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Moralische Erschöpfung
Warum die Coronakrise ermüdet

Trage ich Maske oder nicht? Darf ich joggen oder nicht? Jeder Schritt wird in Zeiten der Pandemie zu einem großen Thema. Vor allem ist jeder Schritt moralisch aufgeladen. Wir fragen uns ständig: Ist das verantwortlich oder nicht? Das ermüdet uns, sagt eine US-Psychologin.

Von Andreas Robertz | 21.04.2020
Ein Mann sitzt an einem Fenster und schaut raus
Moralische Übermüdung: Zu viele bewusste Entscheidungen erschöpfen uns (imago/stock&people/Thomas Eisenhuth)
"Die Idee der moralischen Übermüdung besteht darin, dass wir bei einer Handlung, die wir normalerweise ohne zusätzliche kognitive Anstrengungen unternommen hätten, jetzt vorher überlegen, ob sie möglicherweise jemand anderem schaden könnte."
Die Psychologin Ramani Durvasula erklärt das Phänomen anhand eines Einkaufs in einem Lebensmittelgeschäft. Ein alltäglicher Vorgang, der bisher keine besondere gedankliche Leistung von uns abgefordert hat. Plötzlich müssen wir uns verschiedener Dinge bewusst sein:
"Erstens, bin ich ein Risiko für andere? Zweitens, bringe ich die, die mit mir leben, in Gefahr? Und drittens, braucht jemand anderes die Dinge, die ich kaufe, dringender als ich?"
Wenn ein einfacher Einkauf zum moralischen Schlachtfeld wird
Denn wenn wir vor dem Geschäft in einer Schlange gewartet haben, wird unser Einkauf deutlich größer ausfallen, erklärt sie weiter. Und wir sollten uns beeilen, damit die anderen nicht ewig warten müssen. Ein einfacher Einkauf wird zu einem moralischen Schlachtfeld. Dabei wird der Vorgang des Einkaufens, der, wie zum Beispiel das Fahrradfahren, in unserem Gedächtnis als Routinevorgang abgespeichert ist, in den intentionalen Bereich unseres Hirns übertragen. Das kostet viel mehr Energie als uns bewusst ist.
"Das Konzept der psychologischen oder kognitiven Bandbreite macht das Phänomen noch deutlicher", sagt Durvasula.
Eine Frau mit Mundschutz sitzt auf einer Wiese und meditiert.
Coronavirus - Strategien gegen Angst und Einsamkeit
Homeoffice, Ausgangsbeschränkungen, weniger Kontakt etwa zu den Großeltern: Das Coronavirus fordert in Deutschland auch eine Abkehr von bisher ganz selbstverständlichen Dingen des gemeinsamen Lebens – mit Folgen für die Psyche.
Mit kognitiver Bandbreite ist unsere Fähigkeit gemeint, verschiedene Prozesse im Gehirn gleichzeitig auszuführen.
"Ein normaler Mensch, der genug Schlaf bekommt und dessen Grundbedürfnisse wie Essen und Sicherheit abgedeckt sind, hat genug kognitive Bandbreite, um Entscheidungen zu treffen, die gut für ihn sind."
Ramani Durvasula nennt das Beispiel eines häuslichen Wifi-Netzwerks. Hat man plötzlich 20 Computer laufen, lässt die Leistung rapide nach. In der jetzigen Situation ist die individuelle Bandbreite bereits durch existentielle Ängste, finanzielle Unsicherheit, soziale Distanz, Sorge um andere und Überforderung zu Hause enorm eingeschränkt.
"Alles wird langsamer. Und nach unserer harmlosen Einkaufsaktion kommen wir nach Hause und fühlen uns völlig erschöpft, weil wir so viel nachdenken mussten. Und das hat ernste Konsequenzen für den Rest unseres Lebens."
"Wir werden uns bewusst, wie wichtig andere für uns sind"
Zum Beispiel können wir uns nicht mehr gut auf die Menschen konzentrieren, für die wir Sorge tragen, unsere Arbeit leidet, unser Schlaf leidet und wir scheinen weniger leistungsfähig zu sein.
"Da besteht eine wirkliche Gefahr, wenn sich Leute dann vorwerfen, es stimme etwas nicht mit ihnen. Mein Kopf funktioniert nicht mehr, so wie sonst, sagen sie. Dabei gibt es Anforderungen an ihren Verstand, deren sie sich nicht einmal bewusst sind."
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Aber für Dr. Ramani gibt es auch gute Nachrichten. Haben wir das Ausmaß unserer Situation erst mal begriffen, können wir viel tun, den Druck auf uns selbst zu vermindern, innezuhalten und ein neues Verständnis für uns und andere entwickeln. Zum Beispiel, als Einzelner wie als Gesellschaft anzuerkennen, wie viel Energie es bedarf, sich um jemanden anderen zu kümmern.
"Als Psychologin und als Humanistin glaube ich, dass das alles eigentlich nicht schlecht ist. Uns wird plötzlich bewusst, wie wichtig andere für uns sind und dass wir uns einander helfen müssen."
Ein Schild mit der Aufschrift "Alles wird gut!" und einem gemalten Regenbogen haengt im Fenster eines geschlossenen Eiscafes.
Psychiater: "Aggressionen und Spaltungen herunterfahren"
Die Coronakrise sei als Ausnahmesituation für viele Menschen etwas sehr Beängstigendes, sagte der Psychiater Manfred Lütz im Dlf. Aggression und Passivität seien in so einer Stresssituation jedoch kontraproduktiv.
"Wer jetzt erschöpft ist, hat einen moralischen Kompass"
Außerdem, und darin mag die wahre Herausforderung dieser Zeit liegen, sagt sie, werden wir unsere täglichen Entscheidungen, unseren Lebensstil und die Zusammenhänge, in denen wir leben, neu bewerten müssen.
"Vielleicht müssen wir verstehen, dass wir nicht so produktiv sind, wie wir dachten. Das Konzept der moralischen Übermüdung kann uns helfen, zu erkennen, warum wir plötzlich so leicht die Geduld verlieren, wir schneller frustriert sind, warum wir plötzlich streiten. Das passiert, wenn unsere kognitive Bandbreite erschöpft ist. Wir alle führen Leben, in denen es kaum Platz zwischen den einzelnen Aktivitäten gibt. Ich sage jedem, lasst euch mehr Zeit. Ihr seid langsamer. Holt Atem, nehmt euch den Moment und ja, es wird Zeiten geben, wo wir nicht so geschmeidig sind. Das ist halt so, wenn man psychologisch erschöpft ist."
Dr. Ramani Durvasula ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kalifornien und praktizierende Psychotherapeutin
Dr. Ramani Durvasula ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kalifornien und praktizierende Psychotherapeutin (privat)
Ramani Durvasula hat sich in den USA einen Namen durch ihre messerscharfen Beobachtungen im Bereich narzisstischer Persönlichkeitstörungen und ihrer Auswirkungen auf Beziehungen und Gesellschaft gemacht. Die Tatsache, dass jemand unter moralischer Übermüdung leidet, ist für sie ein gutes Zeichen:
"Menschen, die darunter leiden, haben einen moralischen Kompass. Das ist eine völlig andere Sache, wenn wir an die denken, die das nicht haben und Entscheidungen fällen, die nichts mit Fürsorge für andere zu tun haben."