Donnerstag, 28. März 2024

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Was macht Literatur wesentlich aus?

Die bei Aachen ansässige Schriftstellerin Sylvie Schenk ist gebürtige Französin aus Chambéry und schreibt unter dem Namen Sylvie Gonsolin Lyrik in ihrer Muttersprache. Doch ihre seit 1995 entstandenen Romane verfasst sie auf Deutsch, einer Sprache, die sie erst mit 22 erlernt hat. Dieser Sprachwechsel macht den besonderen Reiz ihrer Literatur aus. Ihr jüngster und dritter Roman "Die Tochter des Buchhändlers" zeigt auch, wer einen entscheidenden Anteil an ihrem Sprachwechsel hatte.

Rezensiert von Bettina Hesse | 19.11.2008
    Der Buchhändler ist tot – es lebe die Literatur
    Wenn man eine drängende Frage hat oder ein Problem lösen muss, hilft es, ein mind map zu zeichnen – zu Deutsch: eine Gedankenkarte. In ihrem Zentrum steht die Frage oder der Begriff und darum gruppieren sich strahlenförmig die Assoziationen und Bewertungen. Würde man eine solche Skizze von Sylvie Schenks "Die Tochter des Buchhändlers" anfertigen, wäre sonnenklar, was in der Mitte stünde: Die schöne Literatur.
    Denn darum dreht sich alles im dritten Roman der Autorin. Und die Geschichte geht so: Alice, die Tochter des Buchhändlers, verliert ihren gerade erst 50-jährigen Vater und muss entscheiden, ob sie sein Erbe antritt und dessen hoch verschuldete Buchhandlung weiterführen oder schließen soll. Sie steht damit vor einem praktischen wie moralischen Problem, zu dessen Lösung ihr die verschiedenen 'Hinterbliebenen' Ratschläge erteilen. Christoph, ihr Vater, war eine eigenwillige, sture, aber charismatische Figur und lebte ganz und gar für die Literatur. "Ich glaube, mein Vater war eine Legende. Dann weißt du, warum ich ihn geliebt habe, sagte Roberto." Roberto, der langjährige Lebensgefährte, saß täglich am Bett des Freundes, der nach seinem Herzinfarkt im Wachkoma lag. Als Christoph entdeckte, dass er schwul war, verließ er Frau und Tochter, und für Alice scheint der Vater nur aus kargen Erinnerungen zusammengesetzt: " ... eine im Rauch schwarz flatternde Silhouette, die im Laden gestikulierte." Oft herrschte Schweigen und er gab für die Tochter weniger den Vater ab – der trat hinter dem Buchhändler zurück – sondern eher den Lehrmeister, der sie ausgebildet und mit seiner Leidenschaft infiziert hat. Dennoch führt Alice mit ihm ein imaginäres Gespräch, um die Verbindung aufrechtzuerhalten, um eine Entscheidung zu finden. Hin und wieder ruft der Vater ihr etwas zu, denn sie wird bedrängt von Befürwortern und Gegnern, eine Hand voll unterschiedlicher Menschen, die eins gemeinsam haben: Sie sind beeindruckt von der Persönlichkeit des Buchhändlers und seinem Lebenswerk.
    Allen voran Veronika, unattraktive Kundin, die dem Buchhändler bewundernd zugetan war. Sie will eine Gedenkfeier für ihn veranstalten und setzt diese Idee auch durch. Da ist Paul, echter und selbstmitleidiger Schriftsteller mit guten literarischen Einfällen, aber wenig Glück bei der eigenen Frau, die ihn für seinen besten Freund sitzen lässt. Alice ist in ihn verliebt und erhofft sich vielleicht auch Unterstützung bei den eigenen Schreib-Ambitionen. Oder Heiko, ein ehemaliger Kfz-Mechaniker, der spät berufen zur Literatur fand und jetzt Geschmack an Büchern und besonders an Alice findet. Er geht ihr im Geschäft zur Hand und spätabends vergnügen sich die beiden auf der Umzugsdecke hinter der Ladentheke.
    Apropos spät berufen: Ähnlich mag es der gebürtigen Französin Sylvie Schenk ergangen sein, die zum Lesen, sogar zum Schreiben in deutscher Sprache erst angeregt wurde durch die Veranstaltungen bei jenem Buchhändler. Ja, es hat ihn tatsächlich gegeben: Vorbild für die Figur ist der 1999 verstorbene Peter Klein, der sich unermüdlich für die Literatur einsetzte, nicht nur in seiner Aachener Buchhandlung. Ihm ist der Roman gewidmet.
    So weit die Exposition von Thema und Figuren, die Sylvie Schenk leichtfüßig und auf poetische Weise zur dramaturgischen Mitte führt, zur Gedenkfeier im Theater. Dort lesen nicht nur namhafte Autoren und bringen ihre eigene Lebensproblematik mit auf die Bühne, die Handlung verdichtet sich zu einem Welttheater im Kleinen. Den Anfang macht Paul. Während er im Herzen mit seiner treulosen Frau hadert, bemerkt er, dass die professionelle Routine das Wesentliche verschüttet. Als die nächste Autorin über die Freuden des Schreibens spricht und den Schriftsteller als Herren der Zeit bezeichnet, nämlich der Vergangenheit und Zukunft seiner Figuren, löst dies bei Paul die Erkenntnis aus: "Romane erlauben uns, unberührt unseren eigenen Tod in allen Variationen zu erleben, Lesen bereitet auf das Sterben vor. Jedes Komma ist ein Infarkt, jeder Punkt ein Tod." Auf der Bühne feiern die Akteure ihre eigenen Vorstellungen und Ängste, der Buchhändler bleibt dabei auf der Strecke. Andererseits hilft die Trauer, das Zeremonielle, den Lebenden nicht weiter. So stapfen Alice, Paul, Heiko und Roberto durch den Schnee, und der Abend entwickelt sich zur lebenslustigen Runde, mit fließendem Übergang vom professionellen zum persönlichen Austausch, mit Cocktails und klugen Sätzen zu Literatur und Leben. Am Ende liegt Alice zwischen den beiden Männern Paul und Heiko im Bett und genießt eine Geborgenheit, die sie bei ihrem Vater nie kennengelernt hat. Und es ist leicht zu erraten, welche Entscheidung sie für die Buchhandlung trifft.
    Die Geschichte beginnt mit einer Beerdigung, also mit dem Tod, und erzählt, wie die Betroffenen mit dem Verlust umgehen, um auf sublime Weise durch das Leben zum Leben zurückzufinden. Sylvie Schenk spart nicht an Witz, sie treibt ein spielerischer Humor um. Wie gut sie sich in unterschiedliche Charaktere einfühlen kann, hat die Autorin immer bewiesen, zuletzt mit "Heute ist auch noch ein Tag". Doch im neuen Buch lässt sie in leichter, oft knapper Sprache eine süffisante Parabel auf den Literaturbetrieb entstehen. Der Ton ist so jugendlich wie Alice selbst, zuweilen auch besonnen, doch immer klar. In die Dialoge sind philosophische und ästhetische Wahrheiten eingearbeitet ohne je schwerfällig zu werden. Nur der Titel führt in Anlehnung an Erfolg versprechende Bücher in die Irre: Zwar ist Alice als Tochter des Buchhändlers die Protagonistin und bewegt sich aus dessen Schatten hin zu den Dingen des Lebens, aber im Zentrum steht die Frage: Was macht Literatur wesentlich aus?
    Sylvie Schenk gelingt es, dies wunderbar genau und hintergründig zu erzählen, nur zu erzählen, nicht zu beantworten. Sie kennt das Schreiben wie das leidenschaftliche Lesen, aber auch die Bedeutung der Schnittstelle zwischen beidem, die in der Vermittlungsleistung des Buchhändlers ihren unverzichtbaren Rang erhält. Und so erfindet sie für ihre Figuren einen poetischen Mikrokosmos, in dem diese exemplarisch handeln als Teil des komplexen Gefüges Literatur.
    Zum Abschluss der Gedenkfeier liest Alice Pauls Gedicht "Variationen über die Wörter":

    "Alle Wörter des Romans stoßen sich an
    Gedrängt und warm leben sie voneinander
    Kleine Apostel unserer Wunder, meines oder deines Lebens
    Weitab vom Stimmengewirr
    Mutterseelenallein und ganz am Schluss
    Das Wort Ende"