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Wege zum Sozialismus

Am 26. Mai 1955 statte der sowjetische KP-Generalsekretär Nikita Chruschtschow Belgrad einen spektakulären Versöhnungsbesuch ab. Dabei erkannte er, dass es verschiedene Wege zum Sozialismus geben könne. Eine Chance, auch den kalten Krieg zu entschärfen, die damals aber vertan wurde.

Von Norbert Mappes-Niediek | 26.05.2005
    Solche Klänge waren auf der Frequenz des Rundfunks im amerikanischen Sektor von Berlin selten zu hören: Es war die Internationale, die Hymne der Sozialisten und Kommunisten, die da über die Ätherwellen des Rias ging. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, besuchte in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad den dortigen KP-Chef Tito.

    Am letzten Tag des Besuchs widmete der Sender RIAS diesem ungewöhnlichen Ereignis ein ausführliches Feature. Was Chruschtschow am 26. Mai 1955 in Belgrad sagte, sprach der Berliner Radiosprecher nach - auf Deutsch und mit dem Sarkasmus, der nie fehlen durfte, wenn im Kalten Krieg von der Gegenseite die Rede war:

    " Die Völker unserer Länder sind durch die Bande brüderlicher Freundschaft verbunden. Diese Freundschaft und diese Kampfverbundenheit haben sich besonders während der schweren Prüfungen im Kampf gegen die faschistischen Eindringlinge in den Jahren des Zweiten Weltkrieges gefestigt. "

    Das waren in der Tat neue Töne, die eine gewaltige Wendung im kommunistischen Lager verrieten. Denn sieben Jahre zuvor hatte Stalin den jugoslawischen KP-Chef mit dem Bannfluch belegt. Es waren gar nicht einmal ideologische Unterschiede, die zu dem Zerwürfnis führten; Tito hatte einfach zuviel Selbstständigkeit gezeigt. Gleich 1948, nach dem Bruch mit Belgrad, setzte in der Sowjetunion eine Welle von Schmähungen gegen den Renegaten ein. Der Rias nahm die Versöhnung beim Chruschtschow-Besuch von 1955 zum Anlass, noch einmal die sowjetischen Tiraden der vergangenen Jahre zu zitieren:

    " Was ist das für ein Mensch, der derart in Uniformen schwelgt? Kein Arbeiter, kein Kommunist. Ein Göring. Der Übergang der Tito-Clique zum Faschismus ist kein Zufall. Er wurde auf Befehl ihrer Gebieter, der anglo-amerikanischen Imperialisten, vollzogen, in deren Sold, wie sich jetzt herausstellte, diese Clique seit langem steht. "

    Selbst in sowjetischen Nachrichtensendungen waren solche Anwürfe Gang und Gäbe gewesen, sogar noch spitzer und konkreter:

    " Am Montag traf der Chef der Belgrader Faschistenclique Tito zu einem Staatsbesuch in London ein, wo er vom Herzog von Edinburgh und Ministerpräsident Churchill, mit dem ihn alte Agentenbeziehungen verbinden, empfangen wurde. "

    Besonders musste Stalin sich davor fürchten, dass die jugoslawischen Eigenmächtigkeiten im Ostblock Schule machen könnten. Das Eingeständnis dieser Furcht wurde in Moskau dann, etwas verquer, so formuliert:

    " Von Belgrad aus wird die Sabotagearbeit in den volksdemokratischen Ländern gesteuert. "

    Und nun, an jenem 26. Mai 1955, war auf einmal alles ganz anders. Stalin war schon zwei Jahre tot. Noch war nicht klar, was die Welt von seinen Nachfolgern erwarten durfte. Als Zeichen einer gründlichen Kursänderung präsentierte Chruschtschow seinem Gastgeber in Belgrad nun eine Entschuldigung, wenn auch noch ganz in Ton und Stil des Stalinismus:

    " Teure Genossen! Mitglieder der Regierung Jugoslawiens! Wir haben das Material, worauf die schweren Beschuldigungen und Beleidigungen beruhten, die damals gegen die Führer Jugoslawiens erhoben wurden, sorgfältig geprüft. Die Tatsachen zeigen, dass dieses Material von den Feinden des Volkes, die sich durch Betrug in die Reihen unserer Partei eingeschlichen hatten, fabriziert worden war. "

    Genauso rasch, wie Tito unter Stalin vom brüderlichen Genossen zum schamlosen Agenten des Imperialismus abgestiegen war, durfte er unter Chruschtschow nun den Rückweg antreten. Der neue Ton war umso bemerkenswerter, als die Jugoslawen inzwischen wirklich ein eigenes Sozialismusmodell entwickelt hatten und daran auch festhielten. Am Ende des Chruschtschow-Besuchs stand am 2. Juni 1955 die Belgrader Deklaration, mit der Moskau zum ersten Mal anerkannte, dass es verschiedene Wege zum Sozialismus gab.

    Die westlichen Reaktionen auf Chruschtschows Wendung blieben kühl, ähnlich wie dreißig Jahre später bei Michail Gorbatschow, der sich in den frühen Tagen seines Wirkens vom deutschen Kanzler Helmut Kohl mit Joseph Goebbels hatte vergleichen lassen müssen. Chruschtschows Kurskorrekturen brachten die Front des Kalten Krieges nicht zum Wanken, und so dauerte auch das Tauwetter in Moskau nicht lange. Schon kaum mehr als ein Jahr nach dem hoffnungsvollen Besuch in Belgrad schlugen sowjetische Panzer die Reformbewegung in Ungarn nieder. Eine Chance war vertan. Aber wenigstens die Weltbilder waren wieder im Lot.