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Was zum Schaffen drängt

Er war der Initiator der 1905 gegründeten Künstlergruppe "Die Brücke" und dafür verantwortlich, dass diese Vereinigung die Kunst des 20. Jahrhunderts durch ihren expressiven Stil radikal veränderte. Ernst Ludwig Kirchner gab auch nach dem Zerbrechen der "Brücke" neue Impulse zur Weiterentwicklung des Expressionismus. Im Nazi-Regime wurde seine Kunst als "entartet" abgewertet. Kurz darauf starb der gebrochene Künstler im Alter von 58 Jahren den Freitod.

Von Rainer B. Schossig | 06.05.2005
    Am Anfang waren Sinnenfreude, Rücksichtslosigkeit und ein unerschütterlicher Glaube an die eigene, noch unbewiesene künstlerische Kraft:

    "Auf der Akademie lernte ich das Aktzeichnen in akademischer Weise verwerfen. Ich arbeitete nur zu Hause in freier Weise. Oft stand ich mitten im Coitus auf, um eine Bewegung, einen Ausdruck zu notieren."

    So drastisch lesen sich die Lebenserinnerungen eines Künstlers, der die deutsche Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufs heftigste erschütterte, ohne dass ihm dies an der Wiege gesungen worden wäre: Ernst Ludwig Kirchner. Am 6. Mai 1880 als Sohn eines Papierchemikers in Aschaffenburg geboren, beginnt er 1901 zunächst Architektur in Dresden zu studieren. Gleichzeitig besucht er allerdings eine private Malschule.

    Bei einer Ausstellung in München entdeckt er die Malerei Wassily Kandinskys und beschließt endgültig, Maler zu werden. Zurück in Dresden macht er die Bekanntschaft von Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff. Gemeinsam gründen sie 1905 die Künstlervereinigung "Die Brücke". Die Maxime der Gruppe:

    "Mit dem Glauben an die Entwicklung an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden, rufen wir alle Jugend zusammen – und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohl angesessenen älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht das wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt."

    Verfasser der rebellischen Zeilen war Ernst Ludwig Kirchner. Und der rhetorisch verkündete "Elan Vital" wurde auch praktisch gelebt. Die Malerfreunde strebten nach "freier schöpferischer Arbeit in freier Natürlichkeit". Gemeinsam mit ihren Modellen, jungen Mädchen aus besseren Dresdener Familien, zogen sie mit Leinwand, Farben und Staffelei gern an die Moritzburger Seen; doch sie malten und zeichneten überall, wo es Leben und Bewegung gab. Sie arbeiteten auf der Straße, in Cirkus und Theater, in Café und Cabaret.

    Kein Wunder, dass die jungen Brücke-Maler aus der schönen, doch provinziellen Dresdener Residenz in die Metropole streben. 1911 geht Kirchner ins hektische Berlin, wo er seine legendären Großstadt- und Asphaltdschungel-Bilder malt. Ein Jahr später hängen seine Bilder in der Kölner Sonderbund-Ausstellung. So flammend-grell die Farben der Brücke-Leute sind, so rhythmisch zuckend ihre Formen, so bald zerfällt auch die Gruppe der expressionistischen Malerpioniere wieder.

    1914 meldet sich Kirchner freiwillig zum Kriegsdienst, doch der Grabenkampf lässt ihn bald körperlich und seelisch zusammenbrechen. Den Rest des Ersten Weltkriegs verbringt er im Lazarett; 1917 übersiedelt er nach Davos. Hier lernt er Frédéric Bauer kennen, den Chefarzt des Davoser Parksanatoriums, der bald zu seinem Vertrauten wird. 1956 erinnert sich Frédéric Bauer an seinen Freund:

    "Kirchner malte nicht nur mit dem Verstand, nicht nur mit dem Gehirn. Sondern mit dem Gefühl. Er ist ein Maler des Gefühls gewesen – eine wunderbare Kunst. Man braucht eine gewisse Zeit, um dazu zu kommen; aber wenn man es einmal begriffen hat, dann ist es etwas sehr Großes!"

    Frédéric Bauer wird in den 30er Jahren zum wichtigsten Förderer Kirchners. Er begleitet dessen Entwicklung nicht nur als Arzt und Diskussionspartner, sondern erwirbt im Lauf der Jahre über 500 Werke Kirchners.

    "Kirchner als Mensch war von vielen Leuten gefürchtet, er war nicht auf den ersten Blick sehr freundlich, er konnte abweisend sein. Aber wenn man ihn einmal kannte, dann war er außerordentlich gütig, freundlich, hilfsbereit und nobel, anständig. Das ist für mich absolut unvergesslich."

    Zurückgezogen in der Schweizer Bergwelt entwickelte Kirchner seine linear abstrahierende, ekstatische Malweise; sie wurde klirrend und spröde. Er reiste nur noch selten nach Deutschland, litt unter Depressionen und Schwächeanfällen und Ticks. So übermalte er etwa alte Bilder und datierte sie vor, um seine kunsthistorische Position aufzuwerten. Seine internationalen Erfolge, Ausstellungen in Bern, Basel und Detroit wurden überschattet von der NS-Kulturpolitik in seiner Heimat:

    "Als er auf die Liste der entarteten Kunst gesetzt wurde, da ist seine Seele gebrochen; er hat das nie überwunden. Es kam über ihn eine Atmosphäre der Furcht. Er bekam Verfolgungsideen. Das war nicht wegzunehmen, er war geschlagen. Ich habe ihn noch drei Tage vor seinem Tode besucht, und dann, am Mittwoch darauf, hat er sich ins Herz geschossen."

    Kirchner starb 1938. Sein malerisches Vermächtnis war – anders als seine kraftstrotzenden Anfänge – eine geradezu mystische Selbstbesinnung und Bescheidenheit:

    "Jedes Bild ist eine Umschreibung des großen Geheimnisses, und es stellt im letzten Grunde nicht die einzelne Persönlichkeit dar, sondern ein Stück der in der Welt schwebenden Geistigkeit oder des Gefühls. Die Möglichkeit, sich so weit zu entselbsten, dass man mit dem Anderen diese Verbindung eingehen kann, sei es durch Worte oder Farben oder Töne – das ist Kunst."