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Wehmut über die versunkene Zeit

Rote Fahnen flattern neben der Bühne. Fackeln glühen in der Abenddämmerung. Gruppenleiter und Jugendliche singen Spanienlieder, die "Moorsoldaten" und "Die Internationale". 1974. Sommer. Die DKP und die Naturfreunde haben in Lüdenscheid ihr Ferienlager bezogen. "Lenin kam nur bis Lüdenscheid", nennt der Schriftsteller Richard David Precht seinen erzählerischen Essay, in dem er der eigenen Jugend im provinziellen Solingen als Kind linker Eltern nachspürt. Während er sich erinnert, versucht er, die Bewegung des Erinnerns selbst mitzudenken. Dieses Bemühen zeichnet sein Buch aus. Darf man der eigenen Biographie nachträglich eine Logik verpassen? Kann man der Erinnerung trauen, ihren Verklärungen und ihren Unversöhnlichkeiten? Und in welchem Verhältnis steht man zur Geschichte und zur eigenen Herkunft?

Von Jörg Magenau | 18.11.2005
    "Der Gedanke, dass alles auch anders hätte kommen können, erscheint mir von Jahr zu Jahr seltsamer. Vielleicht denke ich deshalb gern an die Vergangenheit. Für mich ist es keine Reise in die Geschichte, sondern in die Gegenwart meines Erinnerns. Jeder Augenblick ist ein solcher des Gerichts über all die Augenblicke, die ihm vorangegangen sind. Biografie ist mitgeschleppte Gegenwart, tagtägliche Identität. Ein Fels, auf dem man steht, oder einer, den man auf dem Rücken herumschleppt."

    Richard David Precht gehört nicht zu denen, die gegen die Weltanschauung des Elternhauses anschreiben müssen. Sein Buch hebt sich wohltuend vom eifernden Ton mancher Generationsgenossen ab, die an den 68ern und ihren Idealen kein gutes Haar lassen wollen. Sophie Dannenbergs 2004 erschienener Roman "Das bleiche Herz der Revolution", war so eine wilde, ungerechte Polemik gegen libertäre Eltern, eine Anklage gegen die Brutalität, mit der sie ihre Emanzipationsbemühungen durchzusetzen versuchten. Antiautoritäre Erziehung erschien bei ihr als innerfamiliäres Gewaltverhältnis, die Befreiung der Sexualität als ein für die Kinder schambehafteter Zwang.

    Bei Precht findet sich nichts von dieser Abrechnungsdrastik. Er schreibt keineswegs unkritisch, zeigt sich manchmal befremdet, spricht aber doch voller Wehmut von einer versunkenen Zeit.

    " Wenn ich jetzt aufstehe und in den Garten blicke, ins kahle Gestrüpp, das zeitlos gealterte Gartengerät daneben und das teilnahmslose allzu viele Weiß des Schnees, der seit Jahrmillionen wohl nichts anderes zu tun hat, als auf das Verschwinden der Menschen zu warten, erscheint mir die eigene Kindheit als etwas, das nur ein Traum sein könnte, ein Erinnerungsfilm, begonnen in schwarzweiß, weiter gedreht in den rotstichigen Farben der frühen siebziger Jahre, dann bunt und bunter und noch immer unfertig. "

    Die Familienverhältnisse im kleinbürgerlich-kommunistischen Milieu sind geradezu idyllisch, ja, das Kind wächst mit dem sichern Gefühl auf, einer Avantgarde anzugehören. Der Junge weiß im Unterschied zu seinen Altersgenossen, dass der Kapitalismus ungerecht ist. Er sieht, dass es in seiner Familie anders zugeht als in der spießigeren Nachbarschaft. Es gibt keine amerikanischen TV-Serien, keine Schminke im Gesicht der Mutter, keine Cola, kein Ketchup. In der Schule eckt er immer wieder an, wenn er Texte von Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader oder Kinderlieder aus dem Grips-Theater zitiert, in denen geflucht und geschimpft werden darf und die Autoritäten herausgefordert werden. Als Parteigänger der Sowjetunion, als Fan von Dynamo Kiew und von DDR-Olympioniken war man in den 70er Jahren an westdeutschen Schulen ziemlich einsam.

    Precht erzählt davon ohne Larmoyanz und ohne jeden Vorwurf an die Eltern, es ihm womöglich ungebührlich schwer gemacht zu haben. Vielmehr setzt er sich mit deren Biographien auseinander und untersucht, warum sie – Abseits der großen Ereignisse in Berlin und anderswo – zu Linken, zu Marxisten, zu DKPlern und später zu Grünen geworden sind. Initialzündung der Politisierung ist zweifellos Vietnam und das Gefühl, hilfloser Zuschauer des amerikanischen Krieges gegen die Zivilbevölkerung zu sein. Solingen liegt gleich neben Saigon. Auf Initiative der Mutter adoptiert die Familie zwei vietnamesische Waisenkinder, die erstaunlich reibungslos integriert werden, was in einer Reportage im "Solinger Tageblatt" als befremdliches Heldentum dargestellt wird.

    " Die Mischung aus kopfschüttelnder Distanz und Herzenskitsch begegnete meinen Eltern fast überall. Wo immer meine Mutter mit ihrem doppelten Kinderwagen und den zwei Babys, das eine hellblond, das andere dunkel, erschien, blieben die Leute stehen, um ihrer Verwunderung oder schlimmer: ihrem Mitleid redseligen Ausdruck zu geben."

    Prechts Essay krankt ein wenig daran, dass er sich nicht entscheiden kann zwischen der Rekonstruktion des kindlichen Erlebens und dem kommentierenden Wissen des Erwachsenen, der immer schon weiß, was aus den verschiedenen Bewegungen geworden ist. Er erzählt vom Leben einer ganz besonderen Familie in den 60er und 70er Jahren – und leitet daraus eine kleine Kulturgeschichte der linken Bewegungen der Bundesrepublik ab. Um die politische Dimension zu fassen, muss er jedoch die kindliche Perspektive aufgeben und schlägt dann einen eher feuilletonistischen Ton an. So präzise seine Beobachtungen in eigener Sache sind, so unkonkret bleiben die allgemeineren Erklärungen. Und je näher er der Gegenwart kommt, umso kursorischer, flüchtiger und oberflächlicher gerät die Darstellung. Ob die K-Gruppen-Inflation der siebziger Jahre wirklich nur der "Explosion der protestantischen Sekten in England im späten 16. Jahrhundert" zu vergleichen ist, sei dahingestellt. "Globalisierung" jedoch war ein Begriff, der 1977 sicher noch nicht gebräuchlich war. Auch die Gründung der Partei der Grünen lässt sich nicht nahtlos in die Familiengeschichte und das sozialistische geübte Bewusstsein integrieren:

    " Programmatisch gesehen ließen sich die Grünen kaum als ein reibungsloser Anschluss an die linke Weltanschauung verstehen. Bisher jedenfalls hatte zum Linkssein fast zwingend der technische Fortschritt gehört, die Befreiung des Arbeiters von der Knochenarbeit durch immer bessere Maschinen. (...) Die Grünen waren in gewisser Weise meine von Kindertagen an gewünschte Synthese von Che Guevara und Grzimek. Zugleich aber hatten sie all das, was ich an meinen linken Lehrern verachtete. Irgendwie waren auch sie keine Elite. Und einer Fraktion zuzugehören, die keine Elite war, erschien mir völlig undenkbar."

    Am Ende, nachdem auch noch der Brandanschlag auf ein von Türken bewohntes Haus in Solingen kurz gestreift wird, landet Precht in der Gegenwart. Da begegnet er als US-Stipendiat dem ehemaligen Außenminister Alexander Haig und verweigert ihm wegen seiner Verbrechen in Vietnam den Handschlag. Und er steht mit Guido Westerwelle in einer Bar in Berlin Mitte und versteht sich so gut mit dem FDP-Chef, dass der ihn zum Abschied "Junge" nennt. Precht ist irgendwie ein Linker geblieben, auch wenn er die Gewissheiten des Elternhauses verloren hat. "Links zu sein ist heute das Gefühl, definitiv nicht rechts zu sein", notiert er. Das ist der Fels, auf dem er steht. Als Erkenntnisgewinn aus diesem Schnelldurchlauf durch die linke westdeutsche Geschichte ist das nicht gerade viel. Wenn das politische Bewußtsein so weit geschrumpft ist, dass es nur noch in einem Gefühl besteht, dann hat es sich schon aufgelöst.