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Weite Leere

Sieben Jahre hat Andrea Breth gewartet, um Tschechows "Kirschgarten" inszenieren zu können. Herausgekommen ist ein Stück ohne Atmosphäre für das theatrale Niemandsland.

Von Hartmut Krug | 01.05.2005
    In Tschechows letztem Stück aus dem Jahr 1903 passiert nicht viel. Die Menschen reden nur und philosophieren. Zugleich liebt hier jeder hoffnungslos immer den Falschen. Zwölf Menschen schwanken in einer Welt im Wandel zwischen Erinnerung ans Alte und der Ausschau nach Neuem, zwischen Resignation und Rückschau, Sehnsucht und Hoffnung.

    Hatte Tschechow in seinen "Drei Schwestern" den Abschied von der Jugend als einen Abschied von individuellen Hoffnungen gezeigt, so öffnet er im "Kirschgarten" den Fokus auf den Wechsel einer ganzen Epoche.

    Die Gutsbesitzerin Ranevskaja kehrt aus Paris zurück, weil die Liebe, in die sie sich nach dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes geflüchtet hat, gescheitert scheint. Aber auch ihr Gut mit dem berühmten Kirschgarten ist in Gefahr, es soll versteigert werden. Lopachin, aus eigener Kraft emporgekommener Sohn eines Bauern, agiler Mann einer neuen Zeit, wiewohl emotional noch in der alten verhaftet, macht Rettungsverschläge. Vergeblich, die Gutsbesitzerin handelt nicht:

    Alte und neue Zeit stoßen an der Jahrhundertwende aufeinander. Wir sehen ein Figurenpanorama, das wie aus einem Materialbaukasten zusammengesetzt wirkt. "Tschechow erschlägt den Realismus", hat Gorki zu recht bemerkt. Dennoch pinselt Regisseurin Andrea Breth das Stück mit kleinteiligem Realismus sorgfältig aus.

    In der modernen Rezeption des Stückes hat es vor allem zwei Wege gegeben: entweder wurde es sentimentalisiert, indem die Trauer über den Untergang einer alten Zeit betont wurde, oder es wurde ideologisiert, indem Lopachin als Vertreter einer neuen, fortschrittlichen Zeit herausgestrichen wurde. Während Peter Zadek 1968 die Kälte und Grausamkeit des Stückes und dessen böse Komik hervorhob, lebte Peter Steins Schaubühneninszenierung Anfang der 90er Jahre aus der Sinnlichkeit von individualisierten Figuren, die uns aus ferner Zeit ganz nah
    kamen.

    Andrea Breth entscheidet sich weder für die sentimentale noch für die ideologische Sicht, sie zeigt keine Lösung, sondern stellt ganz , wie es Tschechow wollte, nur Haltungen und einen Prozeß zwischen Menschen auf die Bühne. Doch leider wirkt die Bühne von Gisbert Jäkel, als stamme sie aus Anna Viebrocks Fabrikation. Ein heruntergekommener, riesiger Saal mit langen, verhüllten Fensterfronten ist selbst da Spielort, wo sich die Menschen unter die Sonne aufs Feld begeben. Andrea Breth bricht das realistische Spiel so bewußt wie ungeschickt mit diesem mächtigen, trotz seiner Symbolkraft abstrakten und unpraktischen Bühnenbild. Keine Kirschbäume, keine Außenwelt, keine russische, ja überhaupt keine Atmosphäre. Nur einzelne, im Raum verstreute umgekippte Sitzgelegenheiten und ein liegender Schrank. Eine riesige, funktionslose Röhre, die bei Umbauten oder Abrissen eine Transportfunktion haben könnte, reicht mit ihrer Schmutzfahne tief in den Raum, bleibt aber funktionslose Metapher.

    In diesem riesigen Saal, der mehr bedeutungsvolles Zitat als bewohnbar scheint, wirken die Menschen verloren, selbst wenn sie sich zu ihren Gesprächen auf zusammengestellten Sitzen wie auf kleinen Wärmeinseln zusammenfinden. Das penibel komponierte naturalistisch-realistische Schauspieler-Spiel verweht in der weiten Leere und die ausgepinselten Szenen laufen nebeneinander ab, ohne daß sie sich zu einem Spannungsaufbau addieren.

    Im zweiten Teil fährt die Regisseurin ihr müdes Spiel mit einem Zigeunerorchester und großer Komparsenschar zu einem äußerlich bunten Spektakel hoch. Sven Eric Bechtolfs bis dahin überzeugender Lopachin , laut Tschechow "ein dezenter Mann", tobt sich, nachdem er das Gut selbst ersteigert hat, mit Orchester und Mikrofon auf Sesseln und Tischen mit verzweiflungsvoller Begeisterung als Sieger aus.

    Sieben Jahre hat Andrea Breth gewartet, um den "Kirschgarten" inszenieren zu können. Doch nun erlebt man nur enttäuschendes, illustratives Vorführtheater. Die Inszenierung schleppt sich mühsam dahin und wird auch nicht von den Schauspielern gerettet. Schauspieler, die man so oft schon so gut erlebt hat, bieten diesmal nur darstellerische Klischees an.

    Die Frauen ringen vor Emotionalität die Hände, hüpfen flattrig oder treten bewußt energisch auf, während Andrea Clausen die Gutsbesitzerin mit schwingenden Armen als eine Diva aus Uropas Leidenschaftstheater vorführt und sich vor lauter Überdrehtheit sogar mal einen Purzelbaum gestattet. Der bedauernswerte Ignaz Kirchner muß den 87-jährigen Diener Firs mit zittriger Stimme und Knickebeinen markieren, während Udo Samel die eigentlich mehrdeutige und traurige Figur des Bruders der Gutsbesitzerin nur als aufgeplusterte Hohlform auf die Bühne bringt.

    Diese Inszenierung hält uns Tschechows Stück und dessen Figuren weit vom Leibe. Andrea Breth ist weder eine Inszenierung aus unserer und für unsere Zeit noch eine fürs Theatermuseum gelungen, sondern allenfalls eine fürs theatrale Niemandsland.