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Weißrussland und die Regimekritiker

Für viele gilt Alexander Lukaschenko als der letzte Diktator Europas. Bereits seit 16 Jahren regiert er Weißrussland mit harter Hand. Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch bedauert, dass das Vorgehen der Opposition nicht gut organisiert gewesen sei.

Von Barbara Lehmann | 24.01.2011
    Swetlana Alexijewitsch strahlt eine freundliche Gelassenheit aus. Sie ist erst vor ein paar Tagen aus Minsk als DAAD-Stipendiatin in ihre neue Berliner Wohnung gezogen. Sie fühlt sich noch ein wenig fremd in der für weißrussische Verhältnisse luxuriösen Umgeben. In der kleinen Küche gibt sie das Interview, das sie in ihrer Heimat noch verweigert hatte.

    "Die ukrainischen Oppositionellen, die am 19. Dezember nach den Wahlen gegen Lukaschenko demonstriert haben, sitzen nach wie vor im Gefängnis. In den ersten Tagen wollten wir überhaupt keine Kritik an ihnen üben. Doch jetzt ist klar: Wir müssen die Fehler analysieren. Das ist eine sehr ernste Niederlage."

    Wie alle ihre Freunde und Bekannten versuchte auch Swetlana Alexijewitsch am 19. Dezember nach der Schließung der Wahllokale zum Platz der Unabhängigkeit zu kommen. Es war eisig kalt, minus 15 Grad. Die Gruppe, mit der sie unterwegs war, wurde aufgehalten. Die gesundheitlich angeschlagene 62-Jährige fürchtete, krank zu werden und ging nach Hause. Alles weitere über die blutige Niederschlagung der Demonstration erfuhr sie später aus den Erzählungen der Beteiligten:

    "Die Menge war verunsichert. Die Opposition hatte die Menschen aus Protest gegen Wahlfälschungen auf die Straße gerufen, doch dann wusste sie nicht, was sie mit dieser Masse anstellen sollte. Die Menschen wandten sich an einen der Präsidentschaftskandidaten und schrien: 'Sannikow, was sollen wir tun?' Sie gingen über die zentrale Allee bis zum Haus der Regierung. Und dort wurden sie von Lukaschenkos Sicherheitskräften erwartet. Wenn man die Menge zu einer Protestkundgebung ruft, muss man auch auf Provokationen vorbereitet sein. Ich wohne im Zentrum. Tagsüber habe ich gesehen, wie sich die umliegenden Höfe mit Truppen, Milizen und Gerätschaften füllten. Lukaschenko hat also vorgesorgt. Im Vorfeld hatte er gewarnt: 'Mich werdet ihr nicht fertigmachen, wie Bakijew, den gestürzten kirgischen Präsidenten!' Die Opposition war naiv. Ich verstehe nicht, warum sie Lukaschenkos Drohung nicht ernst genommen hat."

    Swetlana Alexijewitsch gilt dem Regime Lukaschenkos ebenfalls als Oppositionelle. In ihrer Heimat sind ihre Bücher verboten. Der Präsidentschaftskandidat Andrej Sannikow bat sie, in sein Team zu kommen. Sie lehnte ab.

    "Zum einen hat mir nicht gefallen, dass es neun Kandidaten waren. Die Oppositionellen waren nicht in der Lage, sich auf eine Person zu einigen. Jeder hat seine Ambitionen. Sie haben Gelder kassiert, und sich um die Vermehrung ihres persönlichen Ruhms oder ihrer Partei gekümmert. Zum anderen haben sie sich zu wenig Zeit genommen. Es ist unmöglich, in einem halben Jahr das Volk für sich zu gewinnen. Dazu braucht man mindestens fünf Jahre.

    Außerdem hatte die Opposition ihr Programm einzig und allein auf der Kritik an Lukaschenko aufgebaut. Lukaschenkos Programm war besser. Es war klarer, ausgereifter. Zudem fehlte es den Kandidaten an Charisma. Keiner hat wirkliche Menschen gesehen. Ernsthafte. So ein kräftiger, gesunder Muschik wie Lukaschenko dagegen gefällt eben den weißrussischen Frauen und der Nomenklatura! Wir sind ein Volk von Bauern. Die Menschen bei uns haben andere Orientierungspunkte. Was für eine Zivilgesellschaft eine Katastrophe wäre, das ist für die Leute bei uns normal."

    Lukaschenkos Wahlkampfgegner, stellte sie fest, kannte niemand. Zu einem Wahlkampfauftritt von Andrej Sannikow fanden in einer Halbmillionenstadt mit gerade mal 200 Leute:

    "Sicher, überall findet man 200 intelligente Menschen. Aber das ist nicht das Volk. Nehmen Sie Polen: dort gab es die Solidarnosz. Oder die Ukraine: Auf dem Majdan herrschte eine stark antirussische, antikommunistische Stimmung. Das sind mächtige Strömungen. So ergreift man die Macht. Ich habe gesehen, dass Lukaschenko siegen wird. Er wird von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt, und zwar nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten. 80 Prozent der Wählerstimmen hat Lukaschenko nicht bekommen, aber 50 Prozent bis 60 Prozent hat er erhalten.

    Es gibt zwei Wahrheiten: Die eine Wahrheit ist die von uns Intellektuellen. Wir haben zukunftsgewandte Ideen und wünschen uns ein unabhängiges, zivilisiertes Weißrussland. Es gibt aber noch eine zweite, einfachere Wahrheit: die der Mehrheit. Für die Menschen auf dem Dorf bedeutet die Wurst die Freiheit. Lukaschenko versteht sie. Er ist ein politisches Tier. Er macht, was sie wollen."