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Welche Bewusstseinszustände wollen wir fördern?

Mit seinem Buch "Der Ego-Tunnel" will der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger eine Debatte anstoßen über Chancen und Gefahren des "Neuroenhancement", also der Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit, die nicht nur in den Pharmalabors, sondern schon längst auf den Straßen im Gange ist: Stichwort Ritalin.

Von Oliver Seppelfricke | 20.04.2010
    Wer Thomas Metzingers Buch "Der Ego-Tunnel" verstehen will, braucht nicht nur ein gerüttelt Maß an Fachkenntnis im Bereich Bewusstseinsphilosophie, sondern auch die neuesten Ergebnisse aus den Neurowissenschaften. Sonst ist er verloren. Ist doch der Mainzer Philosophieprofessor, der bereits 1994 im Anschluss an eine Konferenz in Tucson, Arizona, eine Arbeitsgruppe mit dem Titel "Association for the Scientific Study of Consciousness", kurz ASSC, gründete, ein bekennender Fan der Neurowissenschaften. In seinem ersten Buch, das er für ein breites Publikum geschrieben hat, versucht er nun, die neuesten Ergebnisse der Bewusstseinsphilosophie und die der Neurowissenschaften zusammenzubringen. Kurz: Er arbeitet an den Grundfesten unserer abendländischen Überzeugungen, an der Überzeugung von einem festen "Ich", von einem unveränderlichen "Selbst", er "gräbt", wie Nietzsche und Foucault es gesagt haben, "unter unserem eigenen Boden".

    In diesem Buch werde ich Sie davon zu überzeugen versuchen, dass es so etwas wie "das" Selbst nicht gibt. Ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein Selbst. Es ist aber nicht nur so, dass die moderne Philosophie des Geistes und die kognitive Neurowissenschaft im Begriff stehen, den Mythos des Selbst zu zertrümmern. Vielmehr ist mittlerweile auch deutlich geworden, dass wir das philosophische Rätsel des Bewusstseins – die Frage, wie es jemals auf einer rein physikalischen Grundlage wie dem menschlichen Gehirn entstehen konnte – niemals lösen werden, wenn wir uns nicht direkt mit der folgenden, ganz einfachen Erkenntnis konfrontieren: Nach allem, was wir gegenwärtig wissen, gibt es kein Ding, keine einzelne unteilbare Entität, die wir selbst sind, weder im Gehirn noch in irgendeiner metaphysischen Sphäre jenseits dieser Welt. Wenn wir daher vom bewussten Erleben als einem subjektiven Phänomen sprechen, dann stellt sich die folgende Frage: Was ist eigentlich die Entität, die diese Erlebnisse hat?

    Oder, anders gesagt: Wer ist dieser Mensch, oder vielmehr dieses Gehirn? Denn das, und nur das, halten Metzinger und die Neurowissenschaftler für den entscheidenden Schlüssel in der Beantwortung dieser Fragen. Schließlich "laufen" im Gehirn all die Informationen "auf", die unser Bild der Welt und von uns selbst prägen und überhaupt erst bilden. Thomas Metzinger baut seine Argumentation behutsam und für den Leser nachvollziehbar auf. Zunächst einmal will er bestimmen, wer dieses personale Bewusstsein ist, das von sich "Ich" sagt?

    Weshalb gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat? Wer ist es, der Ihre Gefühle fühlt, wer genau ist es, der Ihre Träume träumt? Wer ist der Handelnde, der das Tun tut, und was ist die Entität, die ihre eigenen Gedanken denkt? Warum ist Ihre bewusste Wirklichkeit Ihre bewusste Wirklichkeit?

    Solche Fragen beschäftigen die Hirnforschung heute, da es bildgebende Verfahren gibt, ganz besonders. Doch erinnern wir uns kurz: Es waren und sind genau diese Fragen, die die Science-Fiction-Literatur und den Science-Fiction-Film seit den späten 50er-Jahren beschäftigen, seitdem der Mensch im Computer sich einen unheimlichen Partner geschaffen hat. Thomas Metzinger definiert daher zunächst einmal seinen Begriff von Bewusstsein:

    Bewusstsein ist das Erscheinen einer Welt. Dies gilt für Träume ebenso wie für den Wachzustand; im traumlosen Tiefschlaf dagegen erscheint nichts. Bewusstsein ist ein ganz besonderes Phänomen, weil es Teil der Welt ist und gleichzeitig die Welt enthält. All unsere wissenschaftlichen Daten deuten drauf hin, dass Bewusstsein Teil der physikalischen Welt und zugleich ein evolvierendes biologisches Phänomen ist. Bewusstes Erleben ist jedoch weit mehr als Physik plus Biologie – mehr als der Tanz eines fantastisch komplexen, rhythmischen Musters neuronaler Entladungen in unserem Gehirn. Das menschliche Bewusstsein unterscheidet sich von anderen biologisch evolvierten Phänomenen grundlegend dadurch, dass es eine Wirklichkeit dazu bringt, in sich selbst zu erscheinen. Es erzeugt Innerlichkeit: Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.

    Dieser Punkt, dass das Leben, im Gehirn und qua Gehirn, anders als bei Tieren, so Metzinger, seiner selbst bewusst wird, ist ein wesentliches Argument in Metzingers Theorie des Bewusstseins. Langsam führt er uns Leser darauf hin: mit dem sogenannten "Gummihand-Experiment". Vor einem Probanden, dessen linker Arm auf einem Tisch unter einem Tuch versteckt ruht, liegt auch ein Gummihandschuh. Beide, die Finger des abgedeckten Arms, und die des Handschuhs werden nun mit einem Stab berührt. Mit dem Ergebnis, dass nach kurzer Zeit der Proband den sichtbaren Gummihandschuh für einen Teil seines eigenen Arms hält. Im Geiste verschmelzen der taktile und der optische Eindruck zu einem Gesamteindruck. Der Gummihandschuh wird im Geist Teil des eigenen Körpers. Metzinger leitet daraus sein sogenanntes "Phänomenales Selbstmodell", kurz PSM ab. Phänomenal heißt hier wahrnehmend, erlebend und bezieht sich, so Metzinger, "auf alles, was wir allein auf der Ebene des bewussten Erlebens erfahren, eben auf die Art und Weise, wie uns die Welt subjektiv erscheint." Inhalt des PSM, des "Phänomenalen Selbstmodells", so Metzinger, ist das Ego. Das "Ich". Dieses Ego existiert und entsteht vor allem erst durch sogenannte "Repräsentationen", also durch Bilder, Vorstellungen, Sinneseindrücke, die dem Gehirn, wie beim Gummihandschuhexperiment, vermittelt werden. Und genau diesen Repräsentationsraum nennt Metzinger, wegen seiner offensichtlichen Beschränktheit, den "Ego-Tunnel". Denn wir können im Gehirn nur das wahrnehmen, was für uns wahrnehmbar ist, wir können nur die Eindrücke zusammenführen, die in unserem Geiste sind. Wir leben also in einer Art Tunnel oder Röhre. In unserer je eigenen Welt, die nur ein winziger Bruchteil der Welt ist, die uns umgibt. Und in genau diesen Tunnel greifen die Neurowissenschaftler heute ein. Mit der Schaffung oder Verhinderung sogenannter "neuronaler Netze", entweder direkt im Gehirn oder mit Medikamenten. Und mit all den Fragen nach Chancen und Gefahren, die sich alle Kulturen bei bewusstseinsverändernden Drogen seit jeher stellen:

    Wir benötigen dringend neue und überzeugende Antworten auf Fragen wie die folgenden: Welche Bewusstseinszustände wollen wir fördern und kultivieren, welche sollten wir aus ethischen Gründen aus unserer Gesellschaft verbannen? Welche Bewusstseinszustände dürfen wir anderen Tieren oder Maschinen aufzwingen? Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern zeigen, in welchen wollen wir sterben?

    "Wir werden", so schreibt Metzinger an einer anderen Stelle, "in der Lage sein, unsere bewussten Empfindungen von Farbe oder Geruch zu modulieren, sie zu intensivieren oder zu löschen, wir werden dazu in der Lage sein, indem wir das Gehirn in einer angemessenen Weise stimulieren, indem wir die relevanten Gruppen von Neuronen reizen oder hemmen. Das könnte dann auch für emotionale Zustände gelten, wie etwa Einfühlung, Dankbarkeit oder religiöse Ekstase." Bereits zehn Prozent der Gehirnforscher nehmen Stimmungsaufheller oder Anti-Depressiva, sogenannte Happy-Pills, zur Steigerung ihrer geistigen Leistungen. Aber was geschieht, so fragt Metzinger, wenn eine ganze Gesellschaft danach verlangt? Was passiert, wenn die Neurowissenschaften zuverlässige Lügendetektoren entwickelt haben werden? Sollten sie nur im Kampf gegen Terrorismus und Kriminalität eingesetzt werden? Oder auch bei Einstellungstests, um mögliche Loyalitätsgefährdungen bei den Kandidaten im Vorfeld aufzuspüren? Oder schon im Vorschulalter, um "gute" und "schlechte" Bürger voneinander zu trennen? Wie weit darf man in den menschlichen Geist, in sein Gehirn eingreifen? Wer stellt dafür Regeln auf? Und welche? Darf man "religiöse Exstasen" oder spirituelle Erfahrungen im Hirn hervorrufen und sind sie dasselbe, wenn sie ohne Eingriff geschähen? Hätten sie dieselbe Qualität? Und was passiert, wenn nicht nur "cognitive enhancement", also Gehirndoping, sondern auch "moral enhancement" möglich werden? Wenn man den Menschen qua Gehirneingriff oder durch chemische Substanzen zu "besseren", weil gemeinschaftsfähigeren, also stärker altruistischen Personen machen kann? Welche Hirnzustände sollten als "legal" erklärt werden? Welche als "illegal"? Welche Regionen des Ego-Tunnels sollten jedem Zugriff entzogen werden? Und wo liegen die Grenzen der Kontrolle über solche Eingriffe oder Medikamentengaben?

    Metzinger schließt sein Buch mit einem Mix aus Horrorszenarien und vorbeugenden Vorsichtsmaßnahmen. Wie etwa Meditation, Entspannungstechniken und Steigerung der Traumfähigkeit bereits in den Schulen, um so einen "kulturellen Kontext" zu schaffen, der zu einer Diskussion über die Gefahren und Chancen der neuen, neuronalen Eingriffe führt. Idealerweise! Denn wenn die neue, erst zu schaffende "Bewusstseinskultur", die neue "Bewusstseinsethik" nicht wie gewünscht, zu einem besseren Leben für fast alle auf diesem Planeten in Gang kommt, so Metzinger, dann drohen Prohibition, also Verbote, die noch nie wirklich gewirkt haben, ein – qua Internet - weltweiter Schwarzmarkt, und das Wissen um die neuronalen Spielmöglichkeiten in den Händen Krimineller. Kurz: ein menschlicher Albtraum. Metzingers Buch, das sich über 338 Seiten hinweg um einen sachlichen, aufklärerischen Ton bemüht und das zum Teil auch aus Interviews mit prominenten Hirnforschern wie Wolf Singer oder Allan Hobson besteht, möchte beitragen, dass wir – endlich – bei diesem Thema aufwachen! Denn die Neurowissenschaften finden längst nicht nur in den Labors statt, die ersten Ergebnisse bevölkern schon unsere Straßen, Schulen, Kinderzimmer und Arbeitsplätze!

    Thomas Metzinger: "Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik". Berlin Verlag, 378 Seiten, Euro 26.