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Was ist schon normal?

Medellin in Kolumbien war noch bis in die 90er die Drogenhauptstadt der Welt. Heute hat sich die Lage in der Millionenstadt entspannt, heißt es. Medellin sei wieder zur Normalität zurückgekehrt. Doch was ist das für eine Normalität?

Von Margitta Freund | 06.12.2009
    Mein erster Eindruck von Medellin ist überwältigend. Abends um acht, vom hoch gelegenen Flughafen Rio Negro nach unten kommend, ist die Stadt ein einziges Geglitzer. Oben wölbt sich der Sternenhimmel. Nach unten breiten sich die Lichter der Stadt aus. Medellin schmiegt sich wie in einer flachen Schale liegend an sanfte Bergriesen. Wir sind in einer Kugel unterwegs, in einem eigenen Universum.

    Das Taxi entlässt uns vor einem Haus, in einem gepflegten, sauberen Stadtviertel. Im Erdgeschoss sitzt eine junge Frau hinter einem schmiedeeisernen Gitter, grün gestrichenen mit schwungvollen Ornamenten. Sie reicht uns eine Cola und einen Saft. Das Gitter bleibt geschlossen. Die Sachen, die sie hat, passen alle durch. Zeitungen, Zigaretten, heißer Kaffee, Zucker, Zahnbürsten, Toilettenpapier. Auf den Stühlen vor dem Laden trinken ein paar Männer einen Trago, einen Rum und schwatzen mit der Ladenbesitzerin. Das Gitter wird von einer dicken Kette zusammengehalten.

    "Ob ich die Gitter offen lasse? Nein, das mache ich selten. Ich mache das nicht, weil dieses Viertel ist sehr gut, aber das Nachbarviertel ... In Medellin ist es so, dass neben jedem guten Viertel auf jeden Fall ein weniger Gutes ist. Und hier kommen immer wieder Leute vorbei, die nicht sehr angenehm aussehen. Wenn die sehen, dass hier eine Frau alleine im Laden sitzt, dann mache ich ihnen ja geradezu das Angebot mich zu überfallen. Das mache ich nicht, Gelegenheit macht Diebe, sagt man bei uns hier in Medellin."

    In Medellin lebt man mit gemischten Gefühlen. Ja, die Stadt ist gefährlich, aber sie ist schön. Auf 1400 Metern Höhe herrscht ewiger Frühling. Die Straßen sind gesäumt mit Palmen, Hibiskus, Oleander, Rosen und Orchideen, es riecht gut. Mit einem vollen Geldbeutel kann man hier gut und doch fast sicher leben.

    Es gibt hübsche Häuser. Teilweise werden sie von adretten jungen Männern in blauen Uniformen bewacht. Die Metro ist modern und gepflegt, genauso wie die vielen öffentlichen Schwimmbäder. Die es sich leisten können, gehen in glitzernde Einkaufszentren mit vielen Brunnen und Restaurants im schlichten Bauhausstil. Außerdem beherrscht ein strenger Schönheitskult die Stadt. Gut sichtbare Brust- und Gesäßimplantate sind ebenso selbstverständlich wie rasierte Beine und werden mit echtem Stolz getragen. Nicht umsonst trägt die Stadt den Beinamen Silicon Valley.

    "In Medellin sind operierte Brüste ganz normal. Die ideale Frau hat einfach eine große Brust, ein großes Gesäß, volle Lippen, ist sinnlich, hat runde Formen. Wir Frauen hier sind extrem kritisch miteinander. Wir schauen uns gegenseitig genauer an, als uns die Männer anschauen. Es ist wichtig, ob du was in der Bluse hast oder nicht, wie die Figur ist, die Haare die Kleider und alles. Und abgesehen davon, ich glaube, dass alle Männer - auch wenn sie es leugnen - von großen Brüsten fasziniert sind","

    erzählt mir Katalina Villa Missar, eine intelligente, studierte Frau aus einer Akademikerfamilie, die sich mit ihren 28 Jahren schon mehrfach hat operieren lassen. Ihr Problem war, sie ist schüchtern und wollte nicht auffallen. Und eine flache Brust fällt auf und ist dazu ein echter Karrierekiller. Ihre Schwester Natalia dagegen ist die einzige der vier Frauen in der Familie, die bisher den Mut hatte, sich nicht operieren zu lassen:

    ""Das hängt alles mit den Drogenhändlern zusammen. Die haben eine bestimmte Ästhetik hier installiert, nicht nur für Frauen, sondern für alles. Die kommt aus Stadtteilen in denen die Drogenhändler vorgeben, was schön und hässlich ist, auch was die Männer angeht, die Architektur, das Design von Räumen. Der Einfluss der Drogenhändler ist hier überall zu spüren."

    Natalia Villa Missar, Philosophin und kurzfristig meine Deutschstudentin, steht mir als Fremdenführerin zur Seite. In Medellin leben die Paisas. Sie sind so eine Art Bayern Kolumbiens. Selbstbewusst, in mancherlei Hinsicht erfolgreich und mehrheitlich weiß, von Basken und sephardischen Juden abstammend. Der kolumbianische Präsident Alvaro Uribe kommt aus Medellin. Der berühmteste Sohn der Stadt ist Pablo Escobar. Er regierte in den 80ern mit seinem Drogenkartell die Stadt und halb Kolumbien. Gerade jetzt, 16 Jahre nach seinem Tod, sorgt er wieder für Schlagzeilen. Die Nilpferde, die er aus Afrika für seinen Privatzoo hat einfliegen lassen, sind ausgebrochen und machen jetzt die Flüsse im Department Antioquia unsicher. Und noch einer hat der Stadt seinen Stempel aufgedrückt. Viel sichtbarer. Der Künstler Fernando Botero. Medellin ist gespickt mit seinen Skulpturen. Die Plaza Botero im Zentrum ist sein Geschenk an die Stadt, in der er geboren wurde. Wie riesige Schachfiguren heben sich seine feisten, schwarz glänzenden Bronzefiguren vom Boden ab. Sie sind zu den Wahrzeichen Medellins geworden. Und tatsächlich: Sie geben der Stadt ein Gesicht. Medellin ohne die Boteros? Undenkbar. Zwischen, auf und unter den Dicken findet wuseliges und wunderliches Leben statt. Es gibt so viel zu sehen: Leim schnüffelnde Greisenkinder mit betongrauer Haut, ein Elefantenmensch, Lahme mit überraschendsten Verrenkungen rollen auf Brettern herum. Einer im Anzug rasiert sich im Gehen. Am Sockel einer gigantisch drallen Bronzevenus lagert, wie ein böser Witz, eine echte Frau. Halb nackt, mit rotbraun verbrannten Beinen. Dick wie Weinfässer. - Unfassbar. Maßlos.

    Im Gegensatz dazu, scheint es nichts zu geben, was zu klein ist, um nicht damit Handel betreiben zu können. Nichts ist zu nichtig. Eine Handyminute, eine Kopfschmerztablette, eine Minute übersinnlichen Beistand, fünf Stunden waschen mit einer Waschmaschine. Sie wird mit dem Motorradanhänger gebracht und in der Wohnung angeschlossen. Drei Euro kostet das. Ein Mann mit hektischem Blick bietet ein neongrünes Reptil in der Rechten und zwei bunte Vögelchen in der linken Hand feil.

    Derweil spielen auf den Parkbänken zahnlose Seniorenbands volkstümliche Lieder von Liebe, Tot und Vergessen.

    "Ja, jeden Tag sind wir hier, Seniora. Jeden Tag. Ich wohne in einer Schlafstätte von der Stadt, von der Stadtverwaltung hier in Medellin. Ich bin in so einem Programm, wenn sie mich recht verstehen, Seniorita, ja?"

    Ich sage ihm, wie leid mir das tut. Ein passionierter Musiker wie er, in einem Obdachlosenasyl.

    "Leid tun wieso? Nein, nein, nein. Für Sie tut es mir leid, Seniora. Weil ich Sie um das Geld für ein Mittagessen fragen muss. Und das nur, weil es dort, wo ich schlafe, kein Essen gibt. Ich wünsche von Herzen, dass es Ihnen nie so ergehen wird wie mir."

    Formvollendet. Ich gebe ihm das Geld für das Mittagessen. Und in diesem Moment frage ich mich: Was habe ich eigentlich gelernt, hier in Medellin? Seltsame Sachen. Zum Beispiel diese altertümliche Etikette im Umgang miteinander zu schätzen, mein achtjähriges Kind immer an der Hand zu halten, ein Feuerwerk von einer Schießerei zu unterscheiden. Und ich habe gelernt, die eigene Kühle im Herzen zu bestaunen, wenn beim Ausgehen abends in der Kneipe gegenüber gerade jemand erschossen worden ist. Gleich 15 Schüsse sollen es gewesen sein. Maßlos.

    "Wenn hier jemand ermordet wird, kommt die Polizei, die heben den Toten auf, und holen ein paar Informationen ein. Die Leute putzen, was zu putzen ist, und nach fünf, zehn Minuten geht alles seinen Gang. Wer gerade am Tanzen war, tanzt weiter, wer arbeitet, arbeitet weiter, als es sei nie was passiert. Man vergisst mit großer Leichtigkeit. Das ist ein Schutzmechanismus. Wenn wir jedesmal weinen, wenn einer ermordet wird, wie sollen wir dann weiterleben?","

    fragt mich die Schwester von Natalia, mit der ich mich eben über ihre Brustimplantate unterhalten habe. Und sie hat recht. Über den Mord steht am Montag nichts in der Zeitung. Nur eine Art Resümee des Wochenendes. Wie ein Börsen- oder Wetterbericht. Dieses Mal gab es zwölf Ermordete. Elf Männer und eine Frau, vier im Stadtteil Itagui, drei in Santo Domingo und zwei in Belén, da, wo ich lebe. Das war's. In Medellin gibt es nur eine einzige Stelle, an der öffentlich an die vielen Opfern des Drogenkrieges erinnert wird. Natalia führt mich zum Parque San Antonio:

    Diese Vogelskulptur hier ist auch von Botero. Und im Jahr 1995 wurde genau hier, in der Skulptur, eine Bombe gezündet. Der Vogel ist zerborsten. Es starben viele Leute, die Namen sind hier auf dem Sockel eingraviert. Botero fertigte noch einmal die gleiche Skulptur und schenkte sie der Stadt unter der Bedingung, dass beide nebeneinander hier stehen bleiben sollten. Die zerborstene und die Neue. Beide bilden jetzt zusammen ein Mahnmal gegen die Gewalt, die immer noch Alltag bestimmt.

    Und die seit einige Monaten wieder signifikant ansteigt. Der rechte Paramilitarismus hat die Stadt fest in der Hand. Amenasas, Morddrohungen sind Alltag. Die bekommt jeder, der nicht ins Raster passt. An den Unis werden Zettel mit roten Listen verteilt. Auf denen stehen Menschenrechtlerinnen, bekennende Homosexuelle, Indioaktivisten, Gewerkschaftler, es reicht auch schon, nicht rechts zu sein. Es herrscht präfaschistische Pogromstimmung. In Medellin, im Department, im Staat. Ganz oben in den Armenvierteln, stellen jugendliche Bandenchefs neue Regeln für Recht und Ordnung auf. Männer müssen kurze Haare tragen, alle Haustüren müssen zehn Zentimeter offen stehen, damit sich die Banden zur Not verbarrikadieren können, jeden Monat ist eine Gebühr fällig: die so genannte Versicherung.

    Alejandra Torro Murillo, eine hübsche junge Frau mit weichen Gesichtszügen, hat - gegen alle Wahrscheinlichkeit - den Absprung aus einem dieser Viertel geschafft. Sie ist Literaturprofessorin. In ein paar Wochen geht sie an die Sorbonne in Paris. Aber heute frittiert sie mit ihrer Mutter Empanadas. Sie verkaufen sie vor dem Haus ihrer Kindheit im Stadtteil Santander auf der Straße.

    10 Cent kostet eine Empanada. Damit finanzieren sie die kleine Bibliothek, die sie für die Kinder des Viertels gegründet haben. Es ist eine wichtige Einrichtung für den Stadtteil geworden. Viele Kinder haben kein einziges Buch zu Hause, kein Lexikon, keine Ruhe, um Hausaufgaben und Referate zu machen.

    Mutter: ""Warum wir das machen? Also ich mache es, weil mir Gott sehr geholfen hat. Ich bin gesund, keines meiner neun Kinder ist tot. Ich möchte was zurückgeben, was man mir gegeben hat."
    Alejandra: "Schau, in all den Häusern, die du hier rund um sehen kannst, bei unseren Nachbarn, in fast allen Familien sind Söhne oder Töchter getötet worden. Bei meiner Mama nicht. Weil keiner von uns sich in diese Sachen eingemischt hat. Fast allen Freundinnen von meiner Mutter ist das passiert. Sie müssen mit diesen Verlusten leben. Viele Frauen hier sind Witwen, ihre Männer sind ermordet. Viele haben sogar mehrere Kinder verloren, wegen der Auftragskillerei, wegen des Krieges."

    Santander ist einer jener Stadtteile, in denen der Aktienkurs im Wert von Menschenleben gemessen wird. Zu Glanzzeiten der Narkotraficantes, der Drogenhändler, kostete ein Auftragsmords nur noch 20 Euro. Und Heute? An der Kreuzung von Alejandras Geburtshauses trafen noch vor wenigen Jahren regelmäßig zwei konkurrierende Banden aufeinander. Jetzt wurde genau an dieser Ecke eine Polizeistation eingerichtet. Ein duzend schwer bewaffneter Polizeisoldaten arbeiten hier. Sie verbarrikadieren sich hinter einer endlosen Reihe von Motorrädern, die sie offenbar als Gestohlen sichergestellt haben:

    "Wenn es Schießereien gibt, sind sie die letzten, die kommen und schauen was passiert ist, woher das kam und all solche Sachen. Die zählen dann nur noch die Toten, wenn sie kommen. Das ist verrückt. Und dazu kommt man fühlt sich weniger beschützt, als unter Druck durch die Polizei. Wenn die Lust haben jemanden zu Schlagen oder Stress zu verbreiten und du kommst gerade vorbei, dann werfen sie sich auf dich."

    Immerhin, die Schießereien finden jetzt ein paar Straßen weiter statt, erzählt ein Cousin von Alejandra, der immer noch in Santander lebt.

    Es ist eigentlich ein hübsches Viertel. Kein Slum. Überhaupt nicht. Es liegt weit oben. Die Straßen sind frei von Müll. Jede Familie hat Strom und sauberes Wasser. Medellin hat seine Stadtwerke behalten und sie nicht an internationale Multis verkauft- wie fast überall sonst in Lateinamerika. Baut ein Stoß vertriebener Bauern eine neue Franse an die Stadtränder, bekommt sie als erstes Strom, Wasser und Gas. Dafür sind Cholera und andere Epidemien in Medellin genauso unbekannt, wie in Europa. Die Kolumbianer sind nicht untätig. Sie denken viel, sie wollen aber auch vergessen dürfen. Sie kämpfen. Mit Waffen, mit Silikon, mit Bibliotheken, mit Kunst. Die Besseren mögen gewinnen.