Donnerstag, 28. März 2024

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Weder für die Schule, noch für das Leben lernen wir

Klassenziel nicht erreicht: Portugal leistet sich den teuren Luxus der Dummheit. Fast 10 Prozent der Bevölkerung sind Analphabeten, 16 Prozent der Schulabgänger haben keinen Abschluss, fast jeder zweite Schüler bleibt mindestens einmal sitzen. Kein Wunder, dass das Land am Westende der Europäischen Union den Titel "Armenhaus Europas" trägt.

Mit Reportagen von Jochen Faget; Redakteur am Mikrofon: Henning von Löwis | 19.01.2008
    Carlos Brigadeiro, Student der Geschichte an der Universität Lissabon, über die Bildungsmisere in Portugal:

    "Es ist unglaublich. Da reden die Politiker immer, wie wichtig die Hochschulbildung ist, doch dann kürzen sie den Universitäten das Geld."

    Und Joao Neves, Doktorand an der Fachhochschule von Leiria, über die sozialen Härten des Studiums:

    "Ohne das Geld meiner Eltern wüsste ich nicht, wie ich meine Studiengebühren bezahlen sollte."

    "Weder für die Schule, noch für das Leben lernen wir. Der Bildungsnotstand in Portugal" - Gesichter Europas mit Reportagen von Jochen Faget. Am Mikrofon: Henning von Löwis.

    Neue Horizonte eröffneten die Portugiesen einst der Welt. Vasco da Gama segelte nach Indien, Diogo Cão entdeckte Brasilien. Das kleine europäische Portugal unterhielt ein Weltreich, trieb Handel mit Afrika, Südamerika und Asien.

    Das überseeische Lusitanien ist Geschichte - spätestens seit 1999, als die Kolonie Macao an China übergeben wurde. Portugal ist zurückgekehrt nach Europa, heute Mitglied der Europäischen Union und der Euro-Zone. Und das heißt auch im Bildungswesen, europäisches Niveau anzustreben, allen Bürgern, eine umfassende Ausbildung von der Grundschule bis zur Universität zu
    ermöglichen - und, nicht zuletzt, Chancengleichheit zu gewährleisten. Dabei tut sich Portugal, oft als "das Armenhaus Europas" apostrophiert, sichtlich schwer.


    Porträt Santo
    Bildung kostet Geld, viel Geld, das Portugal nicht hat. Darunter leiden vor allem jene, die auf der Schattenseite der Gesellschaft leben, zum Beispiel die dunkelhäutigen Portugiesen aus den ehemaligen afrikanischen Überseegebieten, die zu Zehntausenden nach Portugal strömten - schlecht oder gar nicht ausgebildete Einwanderer. Sie hatten zunächst andere Sorgen, als sich um Bildung zu kümmern. Erst jetzt, also in der zweiten oder dritten Generation, wird in dieser Gesellschaftsgruppe mehr Wert auf Bildung gelegt.

    Zu den Portugiesen aus Übersee gehört Santo. Er hat sich viel vorgenommen. Und er ist sich im Klaren darüber, dass ohne Bildung nichts läuft.


    Santo rapt auch ohne Musik: "Rap bedeutet weder Gewalt noch dummes Nachahmen. Mit Rap kannst du sagen, was du fühlst." Rap bedeute ihm sehr viel, versichert der 24-jährige aus Afrika stammende Portugiese aus dem Lissabonner Sozialviertel Alta de Lisboa. Trotzdem ist es für ihn nur eine Art, sich auszudrücken: Santo - schlank, 1,80 groß, extrem freundlich und höflich - ist ein Multitalent: In seinem Zimmer stehen Holzskulpturen, hängen Bilder an den Wänden. Eine alte Schaufensterpuppe trägt ein blaues Kleid aus Jeans-Stoff. "Das hab ich alles selbst gemacht", erklärt Santo bescheiden, fast verschämt. "Mit Sachen, die ich im Müll gefunden habe." Er hofft, sich so irgendwann seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Kein Zweifel, Santo ist eine Ausnahmepersönlichkeit:

    "Ich würde gern mein eigenes Geschäft gründen, etwas für die Zukunft. Ich kann auch noch Kochen, verstehe etwas von Dekoration und Musik sollte auch irgendwie dabei sein."

    Musik ist allgegenwärtig im Viertel, auch im Café von Senhor António, wo Santo mit seinen Freunden abhängt. Viel mehr gibt es nicht zu tun, wie in vielen Problemvierteln liegt die Jugendarbeitslosigkeit auch in Alta de Lisboa um die 40 Prozent. Santo versucht seit Monaten ohne Erfolg, einen Job zu finden:

    "Es gibt einfach keine Arbeit. Es ist unmöglich, etwas zu finden. So sehr ich mich auch anstrenge. Ich habe viele Bewerbungsgespräche, aber bekomme nie einen Job."

    Santos Freunde nicken zustimmend, während er den Teufelskreis erklärt: Die Schule habe ihm keinen Spaß gemacht, da sei er nach der neunten Klasse abgegangen. Anfangs habe er sich mit Gelegenheitsjobs am Bau durchgebracht, doch die gebe es immer seltener und ohne Abitur wolle ihn sonst niemand beschäftigen.

    Santo und seine Freunde seien beispielhaft für Portugals großes Zukunftsproblem, das schlecht funktionierende Schulsystem, versichert die Soziologieprofessorin Isabel Guerra:

    "Wir haben in Portugal generell ein sehr niedriges Niveau der Schulbildung. Schlimmer noch: Die Zahl der Schulabgänger ohne Pflichtschulabschluss ist insbesondere bei Problemgruppen erschreckend hoch. Und alle Versuche, die Schule interessanter zu machen, hatten bis jetzt so gut wie keinen Erfolg."

    Isabel Guerra kennt die Probleme der Jungen aus dem Viertel Alta de Lisboa nur zu gut: Sie forscht über Unterrichtsorganisation an Lissabons angesehener Katholischen Universität. Die Professorin weiß, dass der in Portugals Schulen noch immer praktizierte Frontalunterricht und die Lehrpläne völlig überholt sind:

    "Das ist ja kein Problem der Unfähigkeit oder der Faulheit der Schüler. Das Problem liegt im Erziehungssystem, das die Anforderungen einer modernen Gesellschaft nicht mehr erfüllen kann. Es geht weder auf die Interessen der jungen Menschen noch auf die neuen Bedürfnisse des Landes ein."

    Die Namen der portugiesischen Flüsse und Distrikthauptstädte auswendig zu lernen, habe ihm nicht gefallen, scherzt Santo, während er, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, durch sein Viertel schlendert: Trostlose Neubauten, von denen schon nach wenigen Jahren der Putz abblättert; Autowracks verrotten am Straßenrand. Die meisten Geschäfte im Erdgeschoss der Sozialwohnungen stehen leer - die städtische Baugesellschaft hat sie aus irgendwelchen Gründen nie vermietet. Arbeitslose Jugendliche sitzen auf Straßenbänken aus Beton. Tristesse pur.

    Santo ist ausgebrochen: Mit 17 Jahren sei er nach London gegangen, erzählt er, hat dort selbstgemachte Postkarten und Kerzen verkauft, statt die Schule zu beenden. Erst später, nachdem er wieder nach Portugal zurückgekehrt war, habe Santo begriffen, wie wichtig ein Schulabschluss sei:

    "Darum mache ich jetzt mein Abitur nach. Es fehlt auch nur noch ein Jahr. Ich strenge mich sehr an. Es ist nicht leicht, das Leben ist teuer und ich finde nur Gelegenheitsarbeiten, aber irgendwie schaff ich es schon."

    Eher schlecht, als recht: Santo bekommt, solange er die Schule nachmacht, gerade einmal 150 Euro Sozialhilfe im Monat. Andere Unterstützung gibt es nicht. Portugal ist arm, kann sich nur ein äußerst grobmaschiges soziales Netz leisten. Vor allem aber hätten die Bildungspolitiker noch nicht eingesehen, dass sie das Erziehungssystem von Grund auf ändern müssten, findet die Soziologieprofessorin Isabel Guerra:

    "Es gibt inzwischen zwar einige Programme, die Schule an die gesellschaftliche Wirklichkeit anzunähern. Manche Lehrpläne werden modernisiert, Schulen mit Berufsausbildung geschaffen. Aber das sind nur halbherzige Versuche ohne große Ambitionen. Man versucht eigentlich nur, die allerschlimmsten Missstände zu beseitigen. An den grundsätzlichen Fehlern des Schulsystems ändert das nichts."

    Am Leben der jungen Männer im Alta-de-Lisboa-Viertel auch nicht: Die werden weiter jeden Tag in der Kneipe sitzen und dort ihren Rap hören, weil sie sonst nichts zu tun haben. Die meisten von ihnen werden wohl nie einen Job finden. Nur, weil sie in einem Schulsystem versagt haben, das nicht mehr in die heutige Zeit passt. Anders als die meisten von ihnen hat Santo noch nicht resigniert, träumt von einem besseren Leben. Aber Santo ist eben eine große Ausnahme:

    "Ich habe noch Pläne für mein Leben, will es zu etwas bringen. Das mag schwer sein, aber ich werde es schaffen, mit Fleiß und etwas Kreativität. Ich will studieren, will in spätestens fünf Jahren auf der Uni sein."



    Santo hat sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. In fünf Jahren will er studieren. Das sagt sich heute so leicht daher. Doch in der Vergangenheit war Hochschulbildung in Portugal das Privileg einer relativ kleinen Gesellschaftsschicht, die sich ein Studium leisten konnte.

    Der Schriftsteller Miguel Torga, Autor des monumentalen autobiografischen Werkes "A Criacao do Mundo" - "Die Erschaffung der Welt" - bewältigte ihn: den langen und beschwerlichen Weg von einem Dorf in Tras-os-Montes, der Provinz "jenseits der Berge", bis in die altehrwürdige Universität von Coimbra. Miguel Torga kann ein Lied davon singen, was es noch im 20. Jahrhundert in Portugal hieß, eine Schulbank zu drücken.

    "”Man trat durch die Seitentür ein - die andere, der Haupteingang, immer mit Erlassen behängt, welche die Rekruten zur Musterung riefen und die Bauern an ihren Zahlungsrückstand mahnten, führte in den Festsaal, in dem der Herr Lehrer die Trauungen vornahm. Zu den üblichen Trauzeugen gehörte Onkel Manuel Serralheiro, der Schlosser, ein Minho-Bewohner, der sich großartig auf Schlägereien verstand. Er legte sich auf den Fußboden, seine drei Söhne über ihm versuchten ihn zu treffen, er aber hieb auf sie ein und sprang mitten im Prügelhagel auf, ohne den geringsten blauen Fleck.

    Seine Werkstatt lag dicht nebenan, daher wurde er aus Bequemlichkeit gerufen. Er wohnte der Zeremonie mit dem Hut in der Hand und mit dienstbeflissener Miene bei und unterzeichnete am Schluss feierlich, als wäre er der Küster des Standesamts. Der Schulmeister, in Galoschen und in einen Hirtenmantel gehüllt, immer an unseren Gaben in Naturalien interessiert, empfing uns dementsprechend.

    ’Guten Morgen, Herr Lehrer!’

    ’Sieh da, Spatzenmännchen! Bist doch noch gekommen?’

    ’Ich habe einen Korb Kartoffeln mitgebracht, den ich bereits der Senhora Marquinhas abgegeben habe, drum habe ich mich etwas verspätet.’

    ’Schön, schön. Sieh zu, dass du morgen früher auf Trab kommst.’

    Wenn das Dutzend Eier ausblieb, oder es aussah, als sei die Wurst vergessen worden, mahnte er selbst den Verbleib an. Und sogar die Ärmsten erschienen mit einem Säckchen über der Schulter. Es gab aber solche Gaben und solche Gaben. Und so wechselte auch der Tonfall bei der Entgegennahme.""


    Porträt Júnia
    Die soziale Realität Portugals ließe sich in vier A’s beschreiben. Portugal, das ist A wie Amália Rodrigues, die ungekrönte Königin des Fado, A wie der malerische Stadtteil Lissabons Alfama, A wie das Touristenmekka Algarve, aber auch A wie "Analfabetismo". Das Analphabetentum ist die Altlast Portugals, die das Land bis zum heutigen Tage mit sich herumträgt.

    Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten 60 Prozent aller Portugiesen noch nie eine Schule besucht. An Schulen mangelt es zwar heute nicht mehr in Portugal und auch Lehrer sind vorhanden. Doch nach wie vor gibt es kein Lehramtsstudium. Lehrer kann im Prinzip jeder werden, der ein Hochschulstudium abgeschlossen hat. Tatsächlich werden allerdings nur jene Absolventen zum Schuldienst zugelassen, die sich im Verlauf des Studiums für das Lehramt entschieden haben. Sie absolvieren ein Praktikum, in dem sie zumindest ein wenig auf ihre spätere
    Arbeit vorbereitet werden.

    Und wenn sie dann ihren Dienst antreten, erleben sie nicht selten vor Ort eine böse Überraschung - liegt doch in Portugals Schulen so manches im Argen, zum Beispiel in der Schule von Lourinha.


    Felder, soweit das Auge reicht. Weinberge, Obsthaine und sanfte Hügel, die dann plötzlich schroff in den Atlantik abfallen: Das Städtchen Lourinhã, knapp 80 Kilometer nordöstlich von Lissabon, liegt in einer Gegend, die portugiesischer nicht sein kann: 8000 Einwohner, die Stadtpfarrkirche aus dem 14. Jahrhundert und die "Escola Básica dos 2º e 3º Ciclos Dr. Afonso Rodrigues Pereira" - ins Deutsche am besten mit "Hauptschule" zu übersetzen. Eine Schule, wie jede andere, meint Júnia Pereira:

    "Die Schule entwickelt sich weiter, dynamisch und offen. Man merkt, dass die Lehrer engagiert sind. Wir kämpfen um jede Verbesserung, um modernes Unterrichtsmaterial und gegen all die Schwierigkeiten, die das Erziehungssystem mit sich bringt."

    Die sind nicht wenig, versichert die 38-jährige Lehrerin, während sie vom Pausenhof auf den betonierten Platz nebenan zeigt, auf dem ein paar Basketballkörbe stehen und bunte Linien gemalt sind: Der Schulsportplatz sei ein ewiges Provisorium.

    "Wir haben noch immer keine Turnhalle! Wenn es regnet, gibt es keinen Sportunterricht für unsere Schüler. Keine Turnhalle, obwohl die Schule schon seit vielen Jahren existiert."

    Seit 16 Jahren, um genau zu sein. Aber damals reichte das Geld eben nur für das Hauptgebäude und die zwei Klassentrakte und jetzt hat das Erziehungsministerium auch keine Mittel für solchen Luxus. Sollen die Schüler doch im Freien turnen! 550 in den Jahrgangsstufen fünf bis neun sind es, betreut von 80 Lehrern.

    Die Afonso-Rodrigues-Pereira-Schule unterrichtet die Mittelstufe des portugiesischen Schulsystems. Die Klassen eins bis vier sind die Grundstufe, die zehnte bis zwölfte und damit Abschlussklasse heißen Sekundarstufe. Es gibt keine Unterscheidung zwischen Haupt-, Realschule und Gymnasium, dafür jede Menge Schulreformen. Wie viele das erst nach der Nelkenrevolution 1974 eingeführte System bereits erlebt hat, weiß niemand genau. In den letzten 20 Jahren waren es mindestens vier. Auf jeden Fall zu viele, klagt die Lehrerin Júnia Pereira:

    "Gerade bei Veränderungen im Erziehungsbereich werden die Ergebnisse doch frühestens in zehn Jahren sichtbar. Aber in Portugal folgte eine Reform auf die andere, wir hatten nicht einmal Zeit, sie auszuwerten. Dabei wäre das doch das wichtigste - zu wissen, was gut und was schlecht war. Es kann nicht gut sein, alle zwei Jahre eine Schulreform zu machen."

    Vor allem, wenn sich am Wesentlichen nichts ändert. Inzwischen müssen portugiesische Neuntklässer zwar für 17 Fächer pauken, fächerübergreifender Projektunterricht jedoch findet so gut wie nicht statt. Und: Es gelingt - trotz aller Anstrengungen der Lehrer - nicht, Schule und soziales Umfeld in Einklang zu bringen:

    "Oft stehlen sich die Eltern aus ihrer erzieherischen Verantwortung, wollen die ganze Arbeit der Schule überlassen. Viele Eltern verstehen nicht, dass Erziehung nicht nur in der Schule stattfindet. Sie muss zuhause beginnen. Die Schule ist doch keine Kinderaufbewahrungsanstalt."

    Weil auch das Bildungsniveau vieler Eltern noch immer sehr gering ist, sehen sie keinen Sinn in einer guten Ausbildung ihrer Kinder, erklärt die Soziologin Isabel Guerra von der Katholischen Universität Lissabon den Teufelskreis:

    "Die portugiesische Gesellschaft ist noch immer sehr ländlich, rückständig und nicht auf Wissenserwerb ausgerichtet. Das spiegelt sich auch im Schulsystem wieder. Wir schaffen es nicht, uns zu modernisieren. Das ist kein Erziehungsproblem, es ist ein grundsätzliches Problem des Landes. Und auch Institutionen wie die Schule sind noch in dieser Kultur verhaftet."

    In der Hauptschule von Lourinhã ist die große Pause gleich zu Ende. Die Kinder spielen im Schulhof, Júnia Pereira beobachtet sie nachdenklich. Natürlich liege ihr viel am Wohl dieser Schüler, versichert die Lehrerin. Natürlich wolle sie ihnen das Rüstzeug für eine bessere Zukunft vermitteln, schließlich hat Júnia Pereira selbst zwei Kinder. Beide gehen noch zur Schule, der Ältere macht in zwei Jahren sein Abitur. Seit 16 Jahren sei Júnia Lehrerin. 27 Jahre habe sie bis zu ihrer Pensionierung noch vor sich, rechnet die Frau Ende 30 vor. Aber ein bisschen resigniert hat sie schon jetzt:

    "Sicher kann man an diesem System und all seinen Fehlern verzweifeln. Aber ich versuche noch, dagegen anzukämpfen. Trotzdem fühle ich mich nur wie ein kleines Rädchen in einer großen Maschine und an den Rand gedrängt. Denn die Verantwortlichen für das Erziehungswesen hören nicht auf uns. Dabei könnten wir oft mit unseren Erfahrungen helfen, Fehler zu korrigieren. Solange Entscheidungen über das Erziehungssystem nur an Schreibtischen von Ministerien getroffen werden, wird sich nichts wirklich ändern."



    "”Ich setzte mich in die erste Bank, links von meinem Schulkameraden, dem Jeronimo. Ich hatte im Handumdrehen ausgepackt. Senhor Botelho stand vom Pult auf, stieg vom Podium herunter und befahl mit feierlicher Stimme: ’Nehmt ein Blatt mit fünfunddreißig Linien. Diktat!’

    Bei diesem Wort wurde die Schulklasse mäuschenstill. Alle, klein und groß, verspürten einen heiligen Respekt vor dem Diktat und vor den Schülern, die sich dieser Aufgabe unterzogen. Natürlich nur, solange es dauerte. Der Herr Lehrer räusperte sich, um seine Raucherkehle zu klären und begann, nachdem er mit lauter Stimme wiederholt hatte ’Diktat: Die Wärme weitet die Körper…’ Der am Pult lehnende Lehrer, das Buch in der linken Hand, das Bambusstöckchen in der rechten, fuhr fort: ’Die Hitze, Komma; das Licht, Komma; der Laut, Komma; sind ’Fysische’ Faktoren. Punkt. Fysische… Man schreibt es nicht mehr mit 'ph', wie ich es euch gelehrt habe. Noch machen das manche Autoren, aber nur aus reiner Dickköpfigkeit…' Tatsächlich hatte Senhor Botelho gemerkt, dass Julio Fraga, als er das Ende des Federhalters an den Mund führte und stur zur Zimmerdecke aufblickte, über das 'ph' nachgrübelte. ’Die Fysik ist eine Wissenschaft… Aufpassen: Ciencia! Vergesst nicht den Akzent…’

    Wir schwitzten alle. Bis aus dem Mund des Schullehrers der ersehnte Schluss-Punkt: ’Ich habe Schlusspunkt gesagt’ ertönte, gefolgt von einem hörbaren Erleichterungsseufzer der gesamten Schulklasse.""


    Porträt Branca
    Seit 22 Jahren - seit 1986 - ist Portugal Mitglied der Europäischen Union. So reserviert viele Portugiesen dem "Brüsseler Europa" zunächst gegenüberstanden, so sehr weiß man mittlerweile die Vorteile der Anbindung, der Einbindung Portugals zu schätzen.

    Jene Portugiesen allerdings, die erwartet hatten, dass EU-Portugal zu einem Land würde, in dem Milch und Honig flössen, mussten die bittere Erfahrung machen, dass es anders kam. Das arg strapazierte Schlagwort vom "Armenhaus Europas" mag zwar überholt sein, doch leicht ist es bis heute nicht, in Portugal über die Runden zu kommen; vor allem dann nicht, wenn man nicht einmal einen Hauptschulabschluss vorweisen kann wie Branca Nogueira in Sintra.


    In dem kleinen Café am Afonso-de-Albuquerque-Platz in Sintra herrscht Hochbetrieb: Die Sonne scheint, da sitzen auch im Winter Touristen an den Tischen draußen und genießen zu ihrem Espresso die Aussicht auf das Postkartenstädtchen bei Lissabon und drinnen hasten die Stammgäste durch das Mittagessen: Grünkohlsuppe, ein Sandwich, ein Wasser für rund sechs Euro. Branca hat hinter dem Tresen alle Hände voll zu tun: Sie belegt Brötchen, kocht Kaffee, registriert Rechnungen: Grüngestreifte Bluse, grüner Rock, weißes Häubchen und - trotz augenblicklichem Riesenstress - stets freundlich lächelnd.

    "Es ist eine Chance, eine einzigartige Chance. Die kommt vielleicht nie wieder. Die muss ich nutzen."

    Branca Nogueira, Anfang 30, kann es sich beim besten Willen nicht leisten, diese Chance zu verpassen. Die Mutter von vier Kindern war fast vier Jahre arbeitslos, dann hat sie sich in einen Fortbildungskurs eingeschrieben und schließlich ein Praktikum ergattert, hier im Café, wo sie jetzt auf Probe angestellt wurde. "Wir waren über 30 im Kurs und nur vier haben es geschafft", erzählt Branca stolz, während sie zwei Tassen auf den Tresen stellt. Darum kann und will sie jetzt nicht aufgeben, auch wenn Branca fast 20 Kilometer von ihrem Wohnort entfernt arbeitet, auch wenn Mann und Kinder da oft zu kurz kommen. Schließlich verdient Branca jetzt 400 Euro im Monat; Geld, das die Familie dringend braucht.

    Im kleinen Wohnzimmer der Nogueiras dröhnt fast ständig der Fernseher. "Portugal no coração", Portugal im Herzen, heißt die Nachmittagsshow, in der sich mehr oder weniger große Stars über ihr Leben auslassen. Nicht, dass es ihn interessieren würde, aber seit Carlos vor zwei Jahren arbeitslos wurde, hat er nichts zu tun. Also sitzt er fast ständig vor der Glotze, trinkt auch schon mal einen über den Durst, während er darauf wartet, dass Branca von der Arbeit nach Hause kommt. Einen neuen Job findet der Ex-Soldat nicht. Immerhin: Noch bekommt er rund 400 Euro Arbeitslosenunterstützung.

    Das Gesamteinkommen der sechsköpfigen Familie liegt bei etwa 800 Euro brutto im Monat. Branca, die gerade mit einer Einkaufstüte unter dem Arm die Wohnungstür aufsperrt, beschreibt trocken und ohne Bitterkeit die Lage der Familie:

    "Nachdem mein Mann arbeitslos wurde, mussten wir immer mehr Schulden machen, um zu überleben; schließlich haben wir vier Kinder, die Kosten viel Geld. Wir leben nicht, wir überleben von einem Tag auf den anderen."

    Sie habe einfach zu viele Fehler gemacht, erzählt Branca dann, während sie neben Carlos auf dem abgewetzten Sofa sitzt: Zuerst ging sie ohne Abschluss von der Hauptschule ab, kurz darauf kam schon Ricardo, der älteste Sohn. Statt eine Berufsausbildung zu machen, hat sie sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen. Fehler, die ihre Kinder nicht wiederholen sollen:

    "Wir werden alles tun, damit unsere Kinder die Schule zu Ende machen, vielleicht sogar studieren. Um irgendetwas zu erreichen, braucht man heutzutage eine gute Ausbildung. Mehr weiß ich wirklich nicht. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt."

    Branca zuckt mit den Schultern, blickt eher gelangweilt zum Fernseher. Allzu viel Gutes dürfte die Zukunft den Nogueiras nicht bescheren: Die portugiesische Wirtschaft will einfach nicht wachsen und darunter leiden vor allem ungelernte oder schlecht ausgebildete Arbeitnehmer. Sie sind die letzten, die eingestellt und die ersten, die entlassen werden. "Wer keinen Abschluss hat, ist kein Mensch", sagt Branca. Trotzdem träumt sie von einem besseren Leben:

    "Sicher - jetzt verdiene ich nur 400 Euro und das ist nicht viel. Nur für die Wohnungsmiete müssen wir schon mehr als das bezahlen, aber hätte ich diese Arbeit nicht bekommen, würden wir hungern. Und wer weiß: Vielleicht finde ich durch diese Arbeit einen besser bezahlten Job. Man muss eben versuchen, weiter zu kommen."

    Allerdings weiß Branca, dass das nicht leicht sein wird. Viele, die sogar Abitur haben, sind auf Arbeitssuche, würden selbst als Kellner arbeiten. Branca dagegen hat bei einem Abendkurs, in dem sie den Hauptschulabschluss nachmachen wollte, das Handtuch werfen müssen: Arbeit, Familie und Schule waren zu viel für sie. Später, in ein, zwei Jahren, will sie es vielleicht noch mal versuchen.

    Also belegt Branca weiter Brötchen hinter dem Tresen in dem kleinen Café am Afonso-de-Albuquerque-Platz im Touristenstädtchen Sintra, kocht Kaffee, serviert Sahnetörtchen und lächelt ständig dabei. Auch wenn sie, im Augenblick zumindest, nur auf Probe angestellt ist. Branca will, Branca kann die Hoffnung nicht aufgeben:

    "Das ist der Anfang eines langen Weges, doch die wenigen Chancen, die man bekommt, muss man nutzen. Man muss es zumindest versuchen!"



    "Nachmittags wurde die Sache schlimmer, weil man an die Schultafel gerufen wurde. ’Ein Wasserbecken ist zehn Meter lang, viereinhalb Mete breit und drei Zehntel der Länge hoch. Ich will wissen, wie viele Fässer Wasser es fasst, wenn das Fass zweiundzwanzig Almuden fasst, und der Almude fünfundzwanzig Liter.’ Das war ein Fall für manche Ohrfeige. Entsprechend der Schwierigkeit des Problems rechnete sich jeder von uns aus, wie viele er abkriegen würde. Und schon wurde man neidisch auf die erste Klasse dort hinten im Schulraum dicht an der Uhr und am Zähler. ’B-a-ba; b-e-be…’ Und wir mussten uns mit einer solch kniffligen Aufgabe abmühen! ’Los… Los doch… Nun mach schon, Silvino!’

    ’B-a-ba; b-e-be…’ Das Becken füllte sich mit Tränen. Unsere Augen glichen Quellen, die es füllen wollten. Nachdem die Aufgabe gelöst war, gingen wir zur Geschichte über.

    ’Wer war der Begründer der Dynastie Avis?’

    ’Das war Don Joao der Erste, der vom Guten Gedächtnis, und zwar hatte er diesen Beinamen, will…’

    Das Gesicht des Senhor Botelho heiterte sich auf. Und als wir nach der Geografie, auch sie heruntergeleiert, Nogueira, Bornes, Padrela, Marao, Lorouco, Geres…, zur Staatsbürgerkunde kamen, glich das Leben einem Meer von Rosen."


    Porträt João
    Früher, zur Zeit des Schriftstellers Miguel Torga, der übrigens Arzt von Beruf war, hatten Akademiker es vergleichsweise leicht in Portugal: Ein Doktortitel garantierte ein solides Auskommen und hohes Sozialprestige. In Torgas Heimatstadt - der Universitätsstadt Coimbra, wurden schon Erstsemester in den Cafés mit "Senhor Doutor" - "Herr Doktor" - angesprochen. Und die wenigen, ehrwürdigen Universitätsprofessoren des Landes konnten sich getrost auf ihren akademischen Lorbeeren ausruhen.

    Das ist heute anders. Es gibt inzwischen zwar fast 40.000 Hochschuldozenten in Portugal, doch arbeiten die meisten von ihnen nur mit Zeitverträgen, feste Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs sind knapp. Selbst beste Examensnoten garantieren keine Hochschulkarriere; nicht, weil Portugal keine Hochschullehrer mehr braucht, sondern weil kein Geld da ist, sie dauerhaft zu beschäftigen. Auch João Neves muss diese Erfahrung machen.


    João Neves ist in seinem Element, wenn er Studenten der Betriebswirtschaftslehre erklärt, nach welchen Kriterien Unternehmensgründer ihre Entscheidungen treffen. Wenn er erläutert, wie Konkurrenz funktioniert. 36 Studenten sitzen in dem Hörsaal im Wissenschaftsbereich zwei der Fachhochschule von Leiria: Eigentlich zu viele für einen Abschlussjahrgang, findet João Neves. Aber die Gruppe auf zwei Dozenten aufzuteilen, sei aus Personalmangel nicht möglich gewesen. Die Fachhochschule Leiria muss Geld sparen.

    João läuft durch den Raum, spricht die Studenten persönlich an, schreibt Stichpunkte an die Tafel, projiziert Grafiken aus seiner aufwändig zusammengestellten Power-Pointe-Präsentation. Zwischenfragen sind erwünscht; Zweifel werden sofort ausgeräumt, schließlich sollen die Studenten mitarbeiten und nicht nur mitschreiben, meint João. Der 27-Jährige, lässig in Jeans und Sweatshirt gekleidet, unterrichtet mit Leidenschaft, trotz vieler Probleme:

    "Natürlich bin ich hochmotiviert. Eine Karriere in Wirtschaftswissenschaft, davon habe ich immer geträumt. Aber eigentlich kann ich mir das nur leisten, weil meine Eltern mich noch immer unterstützen. Ich mache nebenbei meinen Doktortitel und ohne das Geld meiner Eltern wüsste ich nicht, wie ich meine Studiengebühren bezahlen sollte."

    27 ist João, nicht viel älter als manche seiner Studenten, mit denen er jetzt in der Cafeteria sitzt und Prüfungstermine klärt. Er hat, wie inzwischen die meisten seiner Kollegen, nur einen Zeitvertrag. Bis Juli bekommt er 1240 Euro im Monat. Im Studienjahr danach kann er ab Oktober wieder beschäftigt werden, oder auch nicht. Das kommt ganz auf die Finanzlage der Hochschule an. Von Arbeitsplatzsicherheit keine Spur, meint der Dozent:

    "Es ist nicht leicht, im Juni zu unterrichten und nicht zu wissen, ob wir einen Monat später noch hier arbeiten. Wir können unseren Studenten nicht einmal garantieren, ob wir zu den Prüfungen im September noch an der Hochschule sind. Und immer öfter sind Kollegen nicht mehr da."

    Obwohl die Studentenzahlen steigen, werden die Mittel immer wieder gekürzt. Vor allem dort, wo es am leichtesten ist, beim Personal, bestätigt Professor Gerd Hammer von der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lissabon:

    "Die vertragliche Situation an den Universitäten ist für die allermeisten Dozenten prekär. Nur ein ganz, ganz kleiner Teil der Dozenten hat überhaupt eine Arbeitsplatzgarantie oder einen festen Arbeitsplatz."

    Zeitverträge kommen den Staat billiger: Unter anderem muss so weder Urlaubsgeld noch Arbeitslosenversicherung bezahlt werden. Doch das, so weiß João Neves aus eigener Erfahrung, wirkt sich nicht gerade positiv auf das Arbeitsklima aus:

    "Die Stimmung ist fürchterlich. Es herrscht ein ungesundes Konkurrenzdenken, das zu vielen Problemen unter den Dozenten führt. Manche sehen mich nicht als Kollegen, sondern als Gegner."

    All diese Probleme versucht João hinter sich zu lassen, wenn er unterrichtet. Nach der Vorlesung nimmt er sich sogar noch Zeit, Fragen seiner Studenten zu beantworten. "Wenn Sie wirklich nicht weiterkommen, können Sie mich auch auf dem Handy anrufen", sagt er zu einer Studentin. "Aber bitte nicht am Freitag oder Samstag, da bin ich nicht hier."

    Jeden Freitag und Samstag fährt der Dozent João nämlich aus dem mittelportugiesischen Leiria in die Alentejo-Hauptstadt Évora und wird dort wieder zum Studenten. Er macht seinen Doktor. Dafür sei man früher von seiner Hochschule beurlaubt worden, scherzt João, doch heute müsse man sehr teuer dafür bezahlen:

    "Ich muss über 400 Kilometer für manchmal nur zwei Vorlesungen pro Woche fahren. Wenn ich dazu Studiengebühren, Essen und Übernachtungen rechne, kostet mich das rund 8000 Euro im Jahr. Das heißt, ich muss 70 Prozent meines Einkommens in den Doktorantenkurs investieren."

    Die Forschung an Portugals Universitäten gerät immer mehr ins Hintertreffen; ebenfalls aus Geldmangel, wie Professor Hammer erklärt:

    "Ich denke, dass die Universitäten im Augenblick in eine große Schwierigkeit gekommen sind durch die Sparpläne der Regierung. Das heißt, es ist immer weniger Geld da. Das heißt, es ist auch immer weniger Geld gerade für Forschungseinrichtungen da."

    Obwohl Forschung zurzeit nicht hoch im Kurs steht, hat João Neves sich trotzdem für den Doktorandenkurs entschieden, weil er sein Wissen vertiefen und weitervermitteln will. Er ist zurück in Leiria, hält eine Vorlesung über Betriebsorganisation. Wie immer hat er sich viel Arbeit gemacht, den Stoff vorzubereiten. Wie immer hören die Studenten aufmerksam zu. Trotzdem: Schon in einem halben Jahr könnte der Dozent auf der Strasse stehen, wenn aus irgendwelchen Gründen sein Zeitvertrag nicht verlängert wird. Bei solchen Perspektiven gerät selbst der sonst immer gut gelaunte João ins Grübeln:

    "Da steht man oft vor 60 Studenten in einer Vorlesung und hat die Verantwortung, denen Wissen zu vermitteln. Das ist sicher eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Und ich weiß nicht einmal, ob ich demnächst hier weiter angestellt bin. Manchmal frage ich mich, wie man unter diesen Bedingungen vernünftig arbeiten soll."



    "Der Lehrer sprach vom Vaterland, von der Familie, vom guten Bürger und von der hohen Bedeutung des Baumfestes, das nahe bevorstand und für das wir die Hymne proben würden. Ihr Schüler, sät!

    In den vorangegangenen Jahren waren andere die Helden dieses denkwürdigen Tages gewesen. Die vierte Klasse hob die Grube aus, steckte den jungen Stamm hinein, düngte ihn, stützte ihn und begoss ihn. Die Winzlinge der Unterklassen verstärkten nur den Festzug, schrieen sich singend die Kehlen heiser, und damit fertig. In der Feierstunde standen sie nur als Statisten dabei.

    Doch endlich waren nun wir an der Reihe. Und hörten andächtig der patriotischen Predigt zu. In Kürze würden wir die Arbeiter der Zukunft sein, die Hoffnung auf dem Vormarsch, die Männer von morgen. Und das alles durch die schlichte Tat, eine Wurzel in die Erde zu senken. Ein Jammer nur, dass Senhor Botelho in der nächsten Stunde die alte Leier wieder von vorne begann!

    ’Zeig mal deine Finger, ich glaube, ich muss deiner Begriffsstutzigkeit etwas aufhelfen…’ Und schon kehrten wir zur Hölle der unregelmäßigen Verben zurück, zu den untergeordneten Konjunktionen, zu den Brüchen und Kürzungen.

    Aber am Festtag war es wirklich schön. Die Sonne am Himmel schien zu lachen, die Rede des Herrn Lehrers entlockte der Festversammlung Tränen, und die Ulme, die wir unter Beifallklatschen und platzenden Feuerwerkskörpern pflanzten ’ragt noch heute blattreich und hoch auf dem Dorfplatz’ genau so, wie wir sie uns damals erträumten."


    Porträt Carlos
    Am 25. April 1974 schlug die Geburtsstunde des neuen Portugal. Die Nelkenrevolution beendete eine Diktatur, die fast ein halbes Jahrhundert währte. Fortan sollte alles anders werden. Auch im Hochschulbereich. Bis dahin waren Portugals Universitäten einer kleinen und reichen Elite vorbehalten. Nicht einmal zehn Prozent der Bevölkerung verfügten über eine akademische Ausbildung. "Demokratisieren", lautete jetzt die Devise auch im Bildungssektor. Mehr Portugiesen sollten studieren können, die Universitäten ausgebaut werden.

    Teilweise wurden die Pläne realisiert. Heute sind immerhin rund 400.000 Studenten an den Hochschulen des Landes eingeschrieben. Die Studienbedingungen jedoch sind nach wie vor ausgesprochen schlecht. Weil Portugal arm ist, müssen die Studenten hohe Studiengebühren entrichten, fehlt es den Universitäten an moderner Ausstattung, werden die Gelder für Hochschulen immer wieder gekürzt. Und auf die Absolventen warten keine rosigen Zeiten.

    Die Akademikerarbeitslosigkeit steigt ständig. Das neue Portugal hat keine Jobs für seinen akademischen Nachwuchs. Das weiß auch der Lissabonner Student Carlos Brigadeiro - und zieht in Erwägung, seiner Heimat Portugal den Rücken zuzukehren.


    Eigentlich ist sogar die Cafeteria zu klein: In der Mittagspause ist hier garantiert kein Platz zu finden und auch sonst sind fast immer alle Tische belegt: Weil sie keinen anderen Platz zum Lernen finden, haben die Studenten der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Lissabon die Cafeteria in eine Art Studienzentrum umfunktioniert. Es stehe schlecht um seine Uni, meint Carlos Brigadeiro:

    "Diese Fakultät ist in einem fürchterlichen Zustand. Ständig wird irgendetwas umgebaut. Wir haben Vorlesungen in einer 30 Jahre alten Fertigbauhalle, die längst eingerissen werden müsste. Die meisten Vorlesungssäle sind zu klein. Es ist schlimm."

    Carlos schiebt leicht gereizt seine Bücher und Unterlagen auf dem Tisch hin und her. Er studiert Geschichte im letzten Jahr, ist knapp 25 Jahre alt und hat irgendwie die Schnauze voll von der "Universidade Classica". Denn Lissabons größter Universität fehlt es so ziemlich an allem.

    Wegen des Platzmangels büffeln Studenten an klapprigen, alten Tischen auf den Korridoren; Heizung und Klimaanlagen funktionieren seit Jahren nicht und im Winter regnet es durch die Decke der berüchtigten Fertigbauhalle, die euphemistisch "pavilhão novo", also "neuer Pavillon" genannt wird. Eigentlich als Provisorium mit zusätzlichen Unterrichtsräumen gebaut, ist sie zur Dauereinrichtung geworden. Für den längst überfälligen Neubau ist kein Geld da. Carlos, der angehende Historiker, flüchtet sich in Ironie:

    "Es ist unglaublich: Da reden die Politiker immer, wie wichtig die Hochschulbildung ist, doch dann kürzen sie den Universitäten das Geld. Die müssen dann die sowieso schon teuren Studiengebühren erhöhen. Und das Geld, mit dem eigentlich die Arbeitsbedingungen verbessert werden sollten, geht für die Gehälter der Dozenten und des anderen Personals drauf. Das muss man sich mal vorstellen."

    Rund 900 Euro Studiengebühren muss Carlos Brigadeiro im Jahr bezahlen. Viel Geld in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung mit dem staatlich garantierten Mindestlohn von 400 Euro auskommen muss. Studieren ist noch immer ein Luxus in Portugal, betont Gerd Hammer, Professor an Carlos’ Universität:

    "Das ist sicherlich richtig. Hinzu kommt auch, dass die Eltern nicht sehr viel Geld verdienen. Die Studiengebühren betragen mittlerweile in der Regel zwei Monatsmindesteinkommen. Das bedeutet auch, dass viele Schüler, die studieren wollen, sich nicht mehr den Ort aussuchen können, wo sie studieren können. Sie bleiben einfach in der Nähe der Eltern."

    So wie Carlos: Er habe Glück, seine Eltern lebten in Lissabon, erzählt der Student. Da könne er zu Hause wohnen und viel Geld sparen, denn Plätze in Studentenwohnheimen seien äußerst rar und andere Zimmer bei Preisen von 300 Euro aufwärts für die meisten unerschwinglich. BAFÖG gebe es in Portugal nicht, an Nebenjobs sei wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht ranzukommen. Studenten hätten es extrem schwer, obwohl die Regierung immer wieder die Bedeutung guter Bildung betone:

    "Das ist ein absoluter Widerspruch: Einerseits wollen die Politiker gut ausgebildete Jugendliche, andererseits streichen sie immer wieder Gelder. Die Jugendlichen sind die Zukunft dieses Landes. Man sollte so viel wie möglich in sie investieren. Wir brauchen mehr Akademiker. Aber der Bildungshaushalt wird gekürzt."

    So sehr, dass manche Universitäten inzwischen massive Geldprobleme haben; nicht mehr wissen, wie sie Löhne und Gehälter bezahlen sollen. Das bestätigt auch Professor Hammer:

    "Was also die Geisteswissenschaften angeht, muss man ganz deutlich sagen, die stehen mit dem Rücken zur Wand und werden offiziell vom Staat quasi nicht mehr gefördert."

    Schlechte Aussichten, meint auch Geschichtsstudent Carlos: Denn wer das Studium geschafft hat, steht anschließend vor dem Problem, eine Arbeit zu finden. Fast ein Drittel der portugiesischen Jungakademiker ist arbeitslos. Freunde, die bereits einen Abschluss haben, seien froh, wenn sie einen Job in einem Call-Center oder in einem Supermarkt ergattern und 500 Euro im Monat verdienten, erzählt Carlos Brigadeiro. Andere - immer mehr - gehen als Gastarbeiter ins Ausland.

    Wie schon einmal in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, steigen die Emigrationszahlen in Portugal; besonders unter den Akademikern. Und auch Carlos trägt sich mit Auswanderungsgedanken. Er will vielleicht sein Glück in England versuchen, sagt der junge Mann, während er in der hoffnungslos überfüllten Universitätscafeteria seine Bücher und Unterlagen zusammenpackt.

    "Wenn wir mit dem Studium fertig sind, gibt es keine Jobs für uns. Also gehen mehr und mehr gut ausgebildete Jugendliche ins Ausland. Portugal verliert seine Eliten. Aber wegen der schlechten Lage auf dem Arbeitsmarkt haben wir kaum eine andere Wahl. Ganz ehrlich: Nach meinem Studium werde ich wohl auch versuchen, mich im Ausland durchzuschlagen."

    Das waren: Gesichter Europas: "Weder für die Schule, noch für das Leben lernen wir. Der Bildungsnotstand in Portugal." Eine Sendung von Jochen Faget.
    Mit Auszügen aus dem Roman "Die Erschaffung der Welt" von Miguel Torga, gelesen von Günter Dybus. Die Musik stellte Babette Michel zusammen. Ton und Technik: Gabriele Treichel und Michael Morawietz. Redakteur am Mikrofon war Henning von Löwis.