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"Was uns bedrückt, ist der Vertrauensverlust unserer Einrichtungen"

"Wichtig ist, dass wir ein Bewusstsein für dieses Missbrauchsproblem entwickelt haben", sagt der Sprecher der Vereinigung deutscher Landerziehungsheime e.V., Hartmut Ferenschild, über die Fälle an deutschen Schulen. Und er nennt Punkte, mit denen sich Prävention betreiben lässt.

Hartmut Ferenschild im Gespräch mit Sandra Schulz | 09.03.2010
    Sandra Schulz: Es war wieder ein Wochenende, an dem neue Missbrauchsfälle ans Tageslicht gekommen sind. Seit gestern ermittelt die Darmstädter Staatsanwaltschaft gegen Lehrer der Odenwaldschule in Hessen wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs von Schülern. Dort meldeten sich mehr als 20 frühere Schüler als Missbrauchsopfer. Wieder geht es um Vorwürfe, die Jahrzehnte zurückliegen, wieder ein Fall, in dem die meisten Opfer jahrzehntelang geschwiegen haben. Die politische Diskussion zum Beispiel über die Verjährungsfristen gewinnt damit weiter an Fahrt. Auch Entschädigungszahlungen sind jetzt im Gespräch. Wenn wir auf die Odenwaldschule in Hessen blicken, dann ist das wieder ein Fall, dessen Schauplatz ein Internat ist. Was folgt aus dieser Beobachtung? Darauf wollen wir in den kommenden Minuten eingehen. Unter dem Dach Vereinigung deutscher Landerziehungsheime e.V. haben sich in Deutschland 21 Internate zusammengeschlossen, darunter auch die Odenwaldschule. Die Organisation kooperiert außerdem mit etwa 30 weiteren Schulen in Spanien, England, Österreich und der Schweiz. Deren Sprecher ist jetzt am Telefon, der Pädagoge Hartmut Ferenschild. Guten Morgen!

    Hartmut Ferenschild: Guten Morgen, Frau Schulz.

    Schulz: Warum erreichen uns so viele Meldungen aus Internaten?

    Ferenschild: Das ist, denke ich, darauf zurückzuführen, dass jetzt in den letzten Wochen und Monaten mehr schleichend als großflächig immer wieder Dinge ans Tageslicht kommen und nun in der Öffentlichkeit eine Breite der Diskussion erreicht haben, die sicher nötig ist, die aber vielleicht in den Dimensionen auch noch mal zurechtgerückt werden muss.

    Schulz: Was meinen Sie damit?

    Ferenschild: Ich meine damit, wir erleiden ja derzeit offensichtlich einen großen Vertrauensverlust, und ich kann mir denken, dass viele Eltern im Augenblick Sorge haben, können wir unsere Kinder überhaupt noch Internaten anvertrauen. Deswegen ist es für mich wichtig, noch mal hervorzuheben, wie groß ist denn die Dimension des Problems überhaupt. Ist es eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Kinder und Jugendliche nun Opfer von Missbrauch werden? Und mir liegt daran, das nun zurückzuweisen. Sicher haben wir es mit Fällen zu tun. Es geht jetzt gar nicht darum, diese Einzelfälle zu bestreiten. Nur ist es nicht so, dass nun besonders häufig an Internaten solche Missbrauchsfälle auftreten. Das ist unbewiesen. Die derzeitige öffentliche Debatte erweckt aber diesen Eindruck. Also den Eindruck, dass Internatspädagogen mit hoher Wahrscheinlich pädophil sind, nach derselben Logik sind Bankangestellte mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Bankräuber.

    Schulz: Wenn wir auf die Situation im Internat blicken: das ist ja eine kleine, doch nach außen abgeschottete Welt. Welche Rolle spielt das?

    Ferenschild: Die Abschottung ist sicher ein Faktor, der da förderlich sein kann. Ich würde gerne für unseren Bereich von Internaten sagen, wir sind aber seit vielen Jahren sehr sensibel geworden. Der Ursprung dieser Sensibilität, oder dieses Gefahrenbewusstseins hängt auch mit der Odenwaldschule zusammen. Da hat es ja erste vereinzelte Fälle schon Ende der 90er-Jahre gegeben. Genauer gesagt sind diese Fälle damals bekannt geworden. Wichtig ist, dass seit dieser Zeit wir ein Bewusstsein für dieses Missbrauchsproblem entwickelt haben, also ein Gefahrenbewusstsein, und auch seit vielen Jahren Prävention in diesem Bereich betreiben. Im Moment ist ja auch die Frage, wie können wir in Zukunft Kindesmissbrauch, sexuellen Missbrauch vermeiden. Da kann ich Ihnen gerne ein paar Dinge nennen, die wir eigentlich seit Jahren vorantreiben.

    Schulz: Das wäre interessant.

    Ferenschild: Soll ich das machen? - Wichtig ist - das merkt man auch an der jetzigen Diskussion -, dass die Schulen, die Schulleitung und auch die Schulgemeinschaften eine offene und angstfreie Aufklärungsstruktur zur Verfügung stellen, dass also betroffene Kinder, Jugendliche nicht die Angst haben, den Eindruck haben, ich rede jetzt hier gegen eine Wand, die sich verschließt. Die Institution muss akzeptieren, dass es diese Fälle gibt. Das ist mal das wichtigste, eine angstfreie offene Aufklärungssituation. Eine wichtige Maßnahme im einzelnen ist, dass wir in unseren Internaten vermeiden, dass Kinder und Jugendliche immer nur eine einzige Bezugs- und Vertrauensperson haben. Das heißt, unsere Internatsbetreuer und -Betreuerinnen arbeiten zwar mit einer hohen Eigenverantwortung, aber eben auch als Team, so dass die Kinder und Jugendlichen immer mehrere Ansprechpartner vorfinden. Diese Vereinzelung von Beziehungen ist natürlich missbrauchsfördernd, das ist ganz klar, und es ist von den Institutionen zu gewährleisten, dass da multilaterale Beziehungsstrukturen hergestellt werden. Das heißt, im einzelnen gibt es an diesen Internaten, an unseren Internaten Beratungslehrer, stehen Psychologen zur Verfügung, es gibt Vertrauensgremien, es gibt sogar Sorgentelefone, über die man sich an externe Vertrauenspersonen wenden kann. Wir fangen jetzt nicht erst an, seit vergangenem Freitag diese Fälle aufzuarbeiten, sondern wir sind seit Jahren eigentlich sensibilisiert und versuchen, Strukturen herzustellen, die Missbräuche dieser Art verhindern.

    Schulz: Noch einmal allgemeiner gefragt. Es geht ja um Strukturen von Überordnung, Unterordnung, Befehl und Gehorsam, könnte man auch noch stärker zuspitzen. Liegt da automatisch die Machtüberschreitung in der Nähe der Macht?

    Ferenschild: Ich rede jetzt mal nur über diesen besonderen Typus der Landerziehungsheime, schreckliches Wort. Dahinter verbirgt sich aber eine Pädagogik, die, wie wir sagen, das Kind auf Augenhöhe betrachtet. Gerade die Odenwaldschule ist ein Beispiel dafür, dass Hierarchien zwischen Lehrern, Lehrerinnen und den anvertrauten Kindern und Jugendlichen möglichst gering sind. Die Jugendlichen sind da einbezogen in alle möglichen Mitbestimmungsformen. Die können sehr stark mitreden. Die haben ein sehr hohes Selbstbewusstsein an dieser Schule. Insofern sind gerade diese Internate wenig anfällig für Hierarchien, für disziplinäre Strukturen, die verhindern, dass die Kinder mutig sind und sagen, was ihnen nicht passt.

    Schulz: Bräuchte jede Schule, um noch mal auf das Stichwort Abgeschottetheit, Offenheit zu sprechen zu kommen, einen Ansprechpartner auch von extern, der für solche Fälle zur Verfügung steht?

    Ferenschild: Das ist sicher sehr empfehlenswert. Das habe ich ja auch eben angedeutet. Es ist wichtig, auch als vertrauensbildende Maßnahme nach außen, den Eltern gegenüber, dass Schulen dieses Thema nicht nur sozusagen in ihren eigenen Mauern abhandeln, sondern dass es externe Vertrauenspersonen gibt, die sich im Zweifel im Einzelfall auch anbieten und neutral solche Fälle mit den Betroffenen verhandeln.

    Schulz: Jetzt ist für Ende April ein Runder Tisch geplant, zu dem Familienministerin Schröder eingeladen hat. Was versprechen Sie sich davon?

    Ferenschild: Ich sage noch mal: was uns im Augenblick bedrückt, neben den Einzelfällen - jeder einzelne Fall ist natürlich katastrophal -, aber was uns bedrückt, ist Vertrauensverlust unseren Einrichtungen gegenüber, und ich sehe in diesem Runden Tisch auch eine Chance, das Vertrauen in der Öffentlichkeit zurückzugewinnen und klarzumachen, wie ich am Anfang sagte, es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass Kinder nun besonders an unseren Internaten Opfer von Missbrauch werden. Ganz wichtig ist eben Wiederherstellung eines Vertrauens, und da, denke ich, ist dieser Runde Tisch eine ganz sinnvolle Maßnahme.

    Schulz: Das war heute in den "Informationen am Morgen" hier im Deutschlandfunk der Sprecher der Vereinigung deutscher Landerziehungsheime e.V., Hartmut Ferenschild. Danke schön!

    Ferenschild: Danke Ihnen auch.