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Weichenstellung für die junge Demokratie Tunesien

Am 23. Oktober wird die Verfassungsgebende Versammlung in Tunesien gewählt. Es gibt über 100 politische Parteien und mehr als 11.000 Kandidaten. Am Ende sollen 217 Gewählte bestimmen, wie im Mutterland des Arabischen Frühlings künftig das politische System aussieht.

Von Marc Dugge | 19.10.2011
    Khaled sitzt auf dem Plastikstuhl unter dem großen, roten Sonnenschirm im Café du Théatre. Er schlürft an der Limo, die man hier in Tunesien "Citronade" nennt. Und beobachtet durch seine schwarze Sonnenbrille das Treiben auf der Avenue Bourguiba. Khaled ist 36 Jahre alt, ein hochgewachsener, schlanker Tunesier. Er hat in Deutschland Informatik studiert. Vor vier Jahren ist er nach Tunis gekommen, um als Spezialist in der Mobilfunkbranche zu arbeiten. Nichts ahnend, dass sein Heimatland bald zum Startpunkt des Arabischen Frühlings werden könnte. Und Tunesien einmal zur echten Demokratie. Wenn denn bei den kommenden Wahlen alles gut läuft.

    "Demokratie hin oder her. Man kann sie nicht erschaffen in ein oder zwei Jahren. Das wird Zeit in Anspruch nehmen. Darüber sind wir uns alle im Klaren. Optimistisch bin ich. Denn es ist der einzige Weg, vorwärtszukommen und ein neues Tunesien zu etablieren. Das ist mein Traum – und wir müssen dran arbeiten."
    Genau hier ging es los. Auf der Avenue Bourguiba. Sie wurde am 14. Januar zum Alexanderplatz, zum Wenzelsplatz, zur Bastille Tunesiens. Zehntausende hatten sich hier versammelt, um den Rücktritt von Präsident Ben Ali zu fordern. Darunter auch Khaled.



    "Ich war mit gemischten Gefühlen hierhin gekommen, dachte, es könnte jeden Moment explodieren. Man hat geschrien, Slogans mitgesungen. Das war das berühmte 'Degage'. Das war wirklich ein gutes Gefühl."

    Irgendwann kippt die Stimmung. Die Polizei greift durch. Schießt mit Tränengas und jagt die Demonstranten durch die engen Straßen der Altstadt.

    "Die haben die wirklich weggescheucht wie Tiere. Bis in die Nacht hinein haben die jeden, den sie gefunden haben, zusammengeprügelt."

    Was Khaled zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: Ben Ali und seine Familie sind weg, auf dem Weg ins Ausland. Auf und davon, mit Unmengen an Bargeld, Gold und Schmuck. In Tunis regiert unterdessen der Mob. Unbekannte plündern Geschäfte, immer wieder fallen Schüsse.

    "Die Tage danach waren für mich ein Albtraum. Man war sprachlos, wusste nicht, wo es hingeht. Auch wenn der weggegangen ist, kommt er zurück? Kann er uns irgendwas antun? Ich bin gar nicht mehr rausgegangen, ich war zu Hause. Tagsüber habe ich gerade mal ein paar Einkäufe gemacht. Zu Hause habe ich die News und Tweeds verfolgt. Ich habe nur gehofft, dass sich die Lage schnell beruhigt. Es hat ein paar Wochen in Anspruch genommen."

    Ende Januar läuft das Leben in Tunis wieder weitgehend normal. Doch die Demonstrationen gehen weiter – und die Revolutionseuphorie ist bald verflogen.

    Immer wieder gehen Menschen auf die Straße, ziehen vor den Regierungssitz, die Kasbah. Sie wollen, dass die alten Kader restlos aus der Politik verschwinden. Demonstrieren für Demokratie und Menschenrechte. Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi muss immer wieder das Kabinett umbilden. Er war schon unter Ben Ali Ministerpräsident gewesen. Das wollen ihm die Demonstranten nicht verzeihen. Viele Tunesier sind allerdings auch genervt von den andauernden Demos, die das Leben der Hauptstadt immer wieder lahmlegen. Auch Khaled:

    ""Ich vergleiche es immer mit einem Vogel, den man das ganze Leben im Käfig gehalten hat. Man lässt ihn einmal frei – und dann geht's los. Der befreit sich richtig, lässt also richtig auf gut Deutsch die Sau raus. Rein von der Psyche her habe ich das verstanden. Ich dachte o. k., die sollen sich austoben, aussprechen – und irgendwann werden sie sich beruhigen."

    Sie beruhigen sich erst Ende Februar, als Mohammed Ghannouchi zurücktritt. Nachfolger wird Caid Ben Essebsi, stolze 84 Jahre alt. Ein Anwalt, der als unparteiisch gilt. Die Tunesier gehen zwar nicht mehr so häufig auf die Straße - doch ihre Nerven liegen weiterhin blank. Die Menschen haben Angst vor der Zukunft. Nicht ohne Grund. Tunesien exportiert im ersten Quartal des Jahres 2011 26 Prozent weniger Waren. Einige ausländische Unternehmen verlassen Tunesien, nachdem ihre Fabriken über Wochen hinweg bestreikt wurden. Und die ausländischen Investitionen brechen im ersten Halbjahr um 17 Prozent ein. Für Khaled ganz natürlich.

    "Weil die Leute Angst haben. Angst vor Investitionen, Angst vor Projekten. Weil sie nicht wissen, wie sich die Lage entwickelt. Ich arbeite an Projekten in der Region, unter anderem auch in Tunesien, die komplett zum Stillstand gekommen sind aufgrund der Revolutionen in der arabischen Welt."

    Und wegen eben dieser Revolutionen bleiben auch die Touristen weg. Im ersten Halbjahr sind 40 Prozent weniger Reisende nach Tunesien gekommen als im Jahr zuvor – für das Land ein Einnahmeausfall von 470 Millionen Euro. Seit Beginn der Revolution sollen im Tourismussektor fast 90.000 Menschen ihren Job verloren haben. Die Folgen könnten aber noch weitaus mehr spüren – denn ein Angestellter füttert mit seinem Gehalt oft eine ganze Großfamilie durch. Tunesiens Finanzminister Jalloul Ayed sieht in der wirtschaftlichen Misere schon eine Gefahr für die Demokratie:

    "Die Revolution in Tunesien ist parteilos, führerlos und absolut spontan. Die jungen Tunesier haben sie daher zu ihrer Revolution erklärt. Viele von ihnen sind arbeitslos. Wenn die Menschen nicht schnell spüren, dass es ihnen dank der Demokratie besser geht, könnte der demokratische Prozess scheitern."

    Auch deswegen pumpen die Internationale Gemeinschaft ab dem Frühjahr 2011 Milliardenbeträge nach Tunesien. Das Ziel: Die Wirtschaftsflaute abzumildern und die Frustration im Land in Grenzen zu halten. Ironischerweise war es gerade der Krieg im Nachbarland Libyen, der den Hotels wenigstens ein bisschen Geld in die Kassen gespült hat. Denn reiche Libyer haben sich auf Djerba eingebucht, um den Krieg abzuwarten. Der Krieg im Nachbarland hat Tunesien allerdings vorübergehend auch ein Flüchtlingsproblem beschert. Und Armee und Polizei viel Arbeit. Sie müssen nun auch noch verstärkt die Grenzen sichern. Als ob sie im eigenen Land nicht schon genug zu tun hätten. Die tunesische Armee hat bei den Tunesiern einen guten Stand. Sie hat die Revolution mitgetragen und im Land für Ruhe und Ordnung gesorgt. Anders die Polizei: Nach der Revolution wurden in vielen Städten Polizeikommissariate gestürmt und niedergebrannt, Polizisten von Mitbürgern tätlich angegriffen. Die Wut ist verständlich: Polizisten haben im Dienste des Regimes jahrzehntelang gefoltert, gespitzelt und eingeschüchtert. Das Zehn-Millionen-Einwohner-Ländchen Tunesien hatte zuletzt mehr Polizisten als Frankreich. Mittlerweile haben die Ordnungskräfte das Land wieder unter Kontrolle. Auch deswegen, weil Beamte in ihre Heimatorte versetzt wurden. Wo sie im Schutz ihrer Familie sind. Doch die tunesische Polizei kommt nicht darum herum, sich den veränderten Verhältnissen anzupassen. Und an ihrem Image zu arbeiten - vom gefürchteten Folterer zum Freund und Helfer.

    Polizeikongress in einem großen Hotel in Tunis. Menschenrechtler Taoufik Bouderbala redet sich in Rage. Gerade hat ihn ein junger Polizeibeamter angesprochen. Und ihm erzählt, dass er seine Kollegen nicht verpfeifen will, Kollegen, die damals im Januar auf Demonstranten geschossen haben. Das bringt Bouderbala zur Weißglut.

    "Die können nicht einfach sagen: Wir haben Befehle ausgeführt! Wenn diese offensichtlich nicht rechtens sind, dann dürfen sie diese Befehle nicht befolgen! Stellen Sie sich nicht hinter Kollegen, die Unrecht begangen haben!"

    Taoufik Bouderbala ist Chef einer Kommission, die die Verbrechen untersucht, die während der Revolution begangen wurden. Eine undankbare Aufgabe.

    "Die Polizei wollte mich am Anfang loswerden, denn ich habe unbequeme Wahrheiten gesagt. Ich bleibe dabei: Wenn jemand einen Menschen mit einer Kugel aus 50 Metern Entfernung tötet – dann nennt man das nicht 'eine Demonstration auflösen, sondern 'Töten'."

    Viele befürchten, dass sich nur die wenigsten Polizisten für ihre Taten vor dem Gesetz verantworten müssen. Der Grund: Tunesien braucht in diesen labilen Zeiten seine Polizei mehr denn je. Auch deswegen sieht Polizist Hichem ziemlich gelassen in die Zukunft. Angst vor Racheakten habe er jedenfalls nicht, sagt er.

    "Die Polizei hat mit dem Zivilschutz insgesamt ungefähr 100.000 Mitarbeiter. An jedem Mitarbeiter hängt in der Regel eine fünfköpfige Familie. Mit der Unterstützung der Eltern und der Nachbarn sind wir Polizisten hier immer noch in der großen Mehrheit!"

    Zwar gut 40 führende Polizeikader mussten gehen. Nach Angaben von Diplomaten die schlimmsten. Doch es ist unklar, wie viel Macht der Polizeiapparat noch hat. Was sich wirklich geändert hat in den Polizeirängen. Wer die Strippen zieht – und ob der Schutz von Menschenrechten nun wirklich oben auf der Agenda steht. Immerhin: Menschenrechtler können heute ohne Angst ihre Stimme erheben. Und Journalisten frei arbeiten. Aber nicht nur die Medien spielen eine Rolle bei der Meinungsbildung, sondern auch die Moscheen. Die Geheimpolizei hat sie früher strikt überwacht, besonders eifrige Gläubige mussten sich unangenehme Fragen gefallen lassen. Denn niemand machte Ben Ali so viel Angst wie die Islamisten. Heute sind die Gotteshäuser voll.

    "Das ist jetzt natürlich besser als früher. Jetzt können wir unsere Religion richtig ausleben, unter Ben Ali hatten wir mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen."

    Sagt ein Mittvierziger, der gerade mit seinem kleinen Sohn vom Gebet kommt. Schon ein Kopftuch oder einen Bart zu tragen, bedeutete unter Ben Ali häufig das berufliche Aus. Denn damit machte man sich verdächtig, Islamist zu sein. Heute ist das anders. Im neuen Tunesien zeigt sich aber auch, wie viel Nährboden der Islamismus wirklich hat. In einigen Moscheen predigen Imame das Kalifat, schwingen deutlich radikalere Reden als früher. Und auch sollen es Islamisten gewesen sein, die kürzlich ein Kino in Tunis demoliert haben. Dort war ein islamkritischer Film gezeigt worden. Im neuen, demokratischen Tunesien können die Islamisten sogar bei den Wahlen antreten. Ihr Führer Rachid Ghannouchi kehrte nach Ben Alis Fall aus dem Londoner Exil zurück. Seine Partei "Ennahda" gibt sich moderat, sie orientiert sich an der türkischen Regierungspartei AKP. Worte wie Gottesstaat oder Scharia werden nicht in den Mund genommen, stattdessen ist viel von Demokratie und Meinungsfreiheit die Rede. Parteisprecher Ajmi Lourimi sitzt im dritten Stock eines modernen Bürogebäudes in Tunis, dem nagelneuen Parteisitz:

    "Dieser Vorwurf, wir wären aufklärungsfeindlich oder fundamentalistisch - das ist völlig aus der Luft gegriffen. Das ist ein ideologisches Argument, ich würde sogar sagen, es wird einfach nur demagogisch gegen uns benutzt. Die Islamisten verlangen ganz einfach ihren Platz unter der tunesischen Sonne!"

    Viele Beobachter räumen der Ennahda Chancen auf ein gutes Ergebnis ein. Der Grund: Ennahda ist im ganzen Land bekannt – anders als viele andere, frisch gegründete Parteien. Die Islamisten sind gut organisiert – und ihre Kassen gut gefüllt. Auch dank dicker Schecks von Freunden aus den Golfstaaten. Vielen macht das Sorgen. Allen voran linken Parteien wie der Bewegung Ettajdid. Ihr Sprecher Abdelaziz Messaoudi:

    "Der Islam ist die Religion des Volkes, man darf daraus kein Instrument der politischen Propaganda machen. Die Ennahda darf sich natürlich gern auf den Islam beziehen, das ist ihr Recht. Aber genau da muss Schluss sein. Die Islamisten müssen den Rechtsstaat achten, der unserer Meinung nach ein laizistischer Staat sein muss, die Religion muss vom Staat getrennt sein."

    Genau das war auch die Devise von Habib Bourguiba, dem ersten Präsident des Landes nach der Unabhängigkeit. Er wollte aus Tunesien einen säkularen Staat machen – und steckte viel Geld und Energie in den Bildungssektor. Mit einem modernen Familiengesetz bekamen die Frauen in Tunesien so viele Rechte wie sonst nirgendwo in der arabischen Welt. Um die Wirtschaft des Landes zu fördern, bat er schon mal 1961 seine Landsleute, während des Ramadan nicht zu fasten. Später trank er mitten im Fastenmonat tagsüber im Fernsehen einen Orangensaft. Live. Ein politisches Statement – und eine Provokation besonders für die Islamisten. In ihnen sah Bourguiba die größte Bedrohung für das Land. Islamistische Parteien waren verboten, Aktivisten wurden verhaftet. Das änderte sich auch nicht, als Bourguiba abtrat und Ben Ali 1987 die Macht ergriff. Man sieht in Tunis auffallend viele Bourguiba-Porträts dieser Tage. Möglicherweise, um Stellung gegen die Islamisten zu beziehen - und die Errungenschaften Tunesiens zu beschwören. Dazu gehören eben auch die Rechte der Frauen.

    In einem engen Konferenzraum eines Hotels in Tunis. Es ist stickig, der Raum ist brechend voll. Eine Frauenrechtsvereinigung hat zu einer Diskussion geladen – Thema: die Rolle der Frauen in der Politik. Manche befürchten, dass Frauen im neuen Tunesien weniger Rechte genießen könnten als bisher. Die Anwältin Farida Laabidi hält diese Ängste für übertrieben. Sie ist seit Langem Mitglied der islamistischen Ennahda. Und sehr froh, endlich aussprechen zu können, was sie bewegt.

    "Ich habe als Studentin sechs Monate im Gefängnis gesessen. Mehr als 20 Jahre lang habe ich für mein Recht gekämpft, ein Kopftuch zu tragen. Wir sind eine gemäßigte Partei, in unseren Reihen sind Frauen ohne Kopftuch. Natürlich fahre ich selbst Auto, ich arbeite, habe Kinder. 30 Jahre lang wurden wir unterdrückt und gedemütigt – wie könnten wir denn die Rechte des Einzelnen nicht achten?"

    Das klingt beruhigend. Und doch glauben viele Tunesier solchen Worten nicht. Sie befürchten, dass die Partei ihr wahres Gesicht erst nach den Wahlen zeigen wird. Wie auch immer die Wahlen ausgehen werden, sicher ist: Die Islamisten werden mit in der "Constituante" sitzen, der verfassungsgebenden Versammlung. Studenten der Universität Tunis haben diese Versammlung schon mal simuliert. Und ihrem Land ein neues Grundgesetz verpasst, nach Monaten voll leidenschaftlicher Reden und schmerzhafter Suche nach Kompromissen, erzählt Ayman, 23 Jahre alt:

    "Eine Verfassung mitzuschreiben, nach einer Revolution, die jeden fasziniert hat – das ist eine Wahnsinns-Erfahrung. Ich bin so ergriffen davon ... Wenn ich einen Artikel in unserer Verfassung lese, dann habe ich das Gefühl, dass ich es selbst bin, der dieses Land aufbaut!"

    Nie hätte sich Ayman früher träumen lassen, dass sein Studienfach Verfassungsrecht einmal so spannend werden würde. Eine Disziplin, die im alten Tunesien ein Schattendasein gefristet hat. Juraprofessorin Rachida Ennaifer:

    "Es war als Verfassungsrechtlerin frustrierend zu erleben, dass unsere Profession unnütz ist. Denn schließlich lebten wir in einem Land, in dem das Verfassungsrecht mit Füßen getreten wurde. Unsere Studenten haben dann schon mal gesagt: ,Was reden Sie von Wahlen, Madame, Wahlen werden gefälscht!' Oder: ,Sie reden immer von den Kompetenzen des Präsidenten, dabei ist seine Macht doch unbegrenzt!' Daran wurden wir immer wieder erinnert. Das war frustrierend."

    Deswegen war sie für die Idee der Studenten sofort Feuer und Flamme: die Idee, selbst mal "verfassungsgebende Versammlung" zu spielen. Im vergangenen Februar wählten die Studenten der Fakultät ihre Abgeordneten. Die Kandidaten machten an der Uni Wahlkampf, warben um ihre Programme. Am 11. März dann die erste Sitzung, und dann ging's an die Arbeit. Jeder Artikel der alten Verfassung war auf dem Prüfstand.

    "Ich wollte, dass man den Artikel belässt, der besagt, dass der Präsident ein Moslem sein muss. Wir haben vier, fünf Stunden über diesen Artikel diskutiert – jeder wollte was anderes. Schließlich habe ich meine Haltung geändert. Ich habe mir gesagt: Man kann keine neue Verfassung auf der Basis von Diskriminierung schreiben. Wir sind alle Tunesier, aber nicht alle Moslems – wir wollen auch die anderen integrieren."

    Trotzdem bleibt der Islam in der Studentenverfassung die Staatsreligion – auch wenn Tunesien eine zivile Republik bleibt. "Tunesien ist ein Rechtsstaat", heißt es in der Verfassung, die Todesstrafe wird abgeschafft. Eine Verfassung mit Modellcharakter, meint Fatwa, 20 Jahre alt:

    "Manche sagen: ,Ach Unsinn, Ihr repräsentiert doch nicht die Gesellschaft! Ihr seid Studenten, das alles ist doch nur ein Sandkastenspiel!' Das stimmt nicht! Wir sind ein Spiegel der Gesellschaft! Unsere Studenten kommen aus allen sozialen Schichten, aus allen Regionen, allen politischen Richtungen – von Islamisten bis zu Kommunisten. Das haben wir während der Debatten deutlich gespürt!"

    Es steht viel auf dem Spiel am 23. Oktober, wenn die Verfassungsgebende Versammlung gewählt wird. In einer Umfrage gab zuletzt fast jeder dritte Befragte an, noch nicht zu wissen, wem er seine Stimme geben will. Die Tunesier haben es freilich auch nicht leicht, den Überblick zu behalten. In dem Land gibt es mittlerweile mehr als 100 politische Parteien. Mehr als 11.000 Kandidaten auf 1.300 Listen stehen zur Wahl. Am Ende sollen 217 Menschen übrig bleiben, sie sollen bestimmen, wie im Mutterland des Arabischen Frühlings künftig das politische System aussieht. Sie werden entscheiden, welche Rolle der Islam, welche Rolle westliche Werte spielen. Und dafür verantwortlich sein, ob Tunesien wirklich zur echten Demokratie wird. Und damit den arabischen Nachbarn ein Beispiel sein kann.

    Khaled schlürft noch einmal aus dem leeren Glas mit der Citronade – und schaut auf die Avenue Bourguiba, den Hort der Revolution. Er ist sich sicher: Wie immer das Demokratie-Experiment auch ausgehen mag – einen neuen Ben Ali wird es in Tunesien nicht mehr geben.

    "Nein. Es ist Schluss mit solchen Diktatoren. Wenn irgendjemand nur ansatzweise das tun würde, was die gemacht haben, da würden die Tunesier davorstehen und demonstrieren und für ihre Rechte kämpfen. Davon bin ich überzeugt . "

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