Freitag, 19. April 2024

Archiv


Welle des Nationalismus

Der Mord am armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink hat die liberalen Kräfte in der Türkei in Aufruhr versetzt. Proteste und Schweigemärsche sind nicht nur Zeichen der Trauer, sondern auch der Angst vor radikalen Nationalisten. Über die Stimmung in der Türkei nach dem Mord berichtet Gunnar Köhne.

22.01.2007
    "Wir alle sind Armenier", skandierten mehrere tausend Menschen, die sich am Freitagabend spontan vor dem Redaktionsgebäude von "Agos" versammelt hatten - jener kleinen türkisch-armenischen Wochenzeitung, deren Chefredakteur Hrant Dink war. Die Wut und Empörung über den feigen Mord an dem prominenten Journalisten ist groß. Vor allem der liberale Teil der türkischen Gesellschaft fühlt sich durch das Verbrechen herausgefordert. Das ganze Wochenende über gab es Proteste und Schweigemärsche von Adana bis Edirne. Wie die meisten, will sich Aydin Engin, Kolumnist von "Agos", nicht mit der Festnahme des 17-jährigen Täters zufrieden geben. Es gebe zu viele Hinweise darauf, dass die Hintermänner staatliche Verbindungen besäßen. Engin berichtet von einem denkwürdigen Vorfall aus dem Jahr 2004:

    "Ende 2004 wurde Hrant Dink zum Büro des Gouverneurs von Istanbul gerufen. 'Agos' hatte kurz zuvor Dokumente veröffentlicht, die nahe legen, dass Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökcen ein armenisches Waisenkind gewesen war. Ich fragte ihn, warum er zum Gouverneur gerufen wurde. 'Sie wollen sich mit mir unterhalten', sagte er. Im Büro des stellvertretenden Gouverneurs saßen noch zwei andere Personen, eine Frau und ein Mann. Der Mann begann umgehend Hrant zu bedrohen: 'Wenn du so weitermachst, weiter solche Sachen schreibst, dann wird Dir etwas zustoßen'."

    Aydin Engin ist selbst kein Armenier. Die Mitarbeit bei "Agos" ist für den türkischen Journalisten ein Zeichen gegen den sich immer aggressiver gebärdenden Rassismus und Nationalismus im Land. Viele Zeitungen nannten den Mord an Dink einen Anschlag auf die Pressefreiheit und den Demokratisierungsprozess des Landes. Es herrscht Angst vor einem Rückfall in die Zeiten der Todesschwadronen.

    Die Welle des Nationalismus, die ausgerechnet im Jahr der Parlamentswahlen über das Land schwappt, macht liberalen Türken Angst. Die rechtsradikale Graue-Wölfe-Partei MHP liegt Umfragen zufolge bei 15 Prozent der Stimmen, in Kino und Fernsehen dreht es sich immer häufiger um Heldengeschichten aus dem Ersten Weltkrieg, auf jeder größeren Erhebung Istanbuls weht neuerdings eine riesige türkischer Halbmond. Aydin Engin, der nach dem Militärputsch 1980 als politischer Flüchtling nach Deutschland gehen musste, klagt an:

    "Für diesen Mord tragen viele Verantwortung. Angefangen beim Staat, der Dink nicht geschützt hat. Es stimmt, dass Dink trotz der vielen Morddrohungen keinen Personenschutz haben wollte. Er sagte, dass er sich dadurch unfrei fühlen würde. Aber es wäre trotzdem die Pflicht der Behörden gewesen, einem Bedrohten auf jede andere erdenkliche Weise Schutz zu gewähren - zur Not gegen dessen Willen! Und dann gibt es die vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die jetzt Krokodilstränen vergießen, aber Hrant Dink in seinem Kampf um Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Demokratie allein gelassen haben."

    Am Tatort, dort, wo Hrant Dink verblutete, versammeln sich auch drei Tage nach dem Attentat immer noch Menschen in Trauer. Am Revers tragen sie ein Foto des Ermordeten, auf dem Boden brennen Kerzen neben zahllosen roten Nelken. Nach einem Trauergottesdienst in der Kirche des armenischen Patriarchats von Istanbul wird der Vater von drei Kindern auf einem christlichen Friedhof unweit der historischen Stadtmauern begraben. Es werden Tausende erwartet, das Begräbnis soll noch einmal zu einer machtvollen Demonstration für eine demokratische Türkei werden. Viele Weggenossen Dinks, Türken wie Armenier, werden mit dem nervenzehrenden Verdacht leben müssen, vielleicht der nächste zu sein.

    Nobelpreisträger Orhan Pamuk, von Nationalisten wegen seiner Äußerungen zum Armeniermord angefeindet, wurde ab sofort unter Polizeischutz gestellt. Aydin Engin will sich nicht einschüchtern lassen und will weiter für "Agos" schreiben, der Zeitung seines ermordeten Freundes Hrant Dink:

    "Es gibt ein türkisches Sprichwort, das heißt: Wer sich vor den Vögeln fürchtet, kann kein Korn säen."

    Mehr zum Thema