirbt ein großes Schild über einer Hof-Einfahrt. Darunter stemmt sich eine zierliche Frau mit aller Kraft gegen ein großes, rotes Eisentor. Schiebt es langsam zur Seite. Hildegarda Dawidowska wischt sich mit dem Ärmel ihrer weißen Windjacke den Schweiß von der Stirn. Dann geht die Rentnerin langsam auf den gepflasterten Hof.

    "Mein Vater war Metzger, hier wurden die Schweine geschlachtet und Wurst gemacht. Und meine Mutter hat das dann verkauft. Und dann war hier noch ein großer Garten."

    Braunrot leuchten die Fassaden der Gebäude in der Sonne. Vorne, zur Straße hin, ein Lebensmittelgeschäft, links auf dem Hof, in der ehemaligen Fleischerei, ein Auspuffhandel:

    "Hier haben die Hermanns gewohnt", sagt Dawidowska. Und deutet nach rechts auf einen Flachbau mit zwei großen Metalltoren. Von den "Hermanns" hat ihr Vater viel erzählt. Eine deutsche Soldatenfamilie, nach dem Naziüberfall auf Polen nach Rumia abkommandiert. Was bei den Nationalsozialisten fortan Rahmel hieß. Hildegarda lebte mit ihren Eltern hier im Haus. Die Hermanns im kleinen Nebengebäude.

    "Meine Mutter sagte damals zu mir, dass da drüben ein Kind zur Welt kommen sollte. Und dass es besser wäre, wenn das Kind in unserem Zimmer zur Welt käme. Es ist dann bei uns geboren worden. Danach ist Frau Hermann mit dem Kind nach Hause gegangen."

    Drei Jahre ist Hildegarda damals alt. Sie erinnert sich so gut, weil ihr Vater die Geschichte immer wieder erzählt hat. Das Kind, das bei ihnen in der Wohnung zur Welt kommt, taufen die Hermanns auf den Namen Erika. Fast jeden Tag besucht Hildegarda die kleine Deutsche, wiegt sie in den Armen. Eines Morgens aber, im Januar 1945, ist die Familie verschwunden.

    "Ich erinnere mich noch, ich bin immer morgens früh zu Hermanns gegangen. Und eines Morgens waren sie weg. Von allen haben sie sich verabschiedet. Nur von mir nicht. Mein Vater sagte, sie wollten mir nicht weh tun."
    Die Hermanns flüchten vor der heranrückenden Sowjetarmee. Mein Vater
    dachte, dass die Familie an Bord der "Gustloff" gewesen wäre, sagt die Rentnerin. Die "Wilhelm Gustloff" wurde am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot versenkt, rund 9000 Flüchtlinge starben. Vor allem Frauen und Kinder. Dawidowska schüttelt den Kopf. Blickt betrübt durch die großen Brillengläser. Dass die Hermanns überlebt haben, weil sie auf einem anderen Schiff waren, erfährt sie erst viel später.

    Hildegarda Dawidowska schließt das rote Eisentor, geht zum Wagen. Von Rumia geht es Richtung Reda. Rechts reihen sich riesige Supermärkte aneinander.

    "Dort war früher der Flugplatz", sagt die Rentnerin, "dort haben die Hermanns gearbeitet." Bis sie vor den heranrückenden Russen flüchteten

    "Nein, vertrieben hat sie hier niemand." Sagt Dawidowska. Und blickt ernst. Sie sind als Besatzer gekommen. Und als Flüchtlinge gegangen.

    Die Renterin parkt den Wagen vor einem Flachbau in der Harcerska-Straße. Fingert den Schlüssel aus der Tasche, öffnet die Holztür zu einem zweistöckigen, kleinen Haus. Hinter der Tür wartet schon eine schwarze Mischlingshündin.
    Vier Uhren ticken in dem kleinen Wohnzimmer, auf dem Schrank ein Foto von ihrer Hochzeit, gleich daneben zwei Papstporträts. "Setzen Sie sich doch", bittet die 69-Jährige, eilt in die Küche. Kommt kurz darauf mit Kaffeetassen und selbst gebackenem Kuchen zurück. Hildegarda Dawidowska setzt sich in einen der alten Sessel, atmet tief durch. Nimmt einen Schluck Kaffee. Schließt kurz die Augen. Erinnert sich an den Augenblick, als die kleine Erika Hermann vor ihren Augen das erste Mal wiederauftauchte. Im polnischen Fernsehen. Als Erika Steinbach.

    "Ich saß auf diesem Sessel, da drüben lief der Fernseher. Da wurde eine Frau interviewt. Plötzlich fing mein Herz immer stärker an zu klopfen. Ich denke, was ist denn mit mir los? Ich kenne diese Person doch gar nicht. Was ist los mit mir? Ich zitterte, und als sie anfing zu erzählen, dass sie in Rumia gewohnt hat, da habe ich mich an die Worte meines Vaters erinnert."
    Und an seine Erzählungen über die kleine Erika. Hildegarda Dawidowska recherchiert weiter. Findet heraus, dass Erika Steinbach tatsächlich eine geborene Hermann ist. Und in Rumia zur Welt kam. Die Rentnerin nimmt all ihren Mut zusammen. Schreibt einen Brief. An die Chefin des Bundesverbandes der Vertriebenen, die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach.

    "Ich habe ihr zuerst geschrieben. Bei uns zuhause haben wir doch so viel über die Familie Hermann gesprochen. Mein Vater sagte, wenn sie überlebt hätten, dann hätten sie sich gemeldet. Aber wir dachten jahrzehntelang, dass sie auf der Gustloff gestorben wären."

    Die Rentnerin geht zum großen Wohnzimmerschrank. Öffnet ein Fach unten links. Da sammelt sie ihre Briefe. Und Unterlagen. Obenauf liegt ein kleiner, postkartengroßer Zettel. Polnische Wörter, daneben per Handschrift die deutschen Übersetzungen.

    Im Stapel darunter ein Briefumschlag. Oben links, aufgedruckt der Bundesadler, darunter der Absender: Erika Steinbach, Mitglied des Deutschen Bundestages, Sprecherin für Menschenrechte und humanitäre Hilfe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Mit zitternden Händen zieht Hildegarda Dawidowska den Brief heraus.

    Liebe Frau Dawidowska,
    für die Advents- und Weihnachtszeit wünsche ich Ihnen und ihren lieben Angehörigen alles Gute. Ich hatte mich seinerzeit sehr über ihren lieben Brief gefreut. Seither überlege ich, wann ich Sie besuchen kann. Für das Frühjahr nächsten Jahres habe ich es mir fest vorgenommen. Ich werde mich mit Ihnen rechtzeitig in Verbindung setzen. Und freue mich sehr auf die Begegnung mit Ihnen. Mit herzlichen Grüßen, Erika Steinbach

    Ein Schreiben aus dem November 2007. "Ich habe mich damals so gefreut", sagt die Rentnerin. Doch sie wartet vergeblich. Aus der angekündigten Begegnung wird nichts. Im Frühjahr 2008 nicht. Im Frühjahr 2009 auch nicht. In den polnischen Medien dagegen ist Erika Steinbach fast wöchentlich präsent. Neben der Kanzlerin Angela Merkel ist sie die bekannteste Deutsche in Polen.

    Und sorgt als Chefin des Vertriebenenverbandes regelmäßig für Negativschlagzeilen. "Polenfeindlich" nannte sie der polnische Deutschland-Beauftragte Wladislaw Bartoszewski. Und eine "Berufsrevanchistin". Hildegarda Dawidowska schüttelt den Kopf:

    "Mich interessiert das nicht, was die Leute über sie sagen. Diese Vertriebenendiskussion ist doch überflüssig. Die Polen haben so viel durch den Krieg verloren."
    Vorsichtig legt sie den Brief auf den Tisch. Neben ihren Vokabelzettel. Streicht mit der Hand darüber. Die Hand zittert. "Ich möchte Frau Steinbach gerne sehen", sagt sie. "Uns verbindet doch die Kindheit."
    Nein, sie hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Dass die kleine Erika von einst demnächst einmal ihren Geburtsort besucht. Und sie ihr ihre Geschichte erzählen kann.