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Warum 100-Jährige den Diskus schwingen?

Jugendlichkeit, Waschbrettbauch und der Sex-Appeal wohl-proportionierter Muskelpakete – das sind die üblichen TV-Bilder von Olympia und WM. Seit 8. Juli ist der Film "Herbstgold" in den Kinos. Und der zeigt ganz andere Bilder von Sporttreibenden im Alter von 80 bis 100 Jahren.

Von Gerd Michalek | 25.07.2010
    Ob Fußball-WM oder Olympische Spiele - jeder kennt die Mega-Ereignisse des Sports. Was läuft dagegen bei einer Senioren-Weltmeisterschaft der Leichtathletik ab? Was treiben sich dort für Leute herum? Das interessierte Jan Tenhaven. Der sport-unbedarfte Regisseur aus Berlin befürchtete, eine Freak-Show zu sehen. Doch er war positiv überrascht:

    "Was das für eine große ernsthafte Veranstaltung ist und mit welcher Ernsthaftigkeit sie Sport betreiben. Obwohl sie wissen, dass sie jedes Jahr langsamer laufen weniger weit werfen, verzweifeln die daran nicht, gehen immer an ihre Grenzen, obwohl sie immer enger werden. Und dieses Paradoxon hat mich völlig fasziniert, mit welchem Humor, mit welchem Lebensmut und auch Lebensweisheit sie damit klar kommen. Sport ist ja ein ganz brutaler Gradmesser für die Vergänglichkeit des Körpers, mit kriegt ja in Sekunden und Millisekunden vorgehalten, dass der Körper abbaut."

    Das merken auch die Protagonisten dieses Films, aber sie lassen sich nicht entmutigen: Jiri, der 82 jährige Hochspringer aus Tschechien will bei der WM im finnischen Lathi die 1,09 Meter überqueren. Ilse, die 85-jährige Kielerin, kämpft im Kugelstoßen an einer anderen Traumgrenze.

    "Der Weltrekord in der 85er-Klasse liegt bei 5,89m. Ich möchte gerne noch mal die sechs Meter erreichen."

    Auch Alfred, der 100-jährige Diskuswerfer aus Wien, will Gold holen - trotz frisch operiertem Kniegelenk:

    "Ich habe einen unbändigen Ehrgeiz, ich bin ungern Zweiter, lieber Erster!"

    Herbert aus Stockholm kann mit 93 immer noch nicht den 100 Meter-Sprint sein lassen:

    "Ich bin ein kleiner Angeber, aber diese kleine Krankheit darf man doch haben. Ich hoffe, dass es eine gute Reklame ist, nicht nur die Kinder sollen Läufer werden, sondern auch die älteren Menschen."

    Herbert ist nicht der einzige, der selbstironisch und zielstrebig zugleich das Traumziel WM verfolgt. Im Grunde sind alle fünf Athleten Sympathie-träger: Der etwas grantelnde Wiener Alfred, der sich neben dem Diskuswurf auch der Aktmalerei verschrieben hat. Wie die italienische Diva Gabre, die ihren Trainer Quälgeist nennt - eine stattliche 93-jährige Diskuswerferin:

    "Die Gabre war schon bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin dabei und hat viel weiter geworfen. In der Jugend hat sie den Diskus über 40 Meter geworfen. Jetzt ist es ihr großes Ziel den Diskus noch mal 13 Meter zu werfen! Aber sie ist sich nicht zu schade dafür. Sie sagt nicht, ich habe meinen Zenit überschritten und lehnt sich nicht zurück, sondern sie geht raus und schminkt sich, zieht die Ohrringe an, setzt die Sonnebrille auf und gibt, was sie kann, auch wenn es nur zwölf Meter und etwas ist. Das hat mich so fasziniert. Es geht mir um die Einstellung, nicht um die absolute Leistung."

    Was den Charme des Films ausmacht, ist nicht nur der trockene Humor, mit dem die greisen Sportler ihre Leistungen bewerten und den Alltag bewältigen, sondern die kontrastreichen Lebenswelten der Filmhelden. Ob tschechischer Plattenbau oder Wiener Atelier - alle fünf haben noch Geschichten abseits der Laufbahn zu erzählen. "Herbstgold" ist kein Sportfilm im engeren Sinn wurde. Sport ist ein Vehikel und füllt das Vakuum einsamer Menschen, die - wie Sprinter Herbert Liedtke - ihren Lebenspartner verloren haben. Außerdem ist Seniorensport nichts, was bei Sportmedizinern wie Professor Hans-Georg Predel per se Alarmglocken auslöst:

    "Ich finde das grundsätzlich sehr förderungswürdig, und ganz positiv. Dass sehr alle Menschen - also 80 plus- noch leistungssportliche Gedanken haben mag zwar auf den ersten Blick als abwegig erscheinen, ist aber ein wichtiger Trend. Es muss natürlich alles zusammenkommen: genetisches Glück, lebenslanges Sporttreiben Leben und ein Schuss Exzentrizität."

    Der mut machende Film bringt etwas auf die Leinwand, was medial durchs Raster fällt:

    "Die Seniorenmeisterschaften sind ja große Veranstaltungen, da kommen 5000, 6000, 7000 Leute aus de ganzen Welt, aber die Tribünen sind ziemlich leer. Weil: Es interessiert keinen, es gibt auch keine Sponsoren. Sponsoren interessieren sich nicht für alte Menschen, weil die denken, da ist kein Markt hinter, da ist kein Geld. Es sind so komische Parallelveranstaltungen mit leeren Tribünen. Die Medien berichten nicht darüber."

    Daher sind die Mitwirkenden sehr stolz darauf, dem Seniorensport eine Plattform zu geben. Hochspringer Jiri Soukup:

    "In meiner sportlichen Karriere ist dieses Film wie ein Gipfel! Es hat sehr großen Sinn für alte Leute, sie sehen, dass sie mit Sport etwas Neues erleben können."

    Wohltuend wenig hält sich "Herbstgold" mit Rückschauen und Fotoalben betagter Sportler auf. Statt im Retro-Blick zu verharren, setzten sie sich Ziele im Sport. Sie schauen nach vorne - in die noch verbleibende Zukunft! Zugegeben - keine große Spanne bei 100jährigen. Aus ästhetischen Gründen mag mancher einwenden, man hätte jüngere Athleten nehmen können: Der aktuelle Weltseniorensportler Guido Müller beispielsweise sprintet mit 71 Jahren die 100 Meter in flotten 13 Sekunden und hätte dem Film mehr Schauwerte verliehen als ein 93-Jähriger, der dafür 19 Sekunden braucht. Doch darum ging es Regisseur Tenhaven nicht. Im Fokus steht die Lebenseinstellung der Greise - nicht Leistungen und Bewegungsästhetik. Dass Tenhaven mit seinem 100-jährigen Diskus-Protagonisten gleichwohl Debatten um Extreme auslöst, ist ihm bewusst:

    "Die Befürchtung ist immer, dass man sich nur diese Extremfälle rauspickt, die dann gutes Fernsehen machen, gute Bilder bringen. Nur ist es bei uns so, erstens: die bringen, wie ich finde, verdammt gute Leistungen, vor allem wir gucken auch hinter die Fassade. Wir haben auch den 100jährigen, der nachher mit dem Rollator auf den Platz kommt, wir zeigen die Geschichte, wie er da hinkommt."

    Der Weg ist zweifellos das Ziel. Nicht "für ewig jung sein" ist das Motto der fünf Athleten auf dem Weg nach Lathi - sondern zu merken, dass man lebendig ist. Sprinter Herbert Liedtke:

    "Jeden Tag - irgendwie die Blutzirkulation geht rund in meinem Körper. Das will ich haben!"