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"Weisenfels" von Wolfgang Sofsky
Im Museum der Masken

Wolfgang Sofskys Roman "Weisenfels" hätte auch "Gesichter" heißen können, denn er handelt zu großen Anteilen von der Macht, der Kraft, der Schönheit und dem Schrecken des Antlitzes. "Im Anfang war nicht das Wort", schreibt Sofsky, "sondern das Gesicht".

Von Barbara Sichtermann | 02.04.2015
    Die Rahmenhandlung dieses Romans ist altehrwürdig und vielversprechend: Jemand erhält eine ganz und gar unerwartete Einladung. Er solle einen Jugendfreund besuchen. Man hat sich zwar sehr lange nicht gesehen, weiß kaum noch voneinander, aber die Verbundenheit aus frühen Tagen, sie trägt, sie hält, die Einladung wird angenommen. Der Jemand, der zugleich der Icherzähler ist, macht sich auf den Weg. Und wenn die Geschichte, die jetzt folgt, ein bisschen gruselig sein darf, ist das Ziel nicht irgendein Ort im Getriebe der Welt, sondern ein abgelegener, einsamer, mythischer Ort, zum Beispiel ein verfallendes Schloss, in dem Geister umgehen, regiert und zugleich gefürchtet von einem Schlossherrn, der schon viel zu lange auf diesem verwunschenen Palais ausgeharrt hat.
    "Als ich seinen Brief erhielt, war zu zögern kein Raum. Die Handschrift meines Freundes zeugte von zerfahrener Anspannung. Ich wusste nicht, woher er meine Anschrift hatte, sie war nirgends verzeichnet. Offenbar verlangte seine Lage dringliche Nachforschung; von ängstlicher Verwirrung war in dem Brief die Rede, von Kopfschmerzen ohne Aussicht auf Linderung, von Stimmen ringsum, von Augen, Gesichtern. Eine Neigung zur Niedergeschlagenheit hatte ihn immer schon geplagt, womöglich hatte sich sein Missmut verschlimmert."
    Im Angesicht des Antlitzes
    Wolfgang Sofskys Roman "Weisenfels" hätte auch "Gesichter" heißen können, denn er handelt zu großen Anteilen von der Macht, der Kraft, der Schönheit und dem Schrecken des Antlitzes. "Im Anfang war nicht das Wort", schreibt Sofsky, "sondern das Gesicht". In ihm könne man lesen, sich begegnen, sich verständigen, sich irren, sich erkennen. Aber in ihm könne man auch vieles verbergen - letztlich bleibe es ein Rätsel. Der Graf von Weisenfels führt seinen Freund durch sein Palais, das ein Museum von Skulpturen, Gipsköpfen, Masken, Porträts und Grimassenreliefs ist. Er spricht zu den Gesichtern, er lauscht ihrer Mimik, er lässt sich auf sie ein. Jetzt zeigt er sie dem Gast.
    "'Was soll ich mit den Gesichtern machen, wo sollen sie hin, wenn sie mich nicht mehr anblicken können?' - Ich benötigte einige Sekunden, bis ich ahnte, was er andeuten wollte. 'Du willst Weisenfels verlassen?', sagte ich nach gehöriger Denkpause. 'Sicher. Weisenfels gehört zu den Orten, wo man sich nur aufhält, wenn man muss.' 'Und wohin soll's gehen?' 'Das weiß niemand. Ins Niemandsland vielleicht.'"
    Einstweilen ergreift der Graf die Gelegenheit, seinen Freund in die Tiefendimension seines Kunstschatzes einzuführen, er doziert ausgiebig über Werke und Epochen, über Kunst und Tod, über Sinne und Verstand, über Schönheit und Verfall. Auch dem Geschmacksinn wird angelegentlich des Abendessens ein Traktat gewidmet. Man lernt Detloff von Weisenfels als den Verwalter und Genießer einer Kultur kennen, deren Verständnis an Muße, Gründlichkeit und den Mut zu immer weiter gehender Verfeinerung gebunden ist und deren Untergang bevorsteht. Aber einmal noch soll alles aufleuchten - vor den Augen des Erzählers und uns, dem Lesepublikum, das die Erlebnisse des Gastes auf Schloss Weisenfels als Buch in Händen hält.
    "Wenn die Gesichter vergehen, bleiben Schemen, Linien, ein paar Striche. Bevor Leere alles überdeckt, verwischen die Abdrücke, die Rillen zwischen den Fasern, das Knorpelgeflecht, die Risse im Gebein. Es entschwindet die blaue Gestalt, das Engelslächeln, der betörende Blick. Als plane Fläche erscheint das letzte Antlitz, ohne Falte, ohne Höhlung und Relief, nichts als Farbe, breite Streifen von Braun, Rot und Schwarz."
    Nach Innen gewandt
    Autor Sofsky macht es seinen Lesern nicht leicht, er kommt ihnen nicht entgegen, er umwirbt sie nicht. Er ergeht sich in Anspielungen und Verweisen, die Unkundige, welche von Homer, Savonarola, Cervantes oder Jacques Offenbach noch nicht viel gehört haben, vor Rätsel stellen müssen. Auch bevorzugt er die indirekte Rede, wenn er den Grafen schildern, berichten und erzählen lässt, und das Nichtwirkliche des Konjunktivs gibt dem Text, der stets gemessen und melodisch ins innere Ohr dringt, ein schwermütiges Legato mit.
    Wäre das Buch ein Gesicht, so blickte es den Leser nicht an. Es schaute in sich hinein und hielte die Lippen ohne den Anflug eines Lächelns fest geschlossen. Allerdings: Über das Phänomen des Lächelns gibt es im Buch ein paar schöne Stellen. Und schließlich: In einer Welt, in der die Eigenwerbung vom Hintergrundrauschen zu einem alles übertönenden Dauerlärm geworden ist, macht ein Buch, das sich verweigert, echte Freude.
    "Lächeln ist vieldeutig. Die Klugheit lächelt und die Dummheit, der Stolz und die Bescheidenheit. Freundlich, abweisend, spöttisch und mitleidig, verzeihend, verlegen und verächtlich ist das Lächeln, wissend oder unverständig, behaglich oder bitterlich, süß, skeptisch oder selig. Der Schüchterne lächelt scheu, der Ängstliche unterwürfig und der Grausame sardonisch. Lächeln ist an keinen Anlass gebunden, an keine Regung, keine Stimmung."
    Der Erzähler bleibt nur zwei Tage auf Weisenfels. Als die beiden sich trennen, scheint Niedergeschlagenheit das Gemüt des Grafen nicht mehr zu bedrücken. Er lächelt.
    Wolfgang Sofsky: "Weisenfels"
    Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2014. 235 Seiten, 22.90 Euro.