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Kinder- und Jugendsportbericht
Warum Bewegung so wichtig ist

Mindestens 45 Minuten körperliche Aktivität pro Tag empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation für Kinder und Jugendliche. Doch schon dieses Minimum erfüllen in Deutschland 80 Prozent der Heranwachsenden nicht. Der aktuelle Kinder- und Jugendsportbericht schlägt Alarm - und das nicht wegen Corona.

Von Jessica Sturmberg | 31.10.2020
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"Es geht um ein Wohlfühlgefühl und Lebensqualität", betont Sportmedizinerin Christine Joisten, Mitautorin des aktuellen Kinder- und Jugendsportberichts. (imago sportfotodienst)
Es gibt viel zu sagen zum Zustand des Kinder- und Jugendsports in Deutschland. Das Grundfazit lautet: die meisten bewegen sich zu wenig. Zu viele Kinder haben keinen Zugang zu Bewegungsangeboten, zu Vereinsangeboten, der Schulsport kommt zu kurz. Es werden zu wenig Anreize gesetzt. Es müsste sich einiges ändern, damit es sowohl im Schul- als auch Freizeitbereich so läuft, wie an dieser Kölner Grundschule, wo die Kinder mit Spaß am Sportunterricht mitmachen.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt für Kinder und Jugendliche mindestens 45 Minuten körperliche Aktivität am Tag. Besser wären 60 Minuten Bewegung mit wenigstens moderater Intensität. Herumtoben, Laufen, Radfahren, Bewegungsspiele oder das Ausüben einer Sportart.
Aber schon das Minimum erfüllen 80 Prozent der Heranwachsenden nicht, und die Tendenz, die es zuvor schon gab, dass die Aktivität weiter abnimmt, je älter die Kinder werden, ist jetzt noch stärker geworden, sagt der Sportsoziologe Christoph Breuer von der Deutschen Sporthochschule in Köln, unter dessen Leitung der vierte Kinder- und Jugendsportbericht erstellt wurde:
"Was sich jetzt schon deutlich herausstellt, ist, dass es stark abnimmt, dass es bei weiblichen Jugendlichen, insbesondere bei weiblichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund überproportional stark abnimmt."
Medienkonsum als Sportkiller?
Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Kinder, die aus weniger wohlhabenden Haushalten kommen, sind seltener Mitglied in einem Verein, haben in ihrem Wohnumfeld seltener geeignete Spielplätze mit Bewegungsangeboten, oder allgemein zugängliche Sportplätze. Und dann ist da noch das, was wohl viele Eltern täglich mit ihren Kindern in Konflikt bringt und was auch Einfluss auf Bewegungsmangel hat:
"Dass der durchschnittliche Medienkonsum bei Jugendlichen in Deutschland inzwischen bei 42,5 Stunden in der Woche liegt, also mehr als letztlich die Arbeitszeit beträgt."
Das betonte Sportpädagoge Werner Schmidt, Mitautor der Studie, bei der Vorstellung des Berichts diese Woche in der Villa Hügel in Essen. Die Weltgesundheitsorganisation macht die "elektronische Revolution" schwerpunktmäßig dafür verantwortlich, dass Kinder sich zu wenig bewegen, mehr sitzen und mehr gefahren werden.
Sportsoziologe Christoph Breuer weist wiederum darauf hin, dass die Rolle der Digitalisierung differenzierter zu betrachten sei:
"Die Digitalisierung, digitale Medien sind nicht nur Gefährdung des Bewegungsstatus von Kindern und Jugendlichen, sondern sie bieten auch vielfältige Möglichkeiten, Bewegungsanreize zu setzen. Es gibt die Gruppe der sogenannten Exergames, wo man sich aktiv bewegen muss um im Spiel zu gewinnen. Es gibt in der Gesundheitsförderung vielfache Belohnungssysteme über Apps, wenn bestimmte Bewegungsziele erreicht werden."
Diese beiden Trends seien gegenläufig, der Prozess dynamisch und es müsse weiter geforscht werden, was hier langfristig überwiege.
Warum Sport so wichtig für die Gesundheit ist
Klar ist dagegen, wie auf den allgemeinen Trend des Bewegungsmangels reagiert werden müsse. All jene Kinder, die nicht von sich aus oder von den Eltern initiiert zu den Sportangeboten kommen, müssten anders erreicht werden. Und zwar so, "dass es Kindern und Jugendlichen möglichst einfach gemacht wird, sich zu bewegen und das bedeutet eben, dass die Kinder und Jugendlichen nicht wie es bisher ist, zu den Sportgelegenheiten gebracht werden sollen, sondern dass die Bewegungs- und Sportgelegenheiten zu den Kindern gebracht werden. Dort, wo sie ihre Zeit verbringen", erklärt Breuer.
Auch die Verlängerung von Schulpausen bringen die Autoren des Berichts in die Diskussion, sinnvoll sei auch eine Pause innerhalb einer Unterrichtseinheit, etwa dass "beispielsweise selbst in den Mathematikunterricht, wenn es um Rechenaufgaben geht, hier Bewegungselemente einbaut, das wäre revolutionär. Aber es scheint aufgrund der Forschungslage auch die Zeit gekommen für kleine Revolutionen im kognitiven Unterricht."
Kinder, die in frühem Alter nicht zu Sport und Bewegung angeregt werden, werden es mit zunehmendem Alter umso weniger. Die Folgen für die Gesellschaft: Mehr Fettleibigkeit, mehr Krankheiten, höhere Gesundheitskosten und eine kürzere Lebenserwartung, die, wenn der Trend nicht umgekehrt wird, bei den Kindern geringer werden könnte im Vergleich zu ihren Eltern. Sportmedizinerin Christine Joisten, die dritte Autorin der Studie, betont vor diesem Hintergrund:
"Es geht nicht nur um ein bisschen Herz-Kreislauf-Gesundheit und es geht auch nicht nur um Stärkung des Immunsystems, sondern es geht um ein Wohlfühlgefühl, eine Lebensqualität und die steckt in Bewegung als Medizin auch sehr weit drin."
Sport stärkt auch Selbstvertrauen und Zugehörigkeitsgefühl
Das gelte insbesondere für chronisch kranke Kinder, ob mit Asthma, einem Herzfehler oder einer körperlichen Behinderung – diese würden vermeintlich geschont und vom Sport befreit, dabei müsse es genau umgekehrt sein: "die profitieren extrem von Bewegung und wenn ich trainiere, ich habe auch sehr schnell einen Nutzen. Wenn ich mehr Schritte mache, dann schaffe ich auch über kurz oder lang mehr."
Selbstvertrauen sowie das Zugehörigkeitsgefühl würden gestärkt.
Neben den beiden Aspekten Gesundheit und Gesellschaft wird im vierten Kinder- und Jugendsportbericht noch ein Bereich besonders hervorgehoben: das Thema Leistung. Schlechte Erfahrungen sowohl individuell als im gesellschaftlichen Bereich haben dazu geführt, dass in Kindergärten und Schulen, im Ganztag und auch im Freizeitbereich verstärkt auf kooperative Formen der Bewegung Wert gelegt wird. Es zählt die Teamleistung oder es wird ganz auf Wettkampfformate verzichtet. Der alte Leistungsbegriff, der an absoluten Leistungswerten ansetzte und zu leichten Erfolgen bei den physisch bevorteilten Kindern und Frust bei den Benachteiligten führte, sei zu recht in der Kritik gestanden, sagt Christoph Breuer:
"Diese berechtigte Kritik hat dazu geführt, dass man quasi das Kinde mit dem Bade ausgeschüttet hat und eigentlich übersehen hat, wenn wir beispielsweise über Dinge wie Anstrengungsbereitschaft sprechen, über die Einhaltung von Regeln, über Frustrationstoleranz, also dass ich lerne mit Niederlagen im Leben umzugehen, dass ich lerne, dass ich auch mal kurzfristige Bedürfnisse aufschieben muss um mittel- und langfristige Ziele zu erreichen, sind das alles Punkte, die eigentlich innerhalb des Kinder- und Jugendsports am besten von einem leistungsorientierten Sportbegriff erreicht werden können."
Corona-Folgen noch nicht erforscht
Der organisierte Sport bemerkt, dass inzwischen immer weniger Kinder in das Leistungssportsystem geführt werden, was wiederum DOSB-Präsident Alfons Hörmann nicht gutheißt und auch hier auf eine Trendumkehr hofft. Wobei viele Aspekte, die Eltern in den vergangenen Jahren wohl auch abgehalten haben, ihre Kinder in ein Leistungssportsystem zu geben, wie mangelnde Dopingbekämpfung, das Problem der sexualisierten Gewalt und des Machtmissbrauchs, zwar angegangen werden, aber anerkannte Präventionskonzepte – so stellt der Bericht ebenfalls fest – bei vielen Vereinen noch nicht umgesetzt werden.
Insgesamt listet der Bericht auf mehr als 400 Seiten viel auf, Zukunftsthemen wie Ökologie und Sport als eigenes Themengebiet oder der Einfluss extremistischer Organisationen auf den Sport, um hierüber Nachwuchs zu generieren, sind in dieser Ausgabe noch nicht erfasst. Das liegt daran, dass für den Kinder- und Jugendsportbericht keine eigene Forschung angestellt wird, sondern die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammengetragen werden. Das wird dann voraussichtlich im fünften Bericht in fünf Jahren aufgegriffen werden, ebenso wie die Frage, welche Folgen die Corona-Pandemie langfristig für die Kinder und Jugendlichen haben wird.