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Was wird aus der Europäischen Union?

Die Euro-Krise zeigt deutlich, dass sich in der europäischen Finanzpolitik dringend etwas ändern muss. Brauchen wir künftig mehr oder weniger Europa? Cerstin Gammelin, Brüssel-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, meint klar: mehr.

Von Cerstin Gammelin | 05.09.2011
    Wer in den Ferien durch europäische Nachbarländer gefahren ist, wird sie gesehen haben. An den Autobahnen, auf Dorfplätzen und in Stadtzentren, überall fallen sie dem Urlauber auf, und das oft auch noch unangenehm: Die Rede ist von Baustellen. Auch Baustellen sind ein Sinnbild der seit drei Jahren anhaltenden Krise. Denn viele von ihnen sind mit Geld finanziert, das aus milliardenschweren Konjunkturprogrammen stammt. Regierungen haben sie aufgelegt, um zu verhindern, dass aus der Finanzkrise eine Wirtschaftskrise wird, die Unternehmen in den Ruin treibt und Millionen Europäer arbeitslos macht.

    Jetzt steckt das Geld in den Baustellen – und die Regierungen selbst in der Klemme. Nicht nur, dass sie mit riesigen Schuldenbergen zu kämpfen haben. Aus der Schuldenkrise ist längst eine politische Krise geworden. Eine Krise, die zuerst schonungslos nationale Schwächen offenbart hat - und jetzt auch an die Substanz der Europäischen Gemeinschaft geht. Das Drama um die fortlaufende Rettung Griechenlands mit vielen Milliarden Euro, die von europäischen Steuerzahlern verbürgt werden, hat inzwischen eine ganz grundsätzliche Entscheidung auf die europäische Tagesordnung gesetzt. Es steht die Antwort auf die Frage an: Was wird aus der Europäischen Union?

    Es geht ums große Ganze. Soll die Europäische Union eine politische Union werden – oder eine Freihandelszone? Werden die 27 Staaten auf ihre Souveränität pochen und sich darauf beschränken, künftig zoll- und barrierefrei Waren und Dienstleistungen auszutauschen, ohne politische Verpflichtungen, so wie es die Briten immer wollten – oder entscheiden sie sich, tatsächlich als Gemeinschaft aufzutreten, also politisch enger zusammen zu gehen, auch Verantwortung füreinander zu übernehmen, ihre Kräfte zu bündeln – so wie es den Gründervätern der Union vorschwebte?

    Die Krise markiert die Grenzen des bisher praktizierten europäischen Weges, Entscheidungen irgendwie auszusitzen, ganz kleine Schritte zu gehen und immer einen Ausweg offenzulassen. So wurde auch der jetzt gültige EU-Vertrag von Lissabon ausgehandelt, es sollte eine Verfassung für Europa werden und endete als höchst kompliziertes Instrumentarium, das schon zwei Jahre nach seiner Einführung am Ende ist und reformiert werden muss. Die darin verankerten Instrumente reichen nicht aus, die Krise zu bändigen und einen Weg in die Zukunft zu zeigen. Es gibt fünf Präsidenten in der EU, aber keiner hat wirklich was zu sagen. Es gibt einen Stabilitäts- und Wachstumspakt, aber dessen Regeln werden nicht eingehalten. Und deshalb ist die Lage so ernst wie noch nie. Die Krise und der unzulängliche Vertrag von Lissabon haben die Europäische Union zu einer riesigen Baustelle gemacht. Das Risiko, darunter begraben zu werden, ist ebenso groß wie die Chance, ein neues Europa zu bauen. Die Europäer könnten den Druck der Krise nutzen, um aus der Europäischen Union tatsächlich eine Gemeinschaft zu machen.

    Vieles spricht dafür, enger zusammen zu rücken. Die Welt hat sich verändert. Der westliche Block hat mächtige Gegenparts bekommen. China, Indien, Brasilien, die arabische Welt, sie alle drängen mit Kraft auf die politische und wirtschaftliche Weltbühne. Für die kleinen europäischen Länder könnte da bald kein Platz mehr sein – für eine mächtige Europäische Union dagegen schon.

    Um sich diesen Platz zu sichern, müssen auf der Baustelle Europa zwei Probleme gelöst werden. Zunächst einmal geht es darum, die vorhandenen rechtlichen Mittel so weit wie möglich zu nutzen, um die Krise einzudämmen. Übertragen auf die Realpolitik bedeutet das, endlich die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ernst zu nehmen und zu befolgen. Haushaltsdisziplin ist angesagt, Strukturreformen nötig. Diskussionen über die vage Vorstellung einer Wirtschaftsregierung sind in diesem akuten Stadium unproduktiv. Jetzt muss gehandelt werden.

    Schließlich muss die Richtung der Union neu bestimmt werden. Die 27 Staats- und Regierungschefs müssen sich ehrlich machen, jeder von ihnen muss sagen, wie die Zukunft der Union aussehen soll. Mit allen Konsequenzen. Wer für eine Freihandelszone plädiert, behält zwar die nationalen Haushaltsrechte, wird auf der internationalen Bühne allerdings bestenfalls zum Ersatzspieler heruntergestuft. Wer die politische Union will, gibt zwar Souveränität an die Gemeinschaft ab. Er bekommt aber dafür die Chance, als Bestandteil einer Gemeinschaft, die viele Interessen bündelt, selbst über die eigene Zukunft entscheiden zu können. Freilich, für eine politische Union, mag sie Vereinigte Staaten von Europa heißen oder anders, müssen die Europäischen Verträge wieder geändert werden. Diese Baustelle anzugehen, sollten wir Europäer uns wert sein. Denn die Gemeinschaft, das sind wir alle zusammen.