Dienstag, 16. April 2024

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Was ist deutsch?
"Das war die kalte Milch am Bahnhof"

Der Schriftsteller Zafer Senocak fühlt sich zuhause in Deutschland - auch wegen der Bundeskanzlerin und ihrer Haltung in der Flüchtlingspolitik. Kollektiver Patriotismus ist ihm fremd, ein "persönlicher Patriotismus" als Dialog mit der eigenen Umwelt dagegen nicht. Nie vergessen wird er seine Ankunft als Zehnjähriger am Münchner Hauptbahnhof.

Zafer Senocak im Gespräch mit Beatrix Novy | 01.01.2016
    Zafer Senocak lächelt für ein Foto.
    Der Schriftsteller Zafer Senocak (imago images / Horst Galuschka)
    Beatrix Novy: Zwischen stereotypen Zuschreibungen und individueller klarer Wahrnehmung ist die Frage nach dem Gemeinsamen eines Kollektivs natürlich trotzdem möglich, und damit ist unsere kleine Neujahrs-Gesprächsreihe mit dem Titel "Was ist deutsch?" eingeläutet. Das Thema ist nicht neu, auch nicht bei "Kultur heute", aber die äußeren Umstände verändern sich gerade doch ziemlich stark und sie deuten bei bisher einer Million Flüchtlinge auf noch mehr Veränderung hin. Deshalb fragen wir, was könnte deutsch morgen heißen. Zu Wort kommen ab heute zugewanderte Einwanderer in die deutsche Sprache aus allen kulturellen Bereichen. Den Anfang macht heute ein Schriftsteller: Zafer Senocak, den ich zuerst gefragt habe, was in ihm vorging, als im Sommer Angela Merkel ihr "Wir schaffen das!" aussprach. War er da stolz auf die Kanzlerin?
    Zafer Senocak: Ich habe mich vor allem sehr zuhause gefühlt. Speziell als sie gesagt hat, dass ein Land, das Menschen, die in Not sind, abweist, nicht ihr Land ist. Und da hatte ich das Gefühl, das ist mein Land. Richtig. Ich möchte in einem Land leben, in dem so regiert wird, auch Politik so gemacht wird, ohne jetzt darüber nachzudenken, was das für Probleme mit sich bringt. Natürlich bringt das auch viele Probleme mit sich. Aber diese Haltung, diese Grundhaltung in dieser Zeit finde ich enorm wichtig.
    An diese Werte klammern
    Novy: Um aufs Thema zu kommen. Steht denn hinter dieser überraschenden Klarheit für Sie etwas, das Sie auch mit deutschen Besonderheiten, Eigenheiten, vielleicht sogar Tugenden verbinden?
    Senocak: Ja, unbedingt. Ich glaube, dass Deutschland durch die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts und auch durch die schrecklichen Verbrechen der Nazis, die ja auch erst mal hier unter den Teppich gekehrt wurden und dann aber ab den 60er-Jahren sehr, sehr stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt sind, dass dadurch eine ganz besondere Empfindlichkeit entstanden ist, was die Würde des Menschen angeht. Und das ist ja nicht nur so eine Verfassungsfloskel, sondern dahinter versteckt sich eine ganze Philosophie, eine Lebensweisheit. Und ich glaube schon, dass wir eigentlich die Gelegenheit haben zu verstehen, wie wertvoll das heute ist. Wenn wir einmal um uns herum schauen und das sehen, was in Syrien passiert, im Nahen Osten passiert, in Russland passiert, in all diesen Ländern, wo die Würde mit den Füßen getreten wird, dann müssen wir uns noch mehr an diese Grundregeln klammern, finde ich, an diese Werte.
    Novy: Sind es dann vielleicht die auch berüchtigten deutschen Tugenden, die Sekundärtugenden, wurden sie auch mal genannt? Die sind ja auch die Pfeiler einer ordnungsgemäßen Verwaltung und damit eine Säule einer funktionierenden Demokratie, damit vielleicht ein Einwanderungsgrund, wenn man annimmt, dass dies neben Krieg, Korruption und Diktatur Fluchtgründe sind? Kann man das so sagen?
    Senocak: Ja, aber wissen Sie: Die Tugenden, die sogenannten Grundtugenden, diese Ordnungsliebe, Prinzipienfestigkeit und so, das kann ja auch ganz ins Negative schlagen. Das kann ja auch zum großen Massenmord, zur Planung hinführen.
    Novy: Eben! Deswegen sind sie ja auch berüchtigt.
    Zeigen, dass ein Gemeinwohl funktioniert
    Senocak: Richtig! Deswegen ist es ja wie gesagt auch eine ambivalente Geschichte. Aber es kann auch dazu führen, dass menschliche Potenziale freigesetzt werden, die fürs Gute eingesetzt werden. Das ist keine naive Einstellung, sondern das ist ein praktisches Denken. Und ich finde, die deutsche Politik sollte sich auch mehr daran hängen zu sagen, ja, wir machen praktische Politik mit Folgen, die den Menschen etwas bringt. Natürlich auch den Menschen in Deutschland, das darf man nicht vergessen. Es geht nicht darum, dass Deutschland überall in der Welt jetzt als sozusagen Helferorganisation auftreten muss oder sollte, sondern es geht auch darum, dass wir etwas zeigen, dass ein Gemeinwohl funktioniert mit diesen Prinzipien, auch im Sinne von Profit. Es ist durchaus auch etwas, was da drinsteckt, was nicht nur einfach Gutmenschentum ausdrückt, sondern auch die Steigerung des Wohlstands, Funktionieren der Gemeinschaft, der Bildungsinstitutionen, der Kultur. Nicht alles ist ja bei uns so rosig, wenn wir jetzt an den Sport denken und an den Fußball zum Beispiel. Es sind ja immer auch ein bisschen mit Ironie zu genießen, diese Tugenden.
    Novy: Wie ja völkerpsychologische Zuordnungen sowieso immer so viel zutreffend wie auch ihr Gegenteil.
    Senocak: Richtig!
    Das Entscheidende ist die Veränderung
    Novy: Wer will die also so noch. - Trotzdem: Wenn wir uns hier fragen, was ist Deutsch, oder jetzt in die Zukunft fragen, was könnte Deutsch sein? Jeder weiß, dass sich diese Gesellschaft verändern wird in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten, stark verändern wird. Was könnte dann Deutsch, das Deutsch sein werden in Ihrer Sicht?
    Senocak: Das ist eine interessante Frage, weil ich glaube, dass das Entscheidende am Deutsch sein tatsächlich die Veränderung ist, und zwar die Wandlungsfähigkeit. Wird dieses Land wandlungsfähig sein? Weil das klassische Deutschland, wie man es so aus der Geschichte kennt, das sind ja auch immer sehr breite Pflöcke, die auch stark in den Boden gehauen werden, und gewisse Standfestigkeiten, eine Bodenhaftung. Und dieses Flexible, dieses schnelle Umziehen, dieses schnelle Umlagern, diese Schnelligkeit, die das 21. Jahrhundert auch erfordert, damit hat sich ja Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts sehr schwer getan. Das waren ja auch ein bisschen die 90er-Jahre unser Krisenjahrzehnt im Grunde genommen. Aber das Land hat von vielem Abschied genommen. Das heißt nicht, das alles besser geworden ist unbedingt. Aber das Neue ist da und es macht auch immer wieder Neugier, macht auch Angst, und das müssen wir offen austragen. Und wenn wir das offen austragen, dann werden wir auch wandlungsfähig. In vielen Teilen vor allem Westdeutschlands sehen Sie das auch, in den Städten, in den kleineren Gemeinden, die auch Industrie haben. Die ganze Arbeitsmigration der 60er-, 70er-Jahre ist eigentlich abgeschlossen worden bereits in diesen Gegenden.
    Novy: Mit ihrem Deutsch sein haben sich die Deutschen ja auch immer schwer getan, und zwar gar nicht erst seit den Nazis, auch früher schon. Das ist nun etwas anders geworden. Manchen ist das schon wieder zu viel offen gelebter Patriotismus. Ihnen auch?
    Senocak: Sehe ich nicht so. Was ist Patriotismus? - Sehr schwierig. - Wenn man sagt, man fühlt sich zuhause und man möchte für dieses Zuhause etwas tun, dann ist das für mich völlig in Ordnung. Man möchte sich ja auch wohl fühlen. Gleichzeitig möchte man sich aber in meinem Fall zum Beispiel nicht so einrichten, dass man beginnt, sich zu langweilen. Das ist natürlich auch immer sehr schwierig, das ist eine sehr persönliche Frage. Es wird immer interessant, wenn man das Persönliche sozusagen ins Kollektiv hineinsteigert. Dann wird es schwierig. Dieser Kollektiv-Patriotismus, der ist mir sehr fremd und vor diesem Patriotismus habe ich auch Angst. Aber dieser persönliche Patriotismus, der zur eigenen Zuordnung in die Umwelt führt, auch in das eigene Politikverständnis, in das, was man auch als Herausforderung begreift, das finde ich positiv und das sollte man auch ausleben.
    Die Unterschiede akzeptieren
    Novy: Kommen wir doch mal auf das Thema Identität zu sprechen. Es ist ja immer so viel die Rede von zusammengesetzten Identitäten. Jeder Mensch ist ja vieles, zum Beispiel unter anderem wie Sie türkisch und deutsch, oder deutsch und türkisch, oder wie herum man es auch sagen mag. Andererseits ist Identität ja so ein oft beschworener Wert. Man schätzt sie, will sie auch erhalten. Das ist ja zum Beispiel auch so ein Schutzgedanke bei indigenen Völkern etwa. Steckt da nicht immer dann auch die alte Angst vor einer irgendwie schädlichen Melanche dahinter, was ja eigentlich völlig obsolet ist heute?
    Senocak: Diese Angst ist da, auf jeden Fall. Ich glaube, dass gerade auch die Zuwanderung deswegen ja immer so ambivalent diskutiert wird, weil natürlich diese Zuwanderer, sie fließen ja. Dieses Fließen, dieses stetige sich bewegen, das ruft natürlich auch Misstrauen hervor, weil man immer noch so Fantasien hat von einer gewissen Sesshaftigkeit. In vielen Teilen des Landes wird ja diese Sesshaftigkeit gelebt und deswegen gibt es ja auch diesen enormen Widerstand gegen Fremde, wo man sich fragt, woher kommt das eigentlich. Die Menschen haben doch gar keinen Bezug eigentlich, weil es sind doch kaum Fremde da, gerade in den Gegenden, wo es viel Widerstand gibt. Aber das ist es gerade. Es gibt diese Berührungen nicht und da kommt so eine Versteifung heraus, und das muss man natürlich schon auch offen thematisieren. Es ist wie gesagt auch etwas sehr Persönliches, wie möchte man leben. Manche, die im Süden Dresdens wohnen oder in der sächsischen Schweiz oder so, die wollen eben nicht in Verhältnissen leben wie in Neukölln. Andere, die in Neukölln leben wie ich zum Beispiel, würden nie in diese Gegenden ziehen. Das muss man vielleicht auch tolerieren. Vielleicht muss man auch gerade diese Unterschiede tolerieren. Ein Land muss nicht einheitlich sein, kann unterschiedliche Farben haben, unterschiedliche Lebensmuster anbieten, aber friedlich zusammengehen. Das ist das Wichtige. Das heißt, dass man sich nicht bekriegt, sondern dass man einfach diese Unterschiede auch akzeptiert und respektiert.
    Novy: Es sollte nicht gefährlich sein, nach Dresden zu ziehen.
    Senocak: So ist es.
    In der Türkei hatte man kalte Milch nie getrunken
    Novy: Aber noch eine persönliche Frage: Sie sind mit zehn Jahren hergekommen nach Deutschland aus Istanbul. Stimmt das?
    Senocak: Das ist richtig, von Istanbul nach München ganz konkret.
    Novy: Sie kamen mit zehn von Istanbul nach München. Können Sie noch sagen, wann Sie das erste Mal gedacht haben, das ist jetzt aber hier deutsch? Irgendein Verhalten oder eine Eigenart.
    Senocak: Das war die kalte Milch am Bahnhof, die ich getrunken habe. Es war sehr auffallend, weil in der Türkei hatte man kalte Milch nie getrunken. Es gab noch nicht diese pasteurisierte Milch und die Milch musste immer gekocht werden der Gesundheit wegen. Es gab aber diese kalte Milch, die mir sehr schmeckte. Das ist mir immer noch in Erinnerung, habe ich auch mal in einem Text verarbeitet.
    Novy: Eine von Zafer Senocaks Antworten auf die Frage "Was ist deutsch?", und diese kleine Reihe setzen wir in den nächsten Tagen fort.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.