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'Wat willste maache?'

In der Mitte der 80er-Jahre wurde im Kölner Zoo der Schimpanse Petermann erschossen, weil er ausgebüchst war und randalierte. Die Geschichte des legendenumrankten Affen nimmt sich Autor Walter Filz zum Anlass, ein Porträt kölnischer Eigenarten zu zeichnen - und das sehr präzise.

Von Florian Felix Weyh | 01.02.2011
    Über Köln geht die Sonne auf, ein strahlender Oktobertag kündigt sich an. Doch der Schein trügt. Noch vor High Noon wird es einen Toten geben. Einen Ausbrecher. Auf der Flucht erschossen. Von hinten!

    "Ich glaube, er wurde gar nicht von hinten erschossen. Aber er wurde erschossen – von hinten war dann sofort die Legende –, und das natürlich in dem Moment, als er über die Zoomauer – auch das ist Blödsinn! – wollte. Dann war das in Windeseile eigentlich da, dass man sagte: 'Okay, also im Grunde wir sitzen zwar gemütlich in unseren verstunkenen Südstadtknappen, trinken Kölsch und rauchen selbstgedrehte Zigaretten, aber dieser arme Schimpanse, der da immer in seinem verkachelten Käfig hauste wie andere in der Psychiatrie, der wurde nun beim Versuch die Freiheit zu gewinnen erschossen. Dieser soll unser Held sein!'"

    Petermann. Der Held. Geboren irgendwann Ende der 40er-Jahre, einen schmählichen Tod durch eine Polizeikugel erlitten am 10. Oktober 1985. Seither eine rheinische Legende: Ein Affe, der Mensch geworden ist, ein Showstar der 50er-Jahre; einer, der die Massen in der Karnevalsbütt begeisterte und die Darwinsche Kränkung aus dem 19. Jahrhundert vergessen machte. Affe und Mensch, ist das im Grunde nicht eins? Ja doch, nickt der Kölner, denn dieser Affe hatte Humor. Oder wie Walter Filz präzisiert: "Es gilt nicht nur, dass der Kölner Humor etwas Affenartiges hat, der Affenhumor hat auch etwas durchaus Kölnisches."

    "Ich bin ja tatsächlich erst einmal der Geschichte eines berühmten Schimpansen nachgegangen. Und hab dann aber angefangen zu gucken: Wo gibt's da Hintergründe, was ist da sonst noch passiert? Und da fielen mir dann so bestimmte Sachen auf, wo ich dachte: 'Ach, da kommt das her! Und da hat dieses seinen Ursprung!' Also bestimmte Formen des eben etwas brachialeren Humors, auch bestimmte Formen der Lässigkeit, die dann eine Nachlässigkeit ist. Also warum sieht die Stadt so grässlich aus, wie sie nun mal jetzt aussieht? Das hat mit einem "Is uns doch ejal!" zu tun, das seine Gründe aber schon in den 50er-Jahren hat. Und das fand ich dann eigentlich alles ganz interessant, denn ich kann ja an der Stadt nicht leiden, ohne die Stadt zu lieben, sonst wär sie mir ja piepegal!"

    Walter Filz, geborener und seine Heimatstadt verzweifelt liebender Kölner, ist als Kulturjournalist für hintergründige Radiofeatures mit aufklärerischem Witz berühmt. Sie beginnen gewöhnlich mit bekannten Alltagsereignissen, um dann überraschende soziologische Phänomene ans Licht zu befördern. Mit dem "Affen zu Köln", Filz erstem Buch, ist das ganz genauso. Vordergründig eine leicht exotische Lokalstory über einen vermenschlichten Schimpansen, weitet sich das Blickfeld schon nach wenigen Seiten zu einem für Kölner Beschwichtigungsverhältnisse erstaunlich spitzzüngigem Erklärungsversuch, warum in der rheinischen Metropole politische und gesellschaftliche Prozesse ein bisschen anders verlaufen als anderswo. Man erfährt, dass Köln in den 50ern mit Chicago in Sachen Kriminalität konkurrieren konnte, ja, der Zustand nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt, wie Filz es nennt, "präzivilisiert" gewesen sei – kein Wunder, dass der Affe Petermann da seine größten Publikumserfolge feierte. Dabei ist der Kölner gar nicht so offen für Fremde – Affen sind schließlich Aff-Rikaner –, und um das zu kaschieren, praktiziert er eine "Sozialchoreografie" in fünf Schritten: Hinabstoßen – Runterbeugen – Umarmen – Vereinnahmen – Bekümmern.

    "Das macht der Kölner eigentlich mit Fremden, aber ich glaube, man kann's erweitern: Er macht es mit allem, was ihm fremd ist! Mein Lieblingsbeispiel war immer gewesen, 1957 kommt die damals gefeierte Sängerin Josephine Baker nach Köln, eine Schwarze, und in Köln war die Reaktion unfassbar. Es ist eine berühmte Frau, aber man macht jetzt Folgendes. Erstmal erklärt man diese berühmte Frau zu: 'Na, im Grunde ist das ne Negerin!' Hinabstoßen. Dann kommt das Runterbeugen. Das ist: 'Och, so ne arme Negerin!' Dann kommt das Umarmen, dann sagt man: 'Du bist aber genauso eine wie wir ja auch.' Dann kommt dieses Vereinnahmen zu sagen: 'Hier komm!', und da landen wir dann bei dem Bekümmern, dass man also in der Vereinnahmung auch sofort sagt: 'So, und jetzt tun mer mal schön was für disch, für disch armes Negerkind.'"

    Nicht fern von diesem gönnerhaften, aber immerhin abgemilderten Rassismus bewegt sich die Sozialfigur des "leeve Jung", des netten Kerls von nebenan, der "nett" allerdings nur in einer fernen Nebenbedeutung ist, während er hauptsächlich und in erster Linie als ganzer Kerl auftritt, als Boxer einen Ringrichter niederschlägt oder im Auto hirnlos durch die Innenstadt brettert.

    "Der berühmte Satz dahinter ist: 'Wat willste maache?' Also dieses 'Er kann nicht anders, er ist so'. Und im Grunde weiß er nur, was sich gehört, indem er guckt: Was machen die anderen und wie reagieren die auf das, was ich tue? Da ist keine Moral dabei, sondern es handelt sich um ne Art Nachahmen. Man tut was und merkt: 'Aha, dafür gibt's Applaus.' Oder man merkt: 'Au Backe, ich steh hier plötzlich vorm Richter, das war wohl nicht gut, was ich gemacht habe.' Und mit dieser Art von Trial-and-Error-Prinzip kommt man durch die Welt, eignet sich aber innere Werte, moralische Standards überhaupt nie an. Sondern 'de leeve Jung' versucht es halt immer. Und das war für mich ja geradezu ein Knoten, der sich löste, um die Kölner Mentalität oder einen Teil der Kölner Mentalität zu kapieren. Dass ich dachte, genau das isses! Es ist die Simulation von Moral ohne jede innere Einsicht, dass man Moral braucht!"

    "Der Freibrief ist in Köln leicht zu bekommen", schreibt der Autor. "Die meisten Kölner stellen ihn sich selbst aus." Das ist ziemlich böse formuliert, aber Walter Filz steht damit nicht ganz alleine. Wann immer sich die Wissenschaft etwa mit dem Kölner Humor beschäftigte, kam nur Bitteres heraus – so die Diagnose, der Kölner besitze gar keinen Witz, sondern weise nur eine besonders hohe Lachbereitschaft auf. Und die ist dem Rest der Welt leidlich unverständlich, was sich allerspätestens zeigte, als das Fernsehen begann, Karnevalssitzungen aus der Domstadt bundesweit zu übertragen. Vor nicht allzu langer Zeit, erzählt Walter Filz, gab es sogar eine Wiederholung davon in der ARD:

    "Also 50er-Jahre, man sieht die Prinzenproklamation, das ist also die Inauguration des Karnevalsprinzen in Köln. Man hat also diese Proklamation. Es werden unfassbar schlechte Büttenreden gehalten, und es gibt einen Off-Kommentator, also wie bei einem Fußballspiel – das würd man heute schon gar nicht mehr machen! –, der sich beim Publikum, bei den Fernsehzuschauern für den schlimmen Humor, den sie gerade übertragen, entschuldigt: 'Es tut mir leid, ich kann es selbst nicht fassen, hoffen wir, dass uns die nächste Darbietung Besseres bringt!'"

    Petermann, der berühmte Kölner Schimpanse in Menschenkleidung, gehörte nur für kurze Zeit zur rheinischen Freakshow. Dann kam er, wie Menschen auch, in die Pubertät und wurde rabiat. Die Domestizierung war eindeutig fehlgeschlagen, bis zu seinem tödlichen Ausbruchsversuch musste er in einer gekachelten Zelle von zehneinhalb Quadratmetern ausharren, die allen Maßstäben artgerechter Tierhaltung spottete. Mag sein, Petermann suchte den Tod im Kugelhagel, um all dem zu entrinnen ... aber das wäre schon wieder Legende. Nicht erfunden hingegen scheint die Nähe zwischen Affe und Mensch, betrachtet man sie aus der Perspektive unkontrollierbarer Affekte.

    "Also ich kann mich in den 60er-Jahren noch erinnern an auch Zustände des Präzivilisierten. Ich wurde zum Beispiel immer sonntags um 11 Uhr in eine Kinovorstellung geschickt. Und in diesem Kino liefen alte Zorro-Filme, und diese Zorro-Filme waren ein Vorwand, um eine komplette Saalschlacht von Kindern zwischen 10 und 14 zu veranstalten. Das ging auf blutigste, böseste Weise zur Sache. Wäre das heute so ... ja, die Sozialpolitik wäre alarmiert! Und ich kann mich auch noch gut erinnern, dass man tatsächlich in bestimmte Gegenden nicht ging, weil man einfach eins so auf die Fresse bekam - grundloserweise. Also von wegen soziale Problemviertel, No-go-Area, da darf man nicht hin ... das konnte man mit einem Ausländeranteil von null Prozent, konnte man das damals ganz genau unter sich auch hinkriegen!"

    Nein, der "Affe zu Köln" ist keine nostalgische, gar schunkelselige Selbstvergewisserung, sondern ein ziemlich präzises Porträt kölnischer Eigenarten. Doch selbst wenn das den Geschilderten in der Domstadt missfällt, werden sie mit Walter Filz auch nichts anderes machen als mit Josephine Baker, ihn nämlich nach anfänglichem Grummeln an ihre breite Brust drücken und ihn schließlich zum "leeve Jung" erklären. Für sein Schandmaul kann er schließlich nichts, ist er doch ... ein Kölner.

    Walter Filz: "Der Affe zu Köln" Greven Verlag, Köln 2010, 240 Seiten, 16,90 Euro