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Weihnachten kommt immer so plötzlich

Morphologisch besteht Schnee hauptsächlich aus Luft. Das hat er mit vielen politischen Phänomenen gemein. Doch während es dort um heiße Luft geht, handelt es sich hier um kalte. Jedenfalls ist Schnee nichts Solides, aber auch nichts Virtuelles; er ist schwer zu greifen, aber auch kein bloßes Hirngespinst.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 15.12.2010
    Seine Erscheinung ist eine andere als seine Gestalt: Zwischen den fallenden Flocken und der liegenden Decke besteht ein nicht nur formaler, sondern auch ein wesensmäßiger Unterschied. Das eine ist ein schönes Schauspiel, das andere ein Notstand.

    Diesen fließenden, beziehungsweise rieselnden Übergang vom hübschen Himmelszauber zur kompletten Katastrophe kennen wir auch aus der Politik. Schnee ist nämlich mehr als ein politisches Phänomen: Er ist ein politisches Prinzip. Im Einzelnen funktioniert es so: Erst wird so laut und lange vor den Gefahren steigender Temperaturen gewarnt, bis kein Mensch mehr Schnee für möglich hält. Dann wird man kalt erwischt: Es gibt kein Streusalz mehr und kein Geld für die Beheizung öffentlicher Räume. Was einst Winter hieß, wird jetzt Kälteeinbruch genannt - eine unerhörte, nicht erwartbare Begebenheit, die das Land lähmt und an den Rand des Zusammenbruchs bringt.

    Der Zusammenbruch beginnt nicht mit einem großen Knall, sondern mit einzelnen durch die Luft wirbelnden Kristallen: Erst Griechenland, dann Irland, dann Portugal und Belgien zugleich, und irgendwann ist in den Nachrichten von einer geschlossenen Schneedecke die Rede. Auf einmal ist die Landschaft wie verwandelt und als verwandelte in aller Munde. Erklärungen werden gestreut, um die Bahnen zwischen Grund und Folge, Ursache und Wirkung wieder passierbar zu machen; die rhetorischen Räumfahrzeuge der Politik fahren aus.

    Was folgt, ist ein großer gesellschaftlicher Diskurs, der hauptsächlich wie Matsch aussieht, im Untergrund vereist, mit wechselnden Anteilen von Neuschnee obendrauf. In der öffentlichen Wahrnehmung kommt es nur auf die oberste Schicht an. Der Schnee von gestern interessiert niemanden, er verschwindet aus dem Blick und nach einiger Zeit verschwindet er ganz. Wenn es taut, haben wir andere Sorgen, Hochwasser zum Beispiel; der Schnee ist einfach weg - ein prächtiges Modell politischer Kommunikation. Von der winterlichen Aufregung bleibt nichts als etwas Weißes im Gedächtnis und nur bei ganz wenigen so etwas wie ein Gespür für Schnee.