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Was, wenn das Kino stirbt?

Die Kinobesuche sind in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen und nur noch ein Viertel aller Umsätze des Films werden dort erzielt. Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage in Oberhausen, beschäftigt sich mit der Frage, was aus dem Film wird, wenn es Kinos nicht mehr gibt.

Von Wolfram Schütte | 10.08.2012
    Der Titel "Film und Kunst nach dem Kino” klingt vieldeutig. Wenn man ihn aber verbalisiert, wird klarer, was der Autor damit meint, nämlich: Wie werden der Film und die Kunst nach dem Verschwinden des Kinos aussehen? Diese Frage stellt sich Lars Henrik Gass, der seit 1997 die Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen leitet. Es ist nicht verwunderlich, dass ein Filmfestivalleiter sich diese Gedanken macht. Es geht ihm sozusagen um die eigene Existenz. Denn die inflationäre Zunahme von Filmfestivals in den letzten Jahrzehnten scheint zwar von einer prallen Gegenwärtigkeit von Film und Kino bei uns zu zeugen; ist aber eher das täuschend falsche Signal einer "Angstblüte", welche die permanente Krise des Kinos verdeckt.

    Der Autor Gass belegt die Situation mit Zahlen: Gab es in den Fünfziger Jahren allein in der Bundesrepublik 800 Millionen Kinobesuche, so war die Frequentierung der gesamtdeutschen Kinolandschaft um das Jahr 2010 auf rund 126 Millionen zurückgefallen. Außerdem: Nur noch ein Viertel aller Umsätze des Films werden noch im Kino erzielt. Und konnte man vor rund zehn Jahren noch sicher sein, dass zumindest die Festivalsieger von Cannes, Venedig und Berlin, der drei großen Filmfestivals der Welt, quasi automatisch ins Kino kamen, so ist das heute längst nicht mehr so.

    Seit der Kurzfilm als steuerbegünstigende Zugabe im Kino der Fünfziger und frühen Sechziger Jahre der Bundesrepublik gestrichen wurde, hat auch das Festival, für das Gass verantwortlich ist, seine wesentliche Funktion verloren, nämlich als Testfall und Markt für Käufer zu fungieren.
    Das gilt auch für andere Filmfestivals, wie zum Beispiel den Hofer Filmtagen oder dem Mannheimer Filmfest, deren internationales Programm nur einmal an ihren Veranstaltungsorten gezeigt wird, aber zumeist vollständig folgenlos sowohl für unsere Kino-, Verleih- oder Fernsehsituation bleibt.
    Das heißt, die Festivals sind einzig noch lokale Events, die punktuell Öffentlichkeit herstellen - ein Aspekt, den Gass bei seinen Überlegungen zum Schwinden der kollektiven "Wahrnehmungsform” Kino und deren Ersetzung durch eine Grundindividualisierung unserer Gesellschaften, was mit einer technologischen Veränderung einhergeht, leider etwas vernachlässigt. Das Ende des heutigen und vergangenen Kinos ist so absehbar wie unaufhaltsam und ablesbar am Verschwinden der architektonischen Kino-Räume in unseren Städten ebenso wie an den dort noch oder schon nicht mehr gezeigten Filmen selbst.

    Wenn auch die Passagen, die sich mit dem absehbaren Ende des Kinos beschäftigen, die schlüssigsten in Gass' Essay sind, so will er doch, dass sein Blick auf eine mögliche Zukunft des Films nach dem Ende seiner bisher primären kollektiven Abspiel- und ökonomischen Amortisierungsform besonders wahrgenommen wird. Damit kommt der Film, dem ja lange und von manchen rigiden traditionellen Ästhetikern noch heute sein Kunstcharakter trotz seiner hybriden Verbindung mit dem Kommerz bestritten wurde, in engsten Kontakt zum bildenden Kunstmarkt. Gass - wohl auch weil er als Festivalleiter auf der Suche nach zusätzlichen Legitimationen für seinen primären Kuratoren-Beruf ist - kennt sich auf diesem Gebiet sehr gut aus, wohingegen die professionelle Filmkritik diese Entwicklung des Films für die Kunst nach, beziehungsweise jenseits des Kinos noch kaum wahrgenommen hat. Der Migrationsprozess ist aber nach den Erfahrungen von Gass schon im vollen Gange und hat auch Folgen für den Film, der bislang als "Videokunst” oder "Experimentalfilm” auf den Kunstmessen höchst unprofessionell gezeigt wird. Mit der Migration in den Kunstmarkt tritt eine Reauratisierung des Films ein. Seine "Nobilitierung als Kunstform” findet nun unter der Bedingung von einer verknappten Aufführung und einer limitierten Auflage als Einzelstück statt.

    So detailliert sich Lars Henrik Gass mit den neuen Restriktionen des Kunstmarktes und dessen Reflexionen in diesen "Künstlerfilmen” beschäftigt, dem kurzzeitig auffälligen Musikvideo gibt er jedoch keine Zukunft. Den Festivals aber weist er, wie auch einzelnen Kinos oder neu zu gründenden Institutionen die Rolle sowohl von temporären Museen zu als auch die Aufgabe, die einstige gesellschaftliche kollektive Wahrnehmungsform qua Kino in Musterbeispielen weiterhin erfahrbar zu machen.

    Es ist höchste Zeit, dass wir uns über die mögliche Zukunft des Films und seiner schwindenden Funktion in unserem Lebensalltag Gedanken machen. Lars Henrik Gass hat mit seinem weit ausholenden Essay einen Anfang gemacht. Zu hoffen ist, dass ihm andere, Filmkritiker und -Wissenschaftler, Stadtplaner und Soziologen folgen werden.

    Lars Henrik Gass:"Film und Kunst nach dem Kino"
    Philo-Verlag,
    Berlin 2012,
    132 Seiten, 10 Euro