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Was am Ende zählt, sind die leisen Anstrengungen

Sie leben das Leben vieler israelischer Familien, die Steuerberaterin Amia, der Strafverteidiger Gideon und ihr fünfjähriger Sohn. Bis der Mann ausbricht, Frau und Kind am Frühstückstisch zurücklässt und für unbestimmte Zeit verschwindet. Mira Magén bürdet ihren Charakteren ihr Schicksal auf und lässt den Leser über fast 400 Seiten beobachten, wie sie es meistern.

Von Christiane Wirtz | 25.10.2012
    Mira Magén erzählt die Geschichte einer israelischen Familie: Amia, die Mutter, ist Steuerberaterin. Der Vater, Gideon, ein erfolgreicher Strafverteidiger. Der gemeinsame Sohn ist fünf Jahre alt, er geht in den Kindergarten. Die Eltern haben eine gute Ausbildung, eine Wohnung in der Stadt, leben das Leben vieler moderner Paare – bis Gideon eines Morgens völlig unerwartet aus der täglichen Routine ausbricht. Er lässt Frau und Kind am Frühstückstisch zurück und verschwindet für unbestimmte Zeit "zu den Fischen". Amia lässt ihn ziehen:

    "Ich sah, wie er morgens vor seinem Schüsselchen mit Cornflakes saß, bevor er sich in den reißenden Strom draußen stürzte, ich wusste, wie er ein paar Mal auf den Tisch schlug, wie er einen Blick zum Fenster warf und auf seine Uhr schaute und sich am liebsten an irgendein Ufer gerettet hätte. Seine Hand klopfte auf den Tisch, und inzwischen saugten die Cornflakes die Milch auf und wurden zu einem grauen, klebrigen Brei, den er betrachtete und als Gleichnis fürs Leben nahm. 'Siehst Du? So ist das Leben.' Er rührte das Essen nicht an und ging."

    Die Geschichte ist fest im israelischen Alltag verankert, fernab der großen Politik. Und Mira Magén ist eine Meisterin darin, sich auf eben diesen Alltag zu fokussieren, die kleinsten Veränderungen in den Blick zu nehmen und ihre Protagonisten so langsam in eine neue Lebenswirklichkeit zu führen. Denn kaum hat Gideon sich auf den Weg zu den Fischen gemacht, beschließt auch Amia Abstand von der Karriere zu nehmen und an einen Ort zu gehen, "an dem die Dächer niedrig" sind und "der Himmel hoch". Statt ihre Mandanten in Steuer-Angelegenheiten zu beraten, verkauft sie fortan Kekse im Lebensmittelladen ihres verstorbenen Vaters.

    "Mein Vater hätte den Tod hinausgezögert, wenn er gewusst hätte, dass ich den Laden übernehme und seinen Platz einnehmen würde. Der Laden war eine Lösung für Holocaust-Überlebende, nicht für Israelis mit Diplom und Karriere. Der Laden hielt ihn aufrecht, bis er eines Morgens auf der Schwelle zusammensank und grau wurde wie das Wasser im Fass mit den Salzgurken. Ein Junge kam, um etwas zu kaufen, sah ihn da liegen und schrie: 'Herr Jizchak, stehen Sie auf, ich möchte einen Schokokuss.'"

    "Jede kleine Handlung, die man macht, hat eine tiefere Bedeutung, wenn man ihr nur Beachtung schenkt. Man kann ein oberflächliches Leben leben, kann alles routinemäßig machen. Ich, in meinem Leben, in jeder Bewegung, selbst wenn ich Teller abwasche. Alles kann ein Symbol sein oder ein Zeichen für etwas Tieferes."

    Und so wie Mira Magén jeder alltäglichen Beobachtung eine tiefere Bedeutung verleiht, so erinnert sie in ihrem Roman auch immer wieder an die Macht des Wortes. Wenige Buchstaben, zum falschen Zeitpunkt aneinandergereiht und ausgesprochen, können dem Leben eine tragische Wendung geben. Aber Worte können genauso, wenn sie nur im richtigen Moment ausgesprochen werden, das Schicksal überreden, es zum Guten wenden. An diesen Gedanken jedenfalls klammert sich Amia, die verzweifelt versucht, ihren Mann und sein Fernbleiben zu verstehen.

    "Ich drückte dem Jungen das Telefon in die Hand. 'Hier, wünsch Papa ein gutes neues Jahr.' Als hätten Wünsche aus dem Mund eines kleinen Kindes größere Chancen. Er zuckte mit den Schultern und malte ein Dreieck in sein Malbuch, drückte den Stift fest auf das Papier und zog dicke Striche. Ich ließ nicht locker, denn wer konnte wissen, was die guten Wünsche eines Jungen an der Börse des Schicksals wert waren. 'Komm lass die Stifte einen Moment liegen und wünsch Papa ein gutes neues Jahr'. 'Ich will nicht.' Er tauschte den roten Stift gegen einen blauen und zog das nach, was er schon gemalt hatte. (…) 'Komm, Schatz, sag ein gutes neues Jahr zu Papa', flehte ich, ich hatte das Gefühl, dass unser Leben davon abhing, dass er diese Worte herausbrachte."

    Die Autorin wirft ihre Charaktere mitten ins Leben, bürdet ihnen ihr Schicksal auf und lässt den Leser über fast 400 Seiten beobachten, wie sie es meistern. Zu allererst gilt das für Amia, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird. Aber es gilt auch für die vielen Menschen, denen Amia auf ihrem Weg begegnet. Ihnen allen macht es Mira Magén nicht leicht. Ohne großes Pathos zeigt die Autorin ihre Protagonisten in ihrer ganzen Verzweiflung und tiefen Einsamkeit. Und doch verliert das Buch niemals seinen optimistischen Grundton. Denn auch in dieser Verzweiflung und Einsamkeit können sich die Menschen begegnen.

    "Ein Mann und eine Frau trinken Kaffee und schweigen. Worüber kannst du mit ihm sprechen, wenn dein Mann verschwunden ist, einfach weg? Über das Wetter? Und er, nachdem ihn das schlimmste aller Übel getroffen hatte, was konnte ihn noch bewegen? Man muss sich nicht unterhalten. Man kann schweigen und in den Kaffee starren oder die kranken oder gesunden Gestalten betrachten, die essen, bezahlen, aufstehen und weggehen. (…) Früher, wenn ich mit Gideon in einem Café saß, hatten erloschene Paare zu uns herübergeschielt, erstaunt, dass wir etwas hatten, worüber wir reden konnten, dass bei uns die ganze Sache noch so lebendig war. Wir unterhielten uns über die Zukunft, darüber, was wir anziehen und wo wir wohnen würden, wenn wir reich und berühmt wären, wir lachten über die Vergangenheit, analysierten die Gegenwart (…) Nun schwieg ich, und auch der Mann mir gegenüber schwieg, trotzdem tranken wir langsam, keiner von uns hatte es eilig, den Becher schnell leer zu trinken und die Gelegenheit zu verkürzen."

    Und immer lässt Mira Magén ihren Charakteren die Freiheit, das Leben zu gestalten. Jedenfalls ein Stück weit:

    "Denn wenn Gott in dein Leben eingreift, dann gibt es Dinge, die du nicht ändern kannst. Du kannst nur die Haltung ändern, die Interpretation der Ereignisse, die dein Leben attackieren."

    Mira Magén selbst hat sich die Freiheit genommen, ein Leben jenseits des orthodoxen Judentums zu führen. Sie wurde Anfang der 50er-Jahre in Kfar Saba in eine streng religiöse Familie geboren. Sie wuchs mit Frauen auf, die nur Röcke tragen durften, und trägt selbst schon seit Jahrzehnten Hosen. Ihre Verwandten stehen politisch rechts, einige von ihnen siedeln in den besetzten Gebieten. Die Autorin dagegen verortet sich selbst im linken Spektrum der israelischen Politik. Sie sucht das Gespräch mit den Palästinensern.

    "Da gibt es diesen jungen Mann, Amjad, der mir im Haushalt hilft. Er ist Palästinenser und wir haben ein sehr gutes Verhältnis und wir sprechen über Politik und alles. Irgendwann fragte er, ob ich seinen Namen in das Buch schreiben könnte und so habe ich diesen Mann erschaffen."

    Es ist wohl diese Macht, einen Menschen zu erschaffen, über sein Schicksal bestimmen zu können, die Mira Magén zum Schreiben geführt hat. Bevor sie sich ganz der Literatur widmete, arbeitete sie als Lehrerin, Sekretärin und schließlich als Krankenschwester in der onkologischen Abteilung eines Jerusalemer Krankenhauses. Dort erlebte sie die Ohnmacht, nicht oder nicht genug helfen zu können, wenn Menschen mit ihrem Körper, dem Schmerz kämpften. Diese Erfahrung war für sie ein wichtiger Impuls, eigene Geschichten zu schreiben – denn das war die Möglichkeit, der Ohnmacht zu entkommen.

    "Ich fühle mich wie ein Mini-Gott. Ich entscheide, wer lebt und stirbt, die Menge Schmerz und Glück, die meine Charaktere haben. Schreiben ist eine scharfe Antithese zum Leben selbst, in dem ich nicht in der Lage bin, mein ganzes Leben zu kontrollieren. Ich weiß nicht, welchen Plot Gott für mich vorgesehen hat."
    Was der Mensch aus diesem Plot macht, das ist die Frage, die Mira Magén auch in ihren vielen anderen Büchern immer wieder stellt. In "Wodka und Brot" führt sie dem Leser vor Augen, dass die Antwort auf diese Frage jeden Tag, jeden Alltag aufs Neue gefunden werden muss. Ein Roman, der sich gegen die Ohnmacht stellt und der die Einsicht vermittelt, dass es nicht immer eines großen Kraftaktes bedarf, um das Leben zu meistern. Denn das, was am Ende zählt, sind die unzähligen, täglichen leisen Anstrengungen.

    Mira Magén – Wodka und Brot.
    Roman. Aus dem Hebräischen übersetzt von Mirjam Pressler
    dtv, München 2012, 393 Seiten, 16,90 Euro