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Weißrussland auf der Suche nach seiner Identität

Weißrussland ist einer der Staaten Europas, über die man wenig und vor allem wenig Gutes weiß. Der weißrussische Philosoph Valentin Akudowitsch beschäftigt sich in einem Essay mit der Frage, warum seinen Landsleuten die Identitätsfindung besonders schwerfällt.

Von Ingo Petz | 15.07.2013
    Magdeburger Stadtrecht, Traditionen der Selbstverwaltung, Protestantismus, Calvinismus, Judentum, Renaissance und Barock. Wer denkt dabei schon an Weißrussland? Aber all das gehört neben einem russischen und sowjetischen Erbe eben auch zu dem, was den weißrussischen Kulturraum geprägt hat. "Der Reichtum Europas bemisst sich nach seinen Übergangslandschaften", hat der Osteuropahistoriker Karl Schlögel geschrieben.

    Weißrussland ist so eine typische, kulturell komplexe Übergangslandschaft, die sich nationalen Kategorien zu entziehen scheint. Der Philosoph Valentin Akudowitsch nimmt diese Tatsache zum Ausgangspunkt seines Essays, der die schwierige Identitätsfindung der Weißrussen zu ergründen sucht:

    Schließlich liegt das Problem ganz woanders: darin, dass wir bis heute durch die Schleier des Simulakrums einer homogenen Nation blicken und Weißrussland deshalb nicht als ein Neben- und Miteinander zahlreicher, höchst unterschiedlicher Welten wahrnehmen – Welten, die man nicht auf eine einzige Idee vereinen kann, ohne sie alle zu verstümmeln.

    Bevor Weißrussland 1795 vollständig vom Zarenreich annektiert wurde, war es Teil des Großfürstentums Litauen und der Rzeczpospolita, dem polnisch-litauischen Doppelstaat, der sich die erste demokratische Verfassung in Europa gab. Auf dem Gebiet der heutigen Republik Belarus lebten vom Spätmittelalter an Tataren, Deutsche, Polen, Russen, Ukrainer und Weißrussen mit katholischem, orthodoxem, protestantischem oder jüdischem Glauben.

    Der multiethnischen Vielfalt wurde noch 1919 bei der Gründung der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik Rechnung getragen, indem Weißrussisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch zu Staatssprachen erklärt wurden. Von all dem wissen heute nur noch wenige Weißrussen, auch weil die sowjetischen Führer ab den Dreißigern kein Interesse mehr an einer nationalen Geschichtsschreibung hatten. Dieses Interesse wurde erst wieder von den Nationaldemokraten ab Ende der Achtziger in der Zeit von Perestroika und Glasnost geweckt.

    Aber statt ein fundiertes Geschichtsbewusstsein zu fördern, machten sie sich auf, die Weißrussen mit Mythen und Legenden aus der Zeit vor dem Zarenreich und der Sowjetunion auszustatten. Ein Versuch der Nationenkonstruktion, der im Wettbewerb mit dem Neo-Sowjetisten Lukaschenko scheitern musste:

    Der spätere Präsident hatte Recht. Die Programme der Nationaldemokraten richteten sich eher an Außerirdische denn an die durchschnittlichen Weißrussen, die in ihrer Mehrheit keine radikalen Veränderungen wollten, außer vielleicht dieser einen: dass das Chaos und der Niedergang, die mit dem Zerfall der Sowjetunion alle Lebensbereiche erfasst hatten, wieder durch die gewohnte Stabilität und Verlässlichkeit ersetzt werden mögen.

    Der Leser erfährt so nicht nur, warum sich nach Ansicht des Autors ausgerechnet in Weißrussland eine Diktatur halten konnte. Akudowitsch nimmt ihn mit auf eine Reise durch eine komplexe Kulturlandschaft.

    Mit der Kraft der schönen Sprache und dem Blick für die lustvolle Polemik durchschreitet der Philosoph die Geschichte Weißrusslands und sammelt Gründe dafür, warum Weißrussen sich nur schwerlich als Kulturnation einen lassen. Der Titel des Buches "Der Abwesenheitscode" bezieht sich eben auf die "abwesenden" Identitätsmerkmale einer ethnokulturellen Nation, wie sie beispielsweise die Franzosen haben. Weder sind die Weißrussen in einer gemeinsamen Sprache geeint noch in einer gemeinsamen Religion.

    Dazu kommt: Weißrussland besaß vor 1991 nie eine Eigenstaatlichkeit, sondern war immer Teil von anderen Staatsgebilden. Die weißrussische Kultur konnte so nie zu einer dominanten Staatskultur werden. Auch weil das Weißrussische nicht die Kultur der Städter und Bürgerlichen war. Akudowitsch schreibt:

    Von der Ethnogenese her gesehen sind die Weißrussen tatsächlich eine Bauernnation. Unsere Elite ging zu verschiedenen Zeiten immer wieder in unterschiedlichen Herrschaftsgebilden auf. Keines dieser Gebilde war nach heutigem Verständnis ein weißrussisches. Nur auf dem Dorf, wohin ihre Macht nicht reichte, reifte unbemerkt das Potential für eine zukünftige weißrussische Nation heran.

    Ob sich dieses Potenzial langfristig durchsetzen wird, bezweifelt Akudowitsch. Auch weil das Land bis heute geteilt ist. Mit den Litwinen im Westen, die in der Geschichte vor allem unter dem lateinisch-katholischen Einfluss standen, und den Rusinen im Osten, die von dem orthodox-byzantinischen Raum geprägt wurden und die vor allem Russisch sprechen. Der Philosoph glaubt eher an eine weißrussische Nation, die in ihrem Bekenntnis zu einer zivilgesellschaftlichen und demokratischen Ordnung ihre gemeinsame Identität finden wird. Irgendwann.

    Als Akudowitschs Essay 2007 in erster Fassung in Weißrussland erschien, nahm er vielen weißrussischsprachigen Nationalen den Traum von einem kulturell geeinten Weißrussland. Der heute 63-Jährige hatte selbst lange von solch einem Land geträumt. Stattdessen ist er heute in der überarbeiteten Fassung zu dem Schluss gekommen, dass seine Landsleute den Fokus auf einen anderen Wert legen sollten.

    Fast zu allen Zeiten haben die Weißrussen soziale Werte den symbolischen vorgezogen – aus naheliegenden Gründen. Die permanente Okkupation, das Kaleidoskop der Religionen, die geopolitischen Umbrüche ... all das verhinderte, dass ein stabiler, verallgemeinerter Wertekanon für alle Menschen in diesem Land entstehen konnte ... Ihr einziger Wert ist das Leben selbst ... Aus meiner Sicht ist die Fähigkeit unserer Vorfahren, sich selbst an die furchtbarsten Bedingungen anzupassen etwas, was die Weißrussen unbedingt wertschätzen sollten.

    Akudowitschs Buch ist für den Leser, der sich mit der vertrackten Geschichte Osteuropas nicht auskennt, an manchen Stellen womöglich eine Überforderung. Dennoch ist der Essay insgesamt eine virtuose Einführung in einen sträflich vernachlässigten Kulturraum. Dem Suhrkamp-Verlag kann man nur gratulieren, den Mut zu haben, solch ein wichtiges Buch auf den deutschen Markt zu bringen und damit die Bedeutung Weißrusslands für die europäische Kultur zu betonen.


    Valentin Akudowitsch: "Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen." Edition Suhrkamp, 204 Seiten, 15 Euro. ISBN: 978-3-518-12665-3.