Freitag, 05. April 2024

Archiv

Menschsein
Genetische Unterschiede zum Schimpansen erklären nicht alles

Wann ist ein Mensch ein Mensch? Diese Frage bewegt seit Jahrtausenden Poeten und Philosophen, jetzt machen sich Forschende daran, Antworten zu finden. Sie warnen jedoch davor: Die Genetik erklärt nicht alles.

Von Volkart Wildermuth | 24.04.2003
    Die Genetiker stehen in den Startlöchern. Sobald das Genom unseres nächsten Verwandten verfügbar ist, werden sie mit Computern all die As und Ts und Cs und Gs im Erbgut von Mensch und Schimpanse vergleichen. Erste Schätzungen gehen von 18 bis 20 Millionen Unterschieden bei einzelnen genetischen Buchstaben aus, dazu kommen noch größere Umbauten im Genom. Doch Sean Carroll hat Zweifel, dass sich das Besondere am Menschen so leicht wird beschreiben lassen, selbst auf der genetischen Ebene:

    "Es kommt darauf an die bedeutsamen Unterschiede, ich sage, die wenigen bedeutsamen Unterschiede zu finden, inmitten dieser Unzahl von Veränderungen, die keinerlei Folgen haben.
    Das ist eine Herausforderung für Detektive, gleichzeitig begeisternd und frustrierend, denn noch wissen wir nicht, wie wir die bedeutenden Veränderungen entdecken können."

    An der Universität von Wisconsin beschäftigt sich Sean Carroll mit der Fruchtfliege Drosophila melanogaster. An diesen bescheidenen Tier versucht er herauszufinden, mit welchen genetischen Tricks die Evolution arbeitet, um neue Arten zu kreieren. Seine wichtigste Einsicht: neue Eigenschaften entstehen, wenn alte Gene neue Tricks erlernen. Carroll:

    "Einzigartigkeit kommt nicht von einzigartigen Genen, sie entsteht wenn die gleichen Gene auf einzigartige Weise verwendet werden. Es wird keine menschlichen Gene geben, die es nicht auch in Schimpansen gibt, aber sie werden ein wenig anders eingesetzt. Die Unterschiede mögen für uns auf der Eben der Gestalt und des Verhaltens offensichtlich sein, aber auf der Ebene der Genetik sind sie sehr subtil."

    Zum Beispiel die menschliche Sprache, wirklich ohnegleichen im Tierreich. Lange glaubten die Forscher, dass der Mensch einzigartige Sprachzentren im Gehirn habe. Inzwischen ist klar, ähnliche Zentren die ebenfalls der Kommunikation dienen, finden sich auch bei Schimpansen und anderen Affen. Jetzt werden die Unterschiede in der Feinstruktur des Nervengewebes gesucht. Entscheidend ist mit Sicherheit die Embryonalentwicklung. Hier kommt es darauf an, welches Gen im Fetus, an welchem Ort, zu welcher Zeit aktiv ist. Deshalb werden die wichtigsten Sequenzen, die den Menschen zum Menschen machen, in den Regulationsregionen des Erbguts liegen und nicht in den Genen selbst. Wie sie sich aufspüren lassen ist vorerst alles andere als klar. Sean Carroll plädiert dafür andere Wissenschaften hinzuzuziehen, etwa die medizinische Genetik. So führte ein besonderer Sprachdefekt in einer einzigen Familie auf die Spur eines Gens mit Namen Fox P 2. Es wurde schnell als entscheidendes Sprachgen gefeiert, besonders als sich herausstellte, dass es in der allgemeinen Bevölkerung kaum Varianten dieses Genes gibt. Ein sicheres Zeichen für das Wirken der Evolution. Carroll:

    "Dieses Gen ist kürzlich durch die Evolution geformt worden, und das spricht dafür, dass es für die Entwicklung des Menschen sehr wichtig ist. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es nicht DAS Sprachgen gibt, genauso wenig wie das Krebsgen, es sind sicher viele andere Gene beteiligt. Fox P 2 ist ein sehr, sehr guter Start, ein großer Schritt voran, aber es ist erst der Anfang."

    FOX P 2 war schon bei Singvögeln an der Kommunikation beteiligt. So wichtig das Gen ist, es war sicher nicht allein Ausgangspunkt der Menschwerdung. Was für die Sprache gilt, wird auch für die anderen Kennzeichen des Menschen zutreffen: ihre genetischen Wurzeln sind sehr alt, viel älter als die Trennung von Schimpanse und Mensch vor 6 Millionen Jahren. Das Gen, welches plötzlich Homo sapiens, den weisen Menschen erschuf, gibt es nicht. Die Unterschiede sind nicht qualitativer Art, sie ergeben sich aus der Summe vieler kleiner genetischer Veränderungen. Das ist für Sean Carroll der Beitrag der modernen Genomforschung zu der uralten philosophischen Frage nach dem Wesen des Menschen:

    "Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren die tiefe Verbindungen zwischen den Menschen und den anderen Tieren gefunden, nicht nur mit Schimpansen sondern mit dem ganzen Tierreich. Viele, viele Ähnlichkeiten in den Genen und unserer Entwicklung. Und das verbindet uns. Es erlaubt uns, uns nicht als etwas Neues, Außergewöhnliches zu sehen, sonder als Ergebnis von über 500 Millionen Jahren Evolution der Tiere."